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Vorschüler aus Familien nichtdeutscher Herkunft liegen laut Experten zwei Entwicklungsjahre hinter Gleichaltrigen ohne Zuwanderungsgeschichte.

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Bildungsexperte über soziale Ungleichheit: Benachteiligte Kinder brauchen jetzt mehr Lernzeit

Seit Jahren wird in Deutschland über Chancengerechtigkeit diskutiert. Öffnet sich die Schere in Zeiten von Corona weiter? Ein Gastbeitrag.

Mit der Pandemie hat sich die Debatte um soziale Ungleichheiten im Bildungswesen verschärft. Mehr digitale Geräte allein werden das Problem nicht lösen, sagt Bildungsexperte Olaf Köller. Er ist Psychologe, Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) an der Universität Kiel und leitete die von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) initiierte Expertenkommission zur Verbesserung der Schulqualität in Berlin.

Drama beginnt schon in der frühen Kindheit. Bis zu ihrem vierten Geburtstag hören Kinder aus akademischen Haushalten 45 Millionen Wörter. In Familien, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, nur 15 Millionen. Zu diesem Ergebnis kamen die amerikanischen Wissenschaftler Betty Hart und Todd R. Risley 2003 in ihrem Aufsatz „The Early Catastrophe. The 30 Million Word Gap by Age 3“. Dass diese Differenz massive Effekte auf die Sprachentwicklung hat, ist naheliegend und führte in den USA zu Sprachförderprogrammen in Kindergärten und vorschulischen Unterstützungsmaßnahmen von Familien mit Einschulungskindern.

Und in Deutschland? Seit Jahren wird über Chancengerechtigkeit im Bildungssystem diskutiert. Wir wissen mittlerweile aus Analysen des Nationalen Bildungspanels, dass Vorläuferfähigkeiten wie das Vorwärts- und Rückwärtszählen oder Warum-Fragen-Stellen der Vier- bis Sechsjährigen für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundschulunterricht sehr unterschiedlich ausgebildet sind. Vorschülerinnen und Vorschüler aus Familien nichtdeutscher Herkunft liegen im Mittel zwei Entwicklungsjahre hinter Gleichaltrigen aus Familien ohne Zuwanderungsgeschichte.

Frühkindliche Bildung ist ausschlaggebend

Die gute Nachricht ist: Forschungsbefunde zeigen, dass sich solche Ungleichheiten reduzieren lassen, wenn der Bildungsauftrag der Kita deutlich ernster genommen wird. Dazu müssen wissenschaftliche Programme, welche die Schwächen erkennen und sie anschließend beseitigen, zum Einsatz kommen – besonders in Einrichtungen, wo viele benachteiligte Kinder sind.

Die in Berlin eingesetzte Kommission zur Schulqualität machte im Oktober 2020 hierzu zahlreiche Vorschläge, die auch bundesweit gelten. Umso erfreulicher, dass Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres mit der Umsetzung vieler Empfehlungen im Kita-Bereich bereits in den kommenden Monaten beginnen will, wie sie am vergangenen Donnerstag verkündete.

So unbestritten die Bedeutung gelingender früher Bildung für die Reduzierung von sozialen Ungleichheiten im Bildungssystem auch ist: Das Problem ist mit dem Eintritt in die Grundschule bei Weitem nicht gelöst. Grundschullehrkräfte dahingehend zu professionalisieren, dass sie Förderbedarf bei leistungsschwachen Kindern erkennen und gegensteuern, bleibt ein bildungspolitischer Mangel.

Lösungen sind bekannt, es hapert an der Umsetzung

Jeder zusätzliche Euro, der in Schulen mit großer Anzahl benachteiligter Kinder investiert wird, muss sich daran messen lassen, ob die damit umgesetzten Programme die schulischen Kompetenzen, vor allem in den Kernfächern Deutsch und Mathematik, tatsächlich fördern. Wer im Wesentlichen Schulleitungen coacht und sich auf Prozesse der Schulentwicklung fokussiert, muss sich die Frage beantworten, ob seine Maßnahmen im Unterricht der Kernfächer ankommen – und dort Lernprozesse unterstützen können.

Inzwischen gibt es viele Hinweise, welche Förderprogramme in den ersten sechs Schuljahren Erfolge bei benachteiligten Kindern zeigen. Das sind definitiv nicht die Coaching-Programme für Schulleitungen. Im Gegenteil: Es geht um die Förderung elementarer Kompetenzen wie flüssiges Lesen und sicheres Rechnen. Allein ihre Umsetzung steht in vielen Bundesländern aus, nicht zuletzt deshalb, weil es nicht en vogue ist, sich einfach mal auf basale Fähigkeiten zu fokussieren.

Die Lernzeit hat sich im Lockdown halbiert

Mit dem coronabedingten Lockdown im März wurden in Deutschland auch Schulen und Kitas geschlossen. Im günstigsten Fall wurden Kinder und Jugendliche über Wochen mit digitalem und analogen Arbeits- und Lernmaterial versorgt. Im ungünstigsten Fall vertrieben sie sich die Zeit mit Fernsehen, Computerspielen und sozialen Medien.

Der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller
Der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller

© Privat

Öffnet sich die Schere in Corona-Zeiten also immer weiter? Erste empirische Studien zum Lernverhalten, beispielsweise durch das Münchener ifo Wirtschaftsforschungsinstitut, zeigten, dass sich im Vergleich zum Regelbetrieb die Lern- und Arbeitszeiten der Schülerinnen und Schüler halbiert hatten. Zusätzliche bildungsökonomische Analysen des ifo wiesen auf die immensen langfristigen volkswirtschaftlichen Kosten des Bildungsausfalls im Lockdown hin. Der Münchener Bildungsökonom Ludger Wößmann schätzte, dass die Bildungsverluste zu einem um durchschnittlich 1,5 Prozent niedrigeren Bruttoinlandsprodukt bis Ende des 21. Jahrhunderts führen könnten.

Darüber hinaus wurde in diversen Publikationen auf die besondere Problematik der Kinder und Jugendlichen aus bildungsbenachteiligten Familien hingewiesen. So forderte die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in ihrer fünften Ad-hoc-Stellungnahme zur Pandemie, besonderes Augenmerk auf diejenigen zu legen, die bereits vor der Coronakrise erheblichen Belastungen ausgesetzt gewesen waren. Wörtlich hieß es dort: „Ziel muss es sein, Bildungsungleichheiten so gering wie möglich zu halten.“

Alles bleibt beim Alten

So richtig diese Forderung war und ist, treffender aus heutiger Sicht wäre der Satz gewesen: Ziel muss es sein, die Bildungsungleichheiten nicht noch größer werden zu lassen. Denn ganz ohne Zweifel: Dem Bildungssystem in Deutschland gelingt es bislang nicht, herkunftsbedingte Ungleichheiten durchschlagend zu reduzieren. Stattdessen berichtet jede wissenschaftliche Veröffentlichung einer neuen nationalen oder internationalen Schulleistungsuntersuchung, dass die herkunftsbedingten Unterschiede in den schulischen Kompetenzen unverändert hoch seien und Kinder aus bildungsbenachteiligten Familien vergleichsweise seltener die Aufnahme am Gymnasium schaffen würden.

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Daran schließt sich dann die Forderung an, dass außerordentliche bildungspolitische Anstrengungen zur Lösung des Problems unternommen werden müssen. Dieser Tenor wird mit Sicherheit auch die Berichterstattung über die heute veröffentlichte internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie (Timss 2019) begleiten. Mancher wird sich wundern, seit 20 Jahren immer dasselbe zu lesen, ohne dass sich substanziell etwas ändert. Dabei ist bekannt, worin die Ursachen für diese Ungleichheiten liegen und wie man sie verringern kann.

Jetzt sind hochwertige Förderangebote gefragt

Mit der Pandemie und der Forderung nach digitalen Lerngelegenheiten ist die Diskussion um soziale Ungleichheiten im Bildungswesen noch einmal verschärft worden. Man sorgt sich, dass die digitale Ausstattung in sozial schwachen Familien unzureichend ist und die betroffenen Kinder weiter abgehängt werden. Einmal abgesehen davon, dass die empirische Evidenz für diese Annahme bislang bescheiden ist, werden sich die Probleme nicht allein dadurch lösen lassen, dass man für diese Gruppe digitale Endgeräte auf Staatskosten kauft. Das ist zwar ein richtiger Schritt – ihm folgen müssen aber Förderangebote für die benachteiligten Kinder.

Wenn sich der Lockdown negativ auf den Kompetenzerwerb der bildungsbenachteiligten Schülerinnen und Schüler auswirkt, so wird das Tablet diese Disparitäten nicht ad-hoc beseitigen. Gefragt sind Ideen, die zusätzliche Lernzeit für diese Kinder und Jugendlichen bereitstellen. Qualitativ hochwertige Angebote, sei es am Nachmittag, am Wochenende oder in den verlängerten Weihnachtsferien, würden größere Erfolge zeitigen als die bloße Existenz eines Tablets im Haushalt. Der Erfolg solcher Angebote wird darüber entscheiden, ob sich die Ungleichheiten im Bildungssystem wirksam verringern lassen.

Olaf Köller

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