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Jahrgangsmischung: Gemeinsam oder doch getrennt

Wie in der Weddinger Carl-Kraemer-Grundschule die ersten bis dritten Jahrgänge zusammen lernen und warum die Neuköllner Sonnen-Grundschule das jahrgangsübergreifende Lernen ablehnt.

In Klasse E ist ruhiges Gemurmel zu hören. Manche der fünf- bis neunjährigen Schüler arbeiten gerade in Teams, manche allein. Sie sind in einer der sieben jahrgangsübergreifenden Klassen der Weddinger Carl-Kraemer-Grundschule und wissen genau, was zu tun ist – obwohl alle an anderen Aufgaben sitzen und ihrem eigenem Tempo, ihren eigenen Fähigkeiten folgen. Jeremy und Mustafa etwa beschäftigen sich mit den Regeln beim Fußball. „Verstöße schreibt man mit ö“, erklärt der Große dem Kleinen und malt zwei Striche über das o. Vier Mädchen sortieren Buchstaben, sie haben dazu dieselben Arbeitsgeräte vor sich liegen, aber Aufgaben mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad – je nachdem, wie weit sie schon gekommen sind. Wenn eine von ihnen nicht weiterweiß, fragt sie eine der anderen. Und erst, wenn auch da nichts mehr zu holen ist, kommt Klassenlehrerin Regina Krüger ins Spiel. Die unterrichtet im vierten Jahr jahrgangsübergreifendes Lernen, also JüL. Sie ist ständige Ansprechpartnerin für die 24 Kinder und behält den Überblick über die Klasse. Im Vergleich zu herkömmlichem Unterricht jedoch steht Krüger weit weniger im Mittelpunkt: „Wir sind bei JüL weniger Lehrer als Lernbegleiter“, sagt sie. Das ist auch Sinn von JüL: Differenziert und individuell sollen die Kinder in gemischten Altersgruppen lernen. Die Carl-Kraemer-Grundschule mischt bislang die Klassen eins, zwei und drei, so dass ein Kern der Kinder recht lange zusammen lernt. Bald sollen, sagt Schulleiterin Christine Frank, auch noch die Klassen vier, fünf und sechs dazukommen. Zwar liegt die Schule mitten im sozialen Brennpunkt Soldiner Kiez, mehr als 80 Prozent der Kinder sind nicht-deutscher Herkunft, fast 90 Prozent der Eltern bekommen Hartz IV. Die Entwicklung der Kinder durch den Ganztagsunterricht und JüL sei jedoch „grandios“, sagt Frank. Natürlich sei man als Lehrer gezwungen, seinen Unterricht komplett zu überdenken. „JüL erfordert ein hohes Maß an Organisation, sehr gutes Material und eine durchdachte Struktur“, sagt Frank.Es sei nicht damit getan, unterschiedliche Arbeitsblätter nebeneinanderzulegen und die Kinder sich selbst zu überlassen. Einige Kollegen, die sich auf JüL nicht einlassen wollten, hätten die Schule deshalb bereits verlassen. Klassenlehrerin Regina Krüger gehört jedoch zu den „Überzeugungstätern“. In ihrem Unterricht gehen die Kinder gerade zu neuen Aufgaben über. Die Sitzordnung ändert sich, ohne dass große Unruhe aufkäme. Krüger erklärt den Erstklässlern zwar noch einige Symbole etwa für Gruppenarbeit oder Arbeit am Computer, die die Älteren schon kennen. Ansonsten jedoch muss sie kaum nachhelfen: Ob ihre Schüler Mathe oder Deutsch üben, ob sie allein oder in der Gruppe arbeiten und welchen Aufgaben sie sich heute stellen wollen, suchen sie sich selbst aus. Jeder notiert danach, wie weit er gekommen ist. Langeweile kommt nicht auf: Wer fertig ist, holt sich die nächste Aufgabe. Für Krüger bedeutet JüL zwar intensivere Arbeit in der Vorbereitung. „Am Tag selbst kann ich jedoch viel entspannter in den Unterricht gehen als früher“, sagt sie. Selbstständigkeit und soziale Kompetenz der Kinder sind groß. Dennoch müsse sie das Profil und den Lernstand der einzelnen Kinder immer im Kopf haben. Für einige Kinder, die noch Probleme haben, hat sie besondere Förderung organisiert. Ein Junge etwa, der sich schlecht konzentrieren kann, wird nun von einem Sonderpädagogen abgeholt, der eine Stunde lang nur für ihn da ist. Auch am oberen Rand verliert Krüger die Kinder nicht aus den Augen:Die Grundschule bietet auch Hochbegabtenförderung an und nimmt deshalb sogar Kinder aus anderen Bezirken auf. Immer wieder stehen „Expertengruppen“ an, in denen die Starken besonders gefördert werden. Im Unterricht, sagt Krüger, greife das wunderbar ineinander: Da motivieren die Kinder, die schon weiter sind, die anderen dazu, auch dahinkommen zu wollen. JüL, sagt Krüger, sei für jeden gut.

Lesen Sie auf Seite2, warum die Neuköllner Sonnen-Grundschule das jahrgangsübergreifende Lernen wieder abschaffen will.

Zum Munterwerden gibt’s die Klatschübung. Erst auf die Beine, dann in die Hände. Erst einmal, dann zweimal, dann wechselt der Rhythmus auf’s Neue. Ramadan, Mohammed, Leon und die anderen Erstklässler müssen sich ordentlich konzentrieren, um nicht aus dem Konzept zu kommen. Gleich werden sie noch im Stuhlkreis nach links oder nach rechts rutschen, so wie es ihnen ihr Lehrer vormacht. Immer schneller, damit ihnen keiner den freien Platz wegnimmt. Wer jetzt links und rechts nicht auseinanderhalten kann, muss immer wieder in die Mitte des Stuhlkreises gehen, weil ihm ein Mitschüler seinen Platz weggeschnappt hat.

Montagmorgen in der Sonnen-Grundschule. Der S-Bahnhof Köllnische Heide ist nicht weit, hier ist Neuköllner Notstandsgebiet. Rund 85 Prozent der Kinder kommen aus mehr oder weniger prekären Verhältnissen. Vielen von ihnen fehlen selbst in ihrer Muttersprache einfachste Begriffe. „Es gibt keine Gespräche innerhalb der Familie und keine Erklärungen für Regeln oder Verbote. Es gibt keine Bauklötze, keine Spiele, keine Bücher,“ sagt Rektorin Renate Lauzemis. So hat sie das auch aufgeschrieben. Denn Lauzemis sollte gegenüber ihren Vorgesetzten begründen, warum ihre Schule das jahrgangsübergreifende Lernen (JüL) ablehnt. Einstimmig hat die Schulkonferenz für den entsprechenden Antrag gestimmt. Im Mittelpunkt der Argumentation steht, dass die Kinder, die so viele Defizite mit sich herumschleppen, zu Anfang nicht selbstständig arbeiten und nicht selbstbestimmt lernen können. Das aber gilt als Voraussetzung dafür, dass Kinder in der Jahrgangsmischung zurechtkommen. Schließlich sollen sie imstande sein, sich individuelle Aufgaben selbst zu beschaffen und zu lösen. Anders geht es nicht bei JüL, wenn dort Kinder im Alter von fünf bis acht Jahren in einem Klassenverband zusammen lernen sollen, glaubt Lauzemis. Auch Klassenlehrer Stefan Witte will so nicht unterrichten. Er hält es für keine gute Idee, dass man die Schüler in kleinen Grüppchen auf Klassenräume und Flure verteilt, wo sie alle für sich ihre unterschiedlichen Aufgaben lösen und nur ab und zu das wachsame Auge oder offene Ohr ihres Lehrers bekommen. Auch bei Witte sitzen die Erstklässler in kleinen Grüppchen um jeweils zwei zusammengeschobene Tische herum. Aber alle machen erst mal das Gleiche – auch als der Stuhlkreis vorüber ist. Rechnen ist angesagt und die Fünf- und Sechsjährigen legen so viele weiße oder blaue Steinchen auf ihren Tisch, wie Witte vorgegeben hat. Er kann von der Mitte des Raumes aus alle Tische und Kinder überblicken. Er glaubt, dass diese Gleichmäßigkeit den Kindern besser bekommt, als wenn ständig jemand aufsteht, um sich individuelles Arbeitsmaterial zu holen. Aber Witte hat noch mehr Einwände gegen JüL. Zum Beispiel die „soziale Unruhe“: Da bei JüL die Erst- und Zweitklässler gemischt sind, müssen die Lerngruppen nach einem Jahr neu zusammengestellt werden. Die Zweitklässler verlassen die Gruppe und gehen in die dritten Klassen. Ihre Plätze werden von den neuen Erstklässlern eingenommen. „Aber Kinder brauchen Kontinuität und Zeit zum Kennenlernen“, hält Witte diesem Konzept entgegen.

„Die Kinder können nicht eigenverantwortlich arbeiten, weil ihnen die innere Entscheidungsfreiheit fehlt“, heißt es im Antrag der Schule auf den JüL-Verzicht. Dort steht auch, dass die Kinder nicht zuhören und sich nicht konzentrieren können, dass sie eine geringe Frustrationstoleranz haben, dass „immer mehr“ Schüler unter emotionaler Verwahrlosung leiden und unter Verhaltensauffälligkeiten, „die einen pathologischen Hintergrund haben“. Die Schule hält es deshalb für angeraten, den Lernanfängern in den ersten Schuljahren keine Lehrerwechsel zuzumuten. „Unsere Kinder brauchen konstante emotionale Bezugspersonen“, steht für Lauzemis fest. All das hat sie aufgeschrieben in ihrem Antrag und damit ihre Neuköllner Schulrätin überzeugt. Nun liegt die Entscheidung bei der Senatsverwaltung für Bildung. Bis zum 21. Oktober sollen alle 78 Antragsschulen ihre Antworten erhalten.

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