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Die Frisur sitzt. Rasha, Mirela und Linda (v. l.) beim Unterricht.

© Luisa Hommerich

Praxislerngruppen gegen Schuldistanz: Mit den Händen lernen

Seit vier Jahren gibt es Praxislerngruppen für Schüler, die sonst wohl abbrechen würden. Das Programm gilt mittlerweile als Erfolg.

Der 15-jährigen Mirela gefällt die heutige Schulstunde besonders gut: Vorsichtig wickelt sie eine Haarsträhne ihrer Freundin Rasha um den Lockenstab und kringelt sie in Korkenzieherlocken. Im Klassenraum riecht es nach Haarspray, Frisierpuppen blicken von Schränken auf die Mädchen herab. Hier pauken die Schülerinnen keine Matheformeln, sondern arbeiten mit den Händen, an drei Tagen in der Woche. Nur an zwei Tagen lernen sie an ihren alten Schulen, in Kleingruppen von etwa 16 Schülern.

Das Konzept nennt sich „Praxislerngruppen“: Schuldistanzierte Jugendliche sollen durch handwerkliche Arbeit wieder zum Lernen motiviert werden – und möglichst einen Schulabschluss schaffen. Zu diesem Zweck fördert die Senatsbildungsverwaltung die Gruppen seit 2010, erst als „Praxisklassen“ für Hauptschüler, seit 2012 als „Praxislerngruppen“ an Sekundarschulen. Zurzeit nehmen 970 Neunt- und Zehntklässler aus 46 Schulen das Angebot in Anspruch. 18 Träger und drei Schulen bieten es an, 2,6 Millionen Euro fließen in diesem Schuljahr in das Programm. Funktioniert die Motivation durch praktische Arbeit?

Mirela und Rasha jedenfalls lieben ihr Handwerk. Normalerweise lernen sie in der „Friseur- und Körperpflege“-Werkstatt des Christlichen Jugenddorfwerks (CJD) theoretische Grundkenntnisse und üben an den Frisierpuppen, aber jeden Freitag dürfen sie sich gegenseitig stylen. „Das ist Belohnung für die Woche“, sagt Michaela Föst, die seit sieben Jahren als Friseurmeisterin beim CJD lehrt, „mitmachen darf, wer jeden Tag da war“. Auch hier ist Anwesenheit nicht immer selbstverständlich. Im Gegensatz zu den Schulen hat der CJD jedoch die Kapazitäten, schwänzenden Schülern hinterherzutelefonieren. In Einzelfällen werden Schüler auch an der Haustür abgeholt. „Nach ein paar Wochen kommen dann fast alle regelmäßig“, sagt Heiko Mursch, Projektleiter der CJD-Praxislerngruppen.

Die Schüler bekommen neue Perspektiven und neues Selbstbewusstsein

Mit 206 Schülern ist der CJD der größte Träger. Die Jugendlichen kommen aus zwölf Schulen morgens hierher nach Moabit, teilweise aus Grünau und Lankwitz. In acht Werkstätten schreinern sie Tische, nähen Bademäntel oder schrauben an Fahrrädern. Im Keller schälen Jugendliche gerade Möhren und Kartoffeln – die Gastro-Gruppe lernt, wie man Kartoffelsuppe kocht. „Die Schüler dürfen sich bis zu drei Arbeitsbereiche aussuchen, in die sie hineinschnuppern, dann können sie sich spezialisieren“, erklärt Mursch. Ein Ausbilder leite 12 Schüler an, nebenher gebe es Praktika und Bewerbungs-Workshops.

Praktische Arbeit, engere Betreuung – das sind Rahmenbedingungen, die Problemschülern helfen können. Wie dem 16-jährigen Ibrahim: An seiner ehemaligen Schule hatte er 73 Fehltage in einem Halbjahr, verhielt sich aggressiv. Doch hierher komme er jeden Tag, sagt er. „In der Schule sitzt man nur rum und schreibt, aber hier lernt man Dinge, die man später auch anwenden kann.“ Auch der 17-jährige Kevin findet: „Mit den Händen zu arbeiten ist viel besser als Schule.“ Mit seiner Lese-Rechtschreibschwäche konnte er dem Unterricht schlecht folgen. „Aber jetzt kann ich sogar schon die Fachbegriffe der Tischler-Ausbildung.“

Dies ist die Stärke des Konzepts: Schüler bekommen eine Perspektive und neues Selbstbewusstsein. Und durch die praktische Arbeit haben sie ihren Altersgenossen tatsächlich Wissen voraus. So können sie Zertifikate über ihre handwerklichen Qualifikationen erwerben, die bei Arbeitgebern gut ankommen. Durch die Verknüpfung von Theorie und Praxis verstehen viele außerdem den Schulstoff besser, 58,7 Prozent schaffen so trotz reduzierter Schulstundenzahl den Abschluss – 7,1 Prozent sogar den Mittleren Schulabschluss.

Weil sich das herumgesprochen hat, hat sich das Image der Praxislerngruppen in den letzten Jahren gebessert. Vielen Eltern gelten sie nicht mehr als Abstellgleis für Problemschüler, sondern als individuelle Förderung. Für Schul-Totalverweiger, sagt Mursch, seien die Praxislerngruppen trotzdem nicht das Richtige. Die Klassenkonferenzen schicken deswegen nur Schüler, die ein Grundinteresse an handwerklicher Arbeit haben. Und für die kann die Gruppe viel verändern: Mirela und Rasha haben jetzt bessere Noten, betreiben mit anderen den Beauty-Blog „$teps_to_$tyle“ und werden den Abschluss schaffen. Ibrahim geht zwar immer noch nicht gern zur Schule – aber er hat jetzt eine Perspektive. Er will KFZ-Mechatroniker werden „oder vielleicht irgendwann mal Arzt“.

DUALES LERNEN

Die Praxislerngruppen sind Teil des Programms „Duales Lernen“, das Sekundarschüler der Klassenstufen 7 bis 10 auf die Berufswelt vorbereiten soll. Grundsätzlich müssen alle Schüler pro Jahrgang an einem Angebot zum praxisbezogenen Lernen teilnehmen. Dazu gehören Praktika, Werkstattarbeiten oder Bewerbungstrainings. Für leistungsschwache Schüler ist die Arbeit in Praxislerngruppen oder Schülerfirmen vorgesehen.

NEUE REGELN FÜR SCHWÄNZER

Im Januar beschloss das Abgeordnetenhaus ein schärferes Vorgehen: Seit diesem Schuljahr wird bereits eine Schulversäumnisanzeige erstattet, wenn ein Schüler zum fünften Mal unentschuldigt fehlt, auch wenn die Fehltage nicht zusammenhängen. Zuvor wurde erst nach dem zehnten unentschuldigten Fehltag in Folge Anzeige erstattet. Die Bildungsverwaltung will dem Abgeordnetenhaus im Dezember außerdem einen neuen Leitfaden unter dem Titel „Aktiv gegen Schulschwänzer“ vorlegen. Darin sollen Präventions- und Gegenmaßnahmen vorgestellt werden.

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