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Das Hilfesystem gegen Gewalt und Mobbing soll überarbeitet werden.

© Julian Stratenschulte/dpa

Gewalt an Berliner Schulen: Direktoren müssen Vorfälle bald nicht mehr faxen

Krisen, Mobbing, Schläge: Die Zahl der Notfallmeldungen steigt, aber die Angaben sind nicht belastbar. Das soll sich jetzt ändern.

„Du dumme Kuh“, brüllt der Viertklässler und tritt die Lehrerin, die sich ihm in den Weg stellt, gegen das Schienbein. Ein Fall für die Gewaltmeldestatistik?

Fragen wie diese sind Alltag an Berlins Schulen – und zeigen zugleich, wie schwierig es ist, valide Zahlen zur Schulgewalt zu generieren. Denn auf die Frage, ob der beschriebene Vorfall ein Gewaltvorfall ist und – wenn ja – in welche Kategorie er fiele, und welche Art von Unterstützung geboten wäre, würde jede Schule wahrscheinlich anders beantworten. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hatte daher vor zwei Jahren eine Evaluation des bisherigen Meldeverfahrens in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse wurden am Montag vorgestellt (die Präsentation finden Sie hier als PDF).

Klar ist: So wie es ist, wird es nicht bleiben. Und das liegt nicht nur an der Willkürlichkeit bei der Einschätzung vermeintlicher Gewaltvorkommen. Vielmehr haben zahlreiche Interviews von Schulleitern ergeben, warum sie manche Fälle gar nicht erst auf dem offiziellen Weg melden: Entweder sie haben sich längst telefonisch direkt an die Schulpsychologie gewandt oder wollen ihre Probleme lieber selbst lösen. Es kommt aber auch vor, dass die Meldung ausbleibt, weil Schulen davon ausgehen, dass sie „ohnehin keine Unterstützung erhalten“. Manche finden auch, dass es in Krisensituationen Wichtigeres gibt, „als das Ausfüllen eines Formulars“.

Meldungen per Fax statt online

Die genannten Antworten erhellen zugleich etliche Schwachpunkte, die mit dem bisherigen Gewaltmeldeverfahren zusammenhängen. Da wäre zum Beispiel die Tatsache, dass es noch immer kein Onlineverfahren für die Meldungen gibt: Es muss noch immer gefaxt werden. Das soll anders werden.

An den Grundschulen nehmen die Meldungen besonders stark zu (Grafik anklicken zum Vergrößern).
An den Grundschulen nehmen die Meldungen besonders stark zu (Grafik anklicken zum Vergrößern).

© Tsp/Klöpfel

Da wäre zum anderen aber auch das mit Abstand größere Problem, dass Schulen vergeblich auf ein Feedback warten. Dies kann am fehlenden Personal liegen, aber auch an „vermischten Zuständigkeiten“, wie Scheeres zu bedenken gab. Es müsse daher geklärt werden, „wer wie unterstützt“.

Die Zuständigkeiten sollen klarer werden

Tatsächlich müssen Schulen zwischen mehreren Adressaten wählen: Schulaufsicht, Schulpsychologie und Jugendamt. Alle drei Ansprechpartner gelten allerdings als mehr oder weniger überlastet. Mitunter sind einfach nur die Faxgeräte defekt oder die Sekretariate nicht besetzt, es gibt aber auch schwerwiegende Probleme wie die personelle Unterausstattung der Jugendämter: Wie mehrfach berichtet, ist in manchen Bezirken zeitweise mehr als ein Drittel der Stellen dauerhaft nicht besetzt.

Hier haben Schulen den Eindruck, dass nur noch reagiert wird, „wenn Gefahr für Leib und Leben“ besteht. Um Schulen und die Jugendämter gleichermaßen vor falschen Erwartungen zu schützen, sollen die Zuständigkeiten künftig klarer gemacht werden. So wird jetzt erwogen, die Meldebögen so umzugestalten, dass Schulen gleich ankreuzen können, bei welchem Ansprechpartner sie ihr konkretes Anliegen am besten aufgehoben sehen würden. Scheeres erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass es zusätzliche Sozialarbeiter geben soll, die sich gezielt auf einen respektvolleren Umgang in den Schulen fokussieren sollen.

Ein veralteter Vordruck

Es gibt aber noch weitere Gründe für eine Überarbeitung des bisherigen Hilfesystems. Dazu gehört, dass der aktuelle Vordruck für Gewaltmeldungen noch nicht den Bereich des Cybermobbings abdeckt, weil er von 2011 stammt, als es noch nicht so viele Smartphones gab.

Evaluiert wurde aber nicht nur das bisherige Meldeverhalten der Schulen, sondern auch die Meldezahlen an sich: Sie suggerieren nämlich, dass die Schüler immer gewalttätiger werden. Scheeres hatte deshalb die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention „Camino“ beauftragt, die – stetig steigenden – Meldezahlen der Schulen mit dem tatsächlichen Gewaltvorkommen abzugleichen.

Camino-Leiter Albrecht Lüter betonte, dass es „keine Hinweise auf zunehmende physische Gewalt an Schulen gibt“. Vielmehr spreche die laut Unfallkasse sinkende Zahl sogenannter Raufunfälle gegen die „Brutalisierungsthese“. Dem entspreche auch die Feststellung des Kriminologischen Instituts Niedersachsen, dass seit zehn Jahren die Jugendgewalt rückläufig sei.

An Grundschulen steigt die Fallzahl rapide

Festgestellt wird aber ein „Formwandel“ schulischer Gewalt in Richtung nichtkörperlicher Übergriffe wie Mobbing. Um mehr zu erfahren, müsste man eine komplexe Schülerbefragung initiieren. Eine solche „Dunkelfeldstudie“ hat es in Berlin aber noch nicht gegeben.

Entgegen der laut Polizeistatistiken generell eher rückläufigen Gewalttendenz ist aber auffällig, dass die Zahl der gemeldeten Taten steigt – insbesondere an den Berliner Grundschulen. Auch um diesem Phänomen stärker auf den Grund gehen zu können, will Scheeres genauer wissen, was an den Schulen passiert. Eine Expertenkommission soll das Meldeverfahren jetzt auf Grundlage der beiden Evaluationen reformieren.

Diese Expertenkommission trat erstmals am 8. Mai zusammen. Mitglieder sind Vertreter der Bildungsverwaltung, der Schulaufsicht, der Schulpsychologie, der Polizei, der Landeskommission gegen Gewalt sowie der Innenverwaltung. Zudem sollen ein Grundschul- und ein Oberschulleiter dem Gremium angehören. Bis hier Ergebnisse vorliegen, wird es keine neuen Statistiken zur Berliner Schulgewalt geben: Die letzte veröffentlichte stammte aus dem ersten Schuljahr 2016/17. Danach stoppte Scheeres die Herausgabe der Zahlen mit Hinweis auf deren mangelnde Validität.

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