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Die 25-jährige Berlinerin Lizge Yikmis hatte die Idee, eine Nachhilfeplattform für bedürftige Schüler zu gründen

© Patrick Volknant

Eine Plattform für kostenlose Nachhilfe: Damit die Lücke nicht noch größer wird

„Haydee!“ ist ein Nachhilfeangebot ausschließlich für Bedürftige. Die Gründerinnen zogen ihre eigene Konsequenz aus Corona.

Wer träumte nicht von einem kostenlosen Nachhilfeangebot? Es dürften bundesweit wohl einige Millionen Schüler und Eltern sein. Unter dem Eindruck von Corona haben sich erste Initiativen zur Umsetzung dieses Traums gegründet, darunter eine Gruppe junger Frauen: Mit ihrer Onlineplattform „Haydee!“ helfen sie seit April Kindern, trotz der widrigen Umstände nicht auf der Strecke zu bleiben.

Die acht Gründerinnen betreiben das aufwendige Digitalprojekt auf ehrenamtlicher Basis und auch in den Ferien. Denn es gibt viele Schüler, die keinen Zugang zu den neuen "Corona-Angebote" wie die Ferienschule oder die "Lernbrücken" haben.

„Unser Name leitet sich unter anderem vom türkischen ‚hadi‘ ab und bedeutet sinngemäß ‚auf geht's‘ oder ‚los!‘“, erklärt Lizge Yikmis, die als erste die Idee hatte, eine kostenlose Lernplattform in Zeiten von Covid-19 zu errichten. Wie auch die restlichen Initiatorinnen von „Haydee!“ kommt sie aus einer Familie mit Migrationshintergrund. Ihre Eltern sind Kurden und stammen aus der Südost-Türkei.

„Als ich in den Kindergarten kam, konnte ich kein Wort Deutsch“, erinnert sich die 25-Jährige. Auf ihrem Weg durch die deutsche Schullandschaft hatte sie Glück. „Es gab immer Erzieher und Lehrer, die sich hinter mich gestellt haben“, erzählt Yikmis. Sie weiß, was Unterstützung für Kinder, wie sie es war, bedeutet. Den Bachelor hat sie bereits, der Master in Public Economics an der FU soll folgen.

Als die Schulschließungen in Deutschland um sich griffen, wollte Yikmis handeln. „Wenn diese Kinder jetzt einfach monatelang zuhause sind, teilweise ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, dann ist klar, was das heißt“, erklärt sie, „nämlich dass die Lücke zu Kindern aus Familien, die sich Nachhilfe leisten oder selbst aushelfen können, noch größer wird, als sie ohnehin schon ist.“

Persönlicher Kontakt zu jedem einzelnen Kind

Es ist genau dieser Aspekt – ausschließlich für Bedürftige da zu sein – , den das Programm von anderen Nachhilfe-Portalen im Netz, wie etwa der ebenfalls kostenlosen „Corona School“ unterscheidet. Yikmis und der Rest des Teams lassen keine Schüler mitmachen, deren Familien genug Möglichkeiten hätten, selbst für Nachhilfe zu sorgen. Die Gründerin erzählt, dass die Gruppe deswegen mit jedem einzelnen Kind persönlich in Kontakt tritt: „Das ist zwar sehr aufwendig, aber wir wollen sicherstellen, dass wir auch wirklich die richtigen erreichen.“

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Für den 16-jährigen Kien kam „Haydee!“ zur rechten Zeit. Er besucht die Willy-Brandt-Schule in Mitte. „Vor der Coronakrise hatte ich normale Nachhilfe, aber die gab es dann irgendwann nicht mehr“, erzählt er. Kiens Eltern stammen aus dem Vietnam und betreiben einen Imbiss.

Weil sie den ganzen Tag arbeiten und nicht so gut Deutsch sprechen, können sie keine große Hilfe bei den Hausaufgaben sein. „Mein älterer Bruder hat mir dann ‚Haydee!‘ empfohlen“, erzählt Kien. Noch vor den Sommerferien hat er sich angemeldet und einen Nachhilfelehrer für Mathematik und Physik bekommen.

Vorsichtsmaßnahmen gehören dazu

Bei aller Freude Kiens ist aber auch klar: Der Weg übers Internet birgt Risiken. Nachhilfelehrer könnten ihre Stellung missbrauchen, und auch in Sachen Datenschutz lassen sich Vorbehalte der Eltern nachvollziehen. „Wenn man mit Kindern zusammenarbeitet, dann ist das natürlich ein sensibles Thema“, ist sich Yikmis bewusst. „Deswegen müssen die Mentoren ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Zudem rufen wir die Kinder regelmäßig an und fragen, wie es so läuft.“

Beim Datenschutz setzt „Haydee!“ ebenso auf Kommunikation mit den Kindern. Bevor es losgehen kann, werden sie auf das Datenrisiko aufmerksam gemacht. Schülerinnen und Schüler unter 16 Jahren benötigen eine Freigabe durch die Eltern, und Mentoren müssen eine Datenschutzerklärung unterschreiben. Für alle Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, hat das Team zudem eine Beauftragte abgestellt.

Die Auswahl der Lernpärchen erfolgt individuell. Das so genannte „Matching“ wird durch die Projektleiterinnen persönlich betreut. Bei einem Kennenlerngespräch mit dem Kind und seinen Eltern erstellt das Team ein individuelles Profil, das bei der Suche nach dem besten „Match“ zum Einsatz kommt.

Auswahlverfahren für Lehrer

Wer als Mentor bei „Haydee!“ anfangen will, muss sich zuerst den Fragen des Teams stellen. „Wir haben einen Bewerbungsleitfaden mithilfe einer professionellen Pädagogin und Personalerin entwickelt“, sagt Yikmis. Es habe durchaus auch schon Fälle gegeben, bei denen vorab klar wurde, dass der Bewerber nicht besonders gut mit Kindern umgehen könne. „Wenn die Person es schon nicht schafft, mir im Eignungsgespräch zuzuhören, wie soll das dann erst mit den Kindern werden?“, fragt sie.

In seinen Ansprüchen orientiert sich „Haydee!“ an dem, was auch etablierte und kommerzielle Nachhilfe-Unternehmen von ihren Lehrern fordert. Weil es an den Mitteln hapert, können sie diesen allerdings nicht ganz entsprechen. Auch das Berliner Nachhilfeinstitut „Lernwerk“ beispielsweise führt Gespräche und fordert ein polizeiliches Führungszeugnis.

Eine abgeschlossene pädagogische Ausbildung wird nicht verlangt

Hinzu komme hier jedoch unter anderem eine Hospitation in Begleitung erfahrener Lehrkräfte sowie eine sich pädagogische Einarbeitung, berichtet ein Sprecherin. Eine abgeschlossene pädagogische Ausbildung werde aber auch beim „Lernwerk“ nicht benötigt.

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Kiens Mentor, Mayoran Ravichandran, hätte wohl auch den Ansprüchen einer kommerziellen Nachhilfeseite entsprochen. Der 23-Jährige wohnt in Nordrhein-Westfalen, hat Biologie studiert und ist jetzt selbstständig. Seine Familie hat ihre Wurzeln in Sri Lanka. „Ich dachte mir: ‚Okay, du hast dieselben Erfahrungen gemacht, also warum bewirbst du dich nicht einfach mal?‘“, erklärt Ravichandran. Von dem Projekt ist er begeistert: „Ich bin mir sicher, dass ‚Haydee!‘ zu etwas Großem heranwachsen wird, und es freut mich, ein Teil davon zu sein.“

Das nächste Ziel: 100 "Lernpaare"

Bis zum Ende des Jahres will „Haydee!“ die Zahl der aktiven Lernpaare von rund 50 auf 100 erhöhen. Um das leisten zu können, sucht das Team nach effizienteren Lösungen und weiterer Unterstützung. Bisher haben die Gründerinnen fast alles aus eigener Tasche finanziert. Doch es scheint bergauf zu gehen: Die Nachhilfe-Plattform wurde mit dem Einheitspreis der Bundeszentrale für politische Bildung ausgezeichnet, der zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit an besonders innovative Projekte verliehen wurde, die sich der Überwindung gesellschaftlicher Hürden widmen.

Bald Unterstützung über das Bildungs- und Teilhabepaket?

Weitere Gelder könnten künftig auch von der Bundesregierung kommen. Deren Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) umfasst unter anderem die Finanzierung von Nachhilfe für hilfsbedürftige Kinder. Wie Yikmis erklärt, habe man erst gar nicht daran gedacht, sich um staatliche Förderung zu bemühen – auch deshalb, weil mögliche bürokratische Hürden zunächst abschreckten.

„Ich habe unser Projekt gerade am Anfang oft mit einer Aspirin Complex verglichen“, sagt Yikmis, „wir wollen möglichst schnell diejenigen erreichen, die unsere Hilfe brauchen“.

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