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Die Redaktion: Mit der Kursleiterin Winnie Mahrin erstellen die Schülerinnen Milica Kepic, Mariella Pierza, Amira El Jabous und Safiya Belkheir (v.l.n.r) die Online-Schülerzeitung "Alberts Echo".

© Kitty Kleist-Heinrich

Begabtenförderung in Berlin: Warum das Programm des Senats auch auf Kritik stößt

Das Begabtenförderungsprogramm des Senats soll alle Kinder fördern – das trifft nicht nur auf Zustimmung.

Mariella Pierza hat schon immer gern geschrieben, nicht nur im Unterricht, sondern auch in der Freizeit. Deshalb hat sie sich als „Mitarbeiterin“ bei „Alberts Online Magazin“ beworben. Sie hat dafür mehre Textproben eingereicht. Auch vorher schon hatte sie für eine Jugendredaktion geschrieben – außerhalb der Schule.

Die Bewerbung bei „Alberts Online Magazin“ überzeugte, die Achtklässlerin gehört jetzt zur Redaktion der Online-Schülerzeitung des Albert-Schweitzer-Gymnasiums in Neukölln. „Mich interessiert vor allem alles, was Kunst und Kultur betrifft. Ich mache das super gerne und es macht mir auch sehr viel Spaß“, sagt Marielle. „Ich finde es toll, für Interviews mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen”.

Nebenbei ist sie auch in der Mathe-AG der Schule, mit der sie auch an der Mathe-Olympiade teilnimmt. Mariella ist also eine engagierte, begabte Schülerin, aber unter den Begriff „hochbegabt“ fällt sie vermutlich nicht. Das ist erwähnenswert, weil „Alberts Online Magazin“ ein sogenannter Bega-Kurs ist. „Bega“ steht für das Programm „Begabtes Berlin“ des Senats. Um an einem Bega-Kurs teilzunehmen, müssen sich die Schüler selbstständig bewerben. Dabei müssen sie möglichst kreativ deutlich machen, weshalb sie an dem Kurs teilnehmen wollen.

Voraussetzung für die Teilnahme ist, dass sie nicht versetzungsgefährdet sind. Einen IQ-Test absolvieren oder anderweitig eine Hochbegabung beweisen, müssen sie dafür nicht. Denn unter Begabung läuft beim Programm des Senats nicht nur die kognitive Hochbegabung, sondern dazu zählen in diesem Zusammenhang alle Talente von Kindern.

„Begabungsförderung war für mich ein Schwerpunktthema, weil ich davon überzeugt bin, dass in jedem Kind eine Begabung schlummert, die entdeckt werden muss“, erklärte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) kürzlich bei einem Termin zu dem Programm „Begabtes Berlin“. Dabei gehe es auch darum, die Persönlichkeitsentwicklung und das individuelle Potential der Kinder zu stärken. „Talente finden. Begabungen fördern“ ist deshalb das Motto des Programms.

Ziel ist es, alle Kinder zu fördern

Ziel des Senats ist es, alle Kinder in ihren Begabungen zu unterstützen und „die erforderlichen Rahmenbedingungen für das Entdecken und Fördern von Begabungen in allen Bildungseinrichtungen von der Kita über alle Schularten bis hin zur Universität zu sichern“. Die Bildungsverwaltung richtete schon 2018 die „Fachstelle Begabungsförderung“ ein, die das Programm „Begabtes Berlin“ umsetzen soll.

Tatsächlich ist das Angebot zur Begabungsförderung in Berlin groß. Schulen, Stiftungen, Vereine, Sommercamps und verschiedene Programme sollen es ermöglichen, die Begabungen und Talente von Kindern zu entdecken und zu unterstützen. Von großer Bedeutung für die Begabtenförderung ist aber auch die Frage, wie man den Begriff Begabung definiert.

Denn Begabungen sind nicht gleich Begabungen. Es gibt viele talentierte und begabte Kinder. Begabungen sind vielseitig und komplex und bei jedem Kind anders. Kinder können zum Beispiel kognitiv, musikalisch, sportlich oder künstlerisch begabt oder talentiert sein.

Manche Kinder sind aber auch besonders oder höher begabt als andere. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden sie „hochbegabt“ genannt. Sie brauchen oft zusätzliche und vor allem individuelle Unterstützung. Kann diese auch gewährleistet werden, wenn man gleichzeitig alle die Begabungen aller Kinder fördert?

Höher begabte Kinder brauchen oft zusätzliche Unterstützung

Mit einer höheren Begabung gehen auch oft Probleme einher – vor allem dann, wenn die Kinder in die Schule kommen. „Die Menschen kommen meist zu uns, weil es Probleme gibt oder etwas nicht passt“, sagt die Diplompsychologin Annegret Mahn. Zusammen mit einer Kollegin hat sie sich auf die Diagnostik und Beratung von kognitiv oder intellektuell hochbegabten Kindern spezialisiert.

Schwierigkeiten tauchten oft in Umbruchsphasen auf, wie zum Beispiel den ersten Grundschuljahren. Dann komme es oft zur „ersten Kollision mit dem System Schule“, erklärt Mahn. Gerade bei einer höheren kognitiven Begabung sind Kinder in der Schule oft unterfordert.

Daher könne es beispielsweise dazu kommen, dass kognitiv höher begabte Kinder die Wiederholung von Übungen verweigerten, sagt Mahn. Kinder mit einer höheren kognitiven Begabung müssten oft mehr gefordert werden als Gleichaltrige.

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Dabei reiche es aber nicht, ihnen einfach mehr Aufgaben zu geben. „Die Intellektuelle Hochbegabung fordert auch, dass man die Kinder auch intellektuell anspricht und beim Nachdenken fordert“, erklärt Mahn.

Dafür bräuchten die Kinder zum einen komplexere Aufgaben, zum anderen aber auch Unterstützung beim Erlernen von Strategien, wie sie diese Aufgaben lösen können und wie sie auch mit Misserfolgen umgehen. Damit einher geht ein höherer Bedarf an individueller Unterstützung.

Die Förderung von kognitiv höher begabten Kindern findet in Berlin unter anderem in sogenannten Schnelllerner-Klassen statt. Insgesamt gibt es sieben Gymnasien, die solche Schnelllerner-Klassen anbieten. Dort können Kinder mit einer nachgewiesenen höheren kognitiven Begabung bereits ab der fünften Klasse auf das Gymnasium wechseln.

Förderung durch Schnelllerner-Klassen

Eins dieser Gymnasien ist das Rosa-Luxemburg-Gymnasium in Pankow. Die Begabungsförderung am Rosa-Luxemburg-Gymnasium beruhe im Wesentlichen auf zwei Elementen, sagt der Schulleiter des Gymnasiums, Ralf Treptow.

Zum einen auf der „Acceleration“, also der Beschleunigung. „Die Kinder machen in den normalen Unterrichtsfächern den Unterrichtsstoff schneller als eigentlich vorgesehen“, erklärt der Schulleiter.

Das liege daran, dass kognitiv höher begabte Kinder weniger Übungszeit bräuchten, da sie den Stoff schneller verarbeiten können. Das schnellere Lernen als Grundprinzip der Begabtenförderung am Rosa-Luxemburg-Gymnasium ermöglicht es, dass die Zahl an verbindlichen Unterrichtsstunden um etwa fünf Stunden reduziert wird.

Die übrigen Stunden bilden die Grundlage für das zweite Element: das sogenannte „Enrichment“, also die Anreicherung. Dabei belegen die Kinder Kurse, in denen verschiedene Themen- beziehungsweise Begabungsfelder behandelt werden. „Die Kurse gehen beispielsweise vom mathematischen Knobeln bis zum naturwissenschaftlichen Experimentieren“, erklärt Treptow. Dabei sollen die Kinder verschiedene Begabungsfelder ausprobieren.

Um ab der fünften Klasse in eine Schnelllerner-Klasse zu kommen, müssen die Kinder verschiedene Bedingungen erfüllen. Neben der Förderempfehlung der Grundschule und den Halbjahresnoten der vierten Klasse muss auch ein Eignungstest durch den Schulpsychologischen Dienst erfolgen, in dem geprüft wird, ob die Kinder kognitiv hoch oder höher begabt sind.

Der Eignungstest spielt insofern eine wichtige Rolle, da somit auch Kinder aufgenommen werden können, bei denen in der Grundschule die höhere Begabung nicht aufgefallen ist oder die nicht entsprechend gefördert worden sind.

Zudem soll durch den Eignungstest sichergestellt werden, dass die Kinder auch wirklich in der Lage sind, das Schnelllerner-Programm bewältigen können. „Wir können den Kindern nur dann die fünf Stunden die Woche wegnehmen, wenn wir wissen, dass sie das auch vertragen“, erklärt Treptow.

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Anders läuft das in den sogenannten „Bega-Schulen“ wie dem Albert-Schweitzer-Gymnasium in Neukölln , die Teil des Begabungsprogramms des Senats. Bisher wurden insgesamt 62 Berliner Schulen als solche zertifiziert. Bega-Schulen sollen – ähnlich wie die „Enrichment“-Kurse – über den normalen Unterricht hinaus in Form von sogenannten „Bega-Kursen“ ein Angebot für alle Schüler:innen schaffen, das es ihnen ermöglicht, ihre Interessen und Begabungen zu vertiefen.

Die Bega-Kurse wie „Alberts Online Magazin“ sind auch nur ein Teil der Förderung am Albert-Schweitzer-Gymnasiums. Das Gymnasium ist eine Ganztagsschule und bietet den Kindern zusätzlich zum regulären Unterricht verschiedene AGs, Berufs- und Studienberatung sowie das sogenannte Lerncoaching an, in dem Schüler ihre selbstgesetzten Lernziele verfolgen können.

Auch gibt es an dem Gymnasium eine sogenannte Freiarbeitszeit, in der die Schüler:innen selbst entscheiden können, wie sie diese nutzen möchten. Durch das Konzept der Ganztagsschule habe man mehr Stunden zur Verfügung als die auf der Stundentafel vorgeschriebenen, erklärt der stellvertretende Schulleiter Thomas Pille.

Diese werden dazu genutzt, den Kinder die Freiarbeitszeit zu ermöglichen. Dadurch werde den Schüler:innen ein Freiraum gegeben, um sich zu orientieren. „Wenn die Schüler aus eigenem Interesse einer Sache folgen möchten, dann möchten wir als Schule die Struktur dafür geben, dass jeder seine Interessen verfolgen kann“, erklärt Thomas Pille. Die Selbstständigkeit der Kinder spielt in dem Konzept des Gymnasiums eine große Rolle.

Auch die Schulleiterin des Gymnasiums, Karin Kullick, betont, über allem stehe, die Kinder für die Zukunft zu stärken. „Das heißt auch, über die schulischen und außerschulischen Angebote Talente und Begabungen zu entdecken. Unsere Ambition ist es, die Schule so zu gestalten, dass die Schüler über den Tellerrand schauen und ihre Talente zu sehen, zu fördern und sie stark zu machen“.

Bega-Programm als "Paradigmenwechsel"

Dabei unterscheidet die Schule klar zwischen Begabung und Hochbegabung. Auch der Bega- und Qualitätsbeauftragte der Schule, Daniel Kauffmann, sieht in dem Bega-Programm einen „Paradigmenwechsel“, weil es nicht mehr ausschließlich und vorrangig um Hochbegabung gehe. Begabung wird in dem Programm vielmehr als Talent verstanden.

Es soll allen Kindern ermöglicht werden, so viel wie möglich auszuprobieren und sich ihren Interessen entsprechend weiterzubilden. Inwiefern dabei auch eine individuelle Förderung möglich ist, hängt laut dem stellvertretenden Schulleiter Thomas Pille auch von den Strukturen in und um den Schulen ab: „Bega macht wenig Sinn, wenn die Strukturen an einer Schule nicht aus dem gleichen Guss sind“.

Daher sei die große Aufgabe, Strukturen aufzubauen, „die für alle Gleichberechtigung schaffen und dennoch die Möglichkeit enthalten, individuell auslegbar zu sein“, erklärt Thomas Pille.

Der Schulleiter des Rosa-Luxemburg-Gymnasiums Ralf Treptow sieht in der aktuellen Strategie des Senats ein gewisses Ungleichgewicht – zugunsten der Bega-Kurse. Seiner Ansicht nach sollte sich Begabtenförderung auf die kognitiv hochbegabten Kinder konzentrieren.

„Die Psychologie hat gezeigt, dass Begabung an kognitive Fähigkeiten gebunden ist”, sagt Treptow. In den letzten zehn Jahren sei vom Senat das Potential der Förderung kognitiver Hochbegabung in Berlin nicht erkannt worden. Stattdessen habe man sich zu sehr auf eine weiten Begabungsbegriff konzentriert.

Treptow sieht Vernachlässigung der Schnelllerner-Gymnasien

Für Treptow stellt die aktuelle Strategie des Senats eine Vernachlässigung der Schnelllerner-Gymnasien dar – auch finanziell. Während die Bega-Schulen jeweils 35 000 Euro zur Verfügung bekommen, würden die Schnelllerner-Schulen für sechs Schnelllerner-Klassen sieben Lehrerstunden bezahlt kriegen, sagt Treptow.

„Wenn man das vergleicht, dann stellt man fest, dass dem Land Berlin die Bega-Kurse ungefähr sechs Mal so viel wert sind wie eine Schnelllerner-Klasse.” Ob das Ausgewogenheit bedeute, das wage er schwer zu bezweifeln. Dazu kommt, dass es Unterschiede bei der Kapazität der Schnelllerner-Gymnasien gibt. So sei ein Problem der Förderung von höher begabten Kindern auch das „Ignorieren der Anzahl von qualifizierten Bewerbern an den sieben Standorten“.

Treptow meint Folgendes: Je nach Standort gebe es große Differenzen zwischen Angebot und Nachfrage. So würden einige Schnelllerner-Gymnasien die fünften Klassen nicht vollkriegen, da sie nicht genug Interessenten hätten. Bei anderen Schulen gebe es hingegen mehr Interessenten, die alle Anforderungen erfüllen, aber dafür zu wenig Klassen.

„Berlin sollte hier zugunsten der Förderung von nachgewiesen höher- oder hochbegabten Kindern die Entscheidung über die Anzahl der zu eröffnenden Schnelllerner-Klassen den sieben Schulen überlassen und nicht per Verordnung regeln”, sagt Treptow.

Zwar könnten seiner Ansicht nach die Bega-Kurse schon dazu beitragen, Begabungen eher zu erkennen. Dafür müssten diese aber in den Klassenstufen eins bis vier erfolgen. Ab der Klassenstufe fünf helfe es nicht, um ein kognitiv höher begabtes Kind in den für ihn geeigneten Bildungsweg zu bekommen, da dieser schon begonnen habe.

„Nur weil wir das eine machen, muss man ja nicht das andere sein lassen“

Die Diplompsychologin Annegret Mahn dagegen sieht in beiden Ansätzen eine Wichtigkeit und betont, das eine müsse das andere nicht ausschließen. „Nur weil wir das eine machen, muss man ja nicht das andere sein lassen“, sagt Mahn. Die Hochbegabtenförderung sei eigentlich ein Spezialfall der Begabtenförderung.

Dennoch sieht auch sie noch einen stärkeren Bedarf in der Hochbegabtenförderung. Ihr Eindruck sei es, dass viele Lehrkräfte nach wie vor das Problem nicht erkennen würden. Oftmals gebe es noch die Mentalität, dass höher begabte Kinder doch schon begnadet seien und entsprechend keine zusätzlichen Förderungen bräuchten.

Viele scheuen sich auch noch vor der Förderung von höher begabten Kindern, da diese oftmals auch mit einer „ Elitenförderung” gleichgesetzt werde. Dies führe auch dazu, dass viele Hochbegabungen gar nicht entdeckt werden würden, sowohl von Lehrkräften als auch von den Eltern. Es mache alles nur dann Sinn, wenn es sich in die Köpfe von jeder Lehrkraft setze, dass Hochbegabung wirklich zusätzlicher Förderung bedarf.

Probleme in der Hochbegabungsförderung seien aber völlig unabhängig davon, dass alle anderen Kinder auch gefördert werden sollten. „Das sind zwei Sachen, die parallel laufen müssten“, sagt Annegret Mahn.

Nicolas Lepartz

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