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Stolzes Team. Die Schüler Daniela Walter und Julian Gerull mit ihren Lehrern Klaus Trappmann und Hermann Werle (v.l.n.r.) in der Schule für Erwachsenenbildung im Mehringhof.

© Susanne Vieth-Entus

Im Rennen um den Deutschen Schulpreis: Die außergewöhnlichste Schule Berlins

Lernen ohne Noten und ein Bekenntnis zur Unfertigkeit. Die Jury zeigte sich "beeindruckt" bei ihrem Besuch in der Schule für Erwachsenenbildung.

Wer diese Schule betritt, kann erst mal alles vergessen, was er je über Schule gehört oder in der Schule erlebt hat. Ist das überhaupt eine Schule?

Ja, sagt einer der Lehrer. Aber eine Schülerschule. Aha.

Hier gibt es keinen Direktor. Hier bestimmt die Schulversammlung, was die Lehrer verdienen. Hier putzen Schüler und Lehrer und sonst niemand. Hier gibt es keine Noten. Hier können Hunde mit ins Klassenzimmer. Hier können Menschen lernen, die ein Schultrauma mit sich herumtragen, einfach Lust auf was Neues hatten, die zwischendurch im Drogensumpf saßen oder einfach selbstbestimmt lernen wollen.

Kreuzberg. Mehringhof. Hinterhaus. Ein unscheinbarer Eingang und dann Graffiti. Überall. Am Treppenaufgang, in den Fluren, in den Räumen. Und dann plötzlich mittendrin ein paar gediegen gekleidete Männer und Frauen mit Aktentaschen. Sie sind aus Rostock, München und Stuttgart gekommen und haben sich erklären lassen, was hier los ist, denn sie bilden die Jury für den Deutschen Schulpreis, um den sich die „sfe“ beworben hat.

Die Schule bekommt kein Geld vom Land

Das Kürzel „sfe“ bedeutet „Schule für Erwachsenenbildung“, womit schon klar ist, dass hier keine Kinder lernen, sondern mehr oder weniger junge Leute, die den Mittleren Schulabschluss (MSA) oder das Abitur ablegen wollen. Und da die sfe ganz anders ist als herkömmliche Schulen, darf sie die Abschlussprüfungen nicht selbst abnehmen: Die Schüler lassen sich als Externe an staatlich anerkannten Kollegs prüfen. So etwas nennt man im Verwaltungsdeutsch eine "Ergänzungsschule".

Das mit dem Anderssein hat noch einen anderen Haken: Die Schule bekommt kein Geld vom Land. Aber immerhin haben die Schüler Anspruch auf Bafög. Davon bezahlen sie dann ein kleines Schulgeld, oder die Eltern steuern was bei, weil sie verstanden haben, dass sich hier im Mehringhof für ihre Söhne oder Töchter eine wichtige Chance auftut.

Früher gab es auf dem Gelände Zwangsarbeit

Das mit der Schulpreisbewerbung war nicht von langer Hand geplant: Eine AG der Schule hatte eine beachtliche 120-Seiten-Broschüre über die Geschichte ihres Hauses und die dort befindliche Schriftgießerei Bertold verfasst, nachdem sie im Tagesspiegel etwas über die Zwangsarbeit an diesem Ort gelesen hatte. Einer der Lehrer, Hermann Werle, fand diese Arbeit preisverdächtig und suchte einen dazu passenden Wettbewerb. Was er zufällig stattdessen fand, waren Infos zum Schulpreis. So kam die Sache in Gang, erzählt Werle, Jahrgang 1962, der seit acht Jahren an der Schule unterrichtet.

Am Anfang stand ein Konflikt an einer anderen Schule

Wesentlich länger ist Klaus Trappmann, 67, dabei. Er kam vor rund 40 Jahren an die Schule, die damals frisch gegründet worden war – als Konsequenz aus einem massiven Konflikt mitsamt Streik an einer anderen Schule, der privaten Gabbe-Lehranstalt. Diese Erfahrung bildet die Basis für den selbstverwalteten und antiautoritären Ansatz, der bis heute gilt und die Schüler noch immer fasziniert. "Wir sind noch politisch, aber nicht mehr so ideologisch wie früher", erklärt Trappmann den Unterschied zu der bewegten Gründungsphase, als es in Berlin noch einen "Kommunistischen Oberschülerverband" gab.

Die Selbstverantwortung zählt

"Ich kann den Unterricht mitbestimmen, meine Interessen einweben", begründet Daniela Walter ihre Entscheidung für die Schule. Sie empfindet diese Mitverantwortung als gute Vorbereitung auf das geplante Studium.

Auch ihre Mitschüler können mit der hohen Selbstverantwortung offenbar umgehen: "Rund 70 Prozent schaffen das Abitur, beim MSA sind 80 bis 90 Prozent erfolgreich", berichtet Trappmann. Kürzlich habe es sogar einen "Spitzenabiturienten" gegeben. "Ich kann hier lernen, weil das Gefühl von Schule gar nicht erst aufkommt", sagt auch Julian Gerull, der mit 16 seine alte Schule verlassen hatte, und jetzt, mit 19, einen neuen Anlauf nimmt. Für ihn ist wichtig, "dass an dieser Schule Mobbing unmöglich ist".

Die tägliche Irritation als Prinzip

Leicht hat es die Schule aber nicht. Bei so viel Selbstverwaltung wird immer wieder alles infrage gestellt. "Die tägliche Irritation als Prinzip - kein bequemes Rezept", steht auf dem Flyer, mit dem die Schule für sich wirbt. Und werben muss sie, denn die Schülerzahlen sind rückläufig. Aus ehemals 700 bis 800 Schülern sind inzwischen rund 200 geworden. Die Zeiten, als die alternative Szene die Schule "von selbst füllte", sind längst vorbei. Der Schulpreis würde zumindest dazu führen, dass die Schule bekannter würde, die - abgesehen von wenigen Erwähnungen - bisher eher im Verborgenen existiert und von sich selber sagt, sie sei "etwas Unfertiges".

"Eine Schule, in der man seine Biografie wenden kann"

Und wie reagiert die Jury auf so viel Eigensinn ? „Das ist eine Schule, in der man seine Biografie wenden kann“, sagt anerkennend Thomas Häcker von der Uni Rostock. Und Karin Oechslein, Direktorin des Staatsinstituts für Schulqualität in Bayern, lässt keinen Zweifel daran, dass sie „sehr beeindruckt“ ist. Allerdings gibt es starke Mitbewerber unter den 17 bisher ausgewählten Kandidaten, etwa die Montessori-Gemeinschaftsschule in Lichterfelde. Hier sieht sich die Jury an diesem Dienstag um. Aus Potsdam sind die Sportschule und das Humboldt-Gymnasium dabei. Anfang April werden bis zu 15 Schulen nominiert und im Juni ist die feierliche Preisverleihung. 2015 war die Charlottenburger Friedensburg-Schule unter die letzten 15 gekommen, ging in der Schlussrunde aber leer aus.

Die Schule für Erwachsenenbildung ist in die Endrunde des Deutschen Schulpreises gekommen. 14 Schulen sind nominiert, aus Berlin ist als zweiter Kandidat die Anna-Essinger-Gemeinschaftsschule nominiert. Am 8. Juni ist die Preisverleihung, aus diesem Grund veröffentlichen wir den Text erneut. Der Artikel ist zuerst am 19. Januar erschienen.

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