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An der Ernst-Schering-Schule wird Aufklärung über jüdisches Leben sehr ernst genommen. Der Pädagoge André Barth (stehend) hat daran großen Anteil.

© Sven Darmer

Antisemitismus in Berlin: Besuch des Jüdischen Museums wird an Schule in Wedding zur Pflicht

Die Ernst-Schering-Schule in Wedding hat im Kampf gegen Antisemitismus eine neue Kooperation mit dem Jüdischen Museum geschlossen.

Osman, der 16-Jährige, sitzt an der vordersten Schulbank, zwei Meter von der Tafel entfernt. Er hat den Reißverschluss seiner weißen Trainingsjacke bis zum Hals gezogen, die Blicke sind konzentriert. Der Muslim redet über Juden, er redet über Antisemitismus.

„Wenn ich höre, dass jemand Juden wegen ihres Glaubens ablehnt“, sagt er, „dann kommt er aus einem schlechten Haushalt. Meine Religion verbietet es, andere Religionen respektlos zu behandeln.“ Aber das Gleiche fordert er für sich ein. Er respektiere den Glauben des Anderen, aber diesen Respekt erwarte er auch für sich.

Es sind kluge, differenzierte Sätze, und wenn Osman sie tatsächlich ernst meint, hat das auch viel mit einem Mann zu tun, der einen kleinen Pferdeschwanz trägt und jetzt vor 21 Schülern und Schülerinnen einer zehnten Klasse der Ernst-Schering-Schule in Wedding steht.

André Barth ist Fachleiter für Gesellschaftswissenschaften an der Integrierten Sekundarschule (ISS). Der 39-Jährige verkörpert am stärksten den Anspruch, den diese ISS hat. In dem wuchtigen, ehrwürdigen Bau sollen die Schüler und Schülerinnen Zugang zum jüdischen Glauben und jüdischen Leben bekommen. „Die antisemitischen Tendenzen in der Gesellschaft haben zugenommen“, sagt Barth. Er steuert dagegen.

Über 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler an der ISS sind Muslime, in diesem Klassenzimmer sind es 19 von 21. In fast allen Fällen prägt das Elternhaus das Bild von Israel, aber auch das Bild vom Judentum. Oft genug sind es verzerrte Bilder, geprägt vom Nahostkonflikt. „Viele Kinder sehen zu Hause auch noch die arabischen Propagandasender“, sagt Friederike Beyer, die Schulleiterin.

Gegenmaßnahmen zum Antisemitismus

Die Gegenmaßnahme – die Aufklärung über jüdisches Leben, jüdischen Glauben – ist die Kooperation mit dem Jüdischen Museum. Seit 2012 arbeiten Schule und Museum zusammen, angestoßen von Barth. Der war ein Jahr an der Schule, als er hörte, dass ein Schüler „du Jude“ als Schimpfwort benutzte. Er war alarmiert, er thematisierte Antisemitismus, erst in seiner Klasse, dann immer stärker an der Schule. Bald darauf begann die Kooperation mit dem Jüdischen Museum.

Doch die Aufklärung blieb damals inhaltlich eher an der Oberfläche. Es gab einmal pro Schuljahr einen Wandertag ins Museum, die Schüler hatten freien Eintritt, doch so intensiv, wie sich das Barth und seine Kollegen vorstellten, drang Wissen nicht zu den Schülern. Das soll sich jetzt ändern.

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Die Schule hat vor Kurzem einen neuen Kooperationsvertrag mit dem Jüdischen Museum abgeschlossen, er soll die Schülerinnen und Schüler emotional und pädagogisch viel stärker an das Thema heranführen als bisher. Die Schering-Schule gehört zu den Lehranstalten, die sich am intensivsten und umfassendsten um Wissen zum Judentum kümmern. „Die langjährige Zusammenarbeit ermöglicht nun den nächsten Schritt, darüber sind wir sehr froh“, sagt Fabian Schnedler, der Projektverantwortliche für Schulprogramme und Schulkooperationen beim Jüdischen Museum.

Besuch des Jüdischen Museums wird zur Pflicht

Das Museum hat seine Ausstellung umgebaut, es geht nun auch viel über jüdisches Leben seit 1945. Und diese Entwicklungen werden jetzt alle Jugendlichen der Schering-Schule, zwischen den Klassenstufen sieben und zehn, vor Ort verfolgen. Der Besuch des Museums wird zur Pflicht. „Das ist eine ganz andere Form der Zusammenarbeit“, sagt Friederike Beyer.

Die Besuche jetzt werden viel professioneller ablaufen und auch vorbereitet. Auch daran hat André Barth großen Anteil. Er leitete das Team von Pädagogen der Schule, das parallel zum Umbau des Jüdischen Museums ein neues Konzept ausgearbeitet hat. Drei Fächer sind in dieses Konzept eingebunden, Geschichte, Gesellschaftswissenschaften, Politik.

Fächerübergreifend gibt es ein Leitthema. Zum Beispiel, für Jahrgangsstufe sieben: „Wer bin ich in dieser Welt?“ Dieses Leitthema wird dann in drei Gebiete unterteilt: „Was macht Leben wertvoll?“, „Gleiches Recht für alle“ und „Warum selber denken?“. Und nun kommen die fachspezifischen Feinheiten. In Geschichte, Politik, Gesellschaftswissenschaften werden jeweils Themen zur Leitfrage passend behandelt. In Geschichte zum Beispiel: „Jüdisches Leben im Mittelalter“.

Themen werden dem Museum vorab mitgeteilt

Will ein Lehrer beim Museumsbesuch ein bestimmtes Thema behandeln, teilt er das dem Museum vorab mit. Sofort kommen Rückfragen: Welches Unterrichtsziel soll erreicht werden? Welche Inhalte sind dazu in den Stunden zuvor vermittelt worden? Wie wird das Thema in den darauffolgenden Stunden behandelt? Alle Infos landen bei dem Referenten, der nicht durchs Museum führt, sondern auch einen Workshop gestaltet.

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Mithilfe dieses Konzepts kann eine enorm große Palette an Themen abgearbeitet werden. Alle Schulen in Berlin können es beim Besuch des Jüdischen Museums anwenden, aber nur wenige werden es wohl so intensiv nutzen wie die Schering-Schule. Barth und sein Team haben eine enorm wichtige Vorarbeit geleistet. „André Barth ist seit 2012 das Gesicht der Zusammenarbeit von Museum und Schering-Schule und ein hochgeschätzter und engagierter Ansprechpartner“, sagt Fabian Schnedler. „Er hatte die Ausformulierung des schulinternen Curriculums für gesellschaftswissenschaftliche Fächer an der Schering-Schule und darüber hinaus gestaltet. Diese Ideen hat er im Museum vorgestellt, und nun sind wir auf seine Ideen eingegangen.“

Barth und seine zuständigen Kollegen haben aber schon in der Schule gute Vorarbeit geleistet, wenn es um Verständnis für jüdisches Leben geht oder überhaupt allgemein bei der Tolerierung von Religionen. Schräg gegenüber von Osman, an der anderen Seite des Klassenzimmers, sitzt Pawel und knetet seine graue Schiebermütze. Pawel ist 16, Schachspieler, und erklärt: „Wenn jemand sagt, ein Jude sei ein Ungläubiger, ist er blöd im Kopf.“ Er habe mal bei einem Schachturnier einen Spieler verteidigt. Der sei von seinem Gegner wutentbrannt mit „du Jude“ beschimpft worden, verbale Rache für die eigene Niederlage.

Botschaften von Toleranz und Verständnis in der Klasse

Auch andere Kommentare in der Klasse sind Botschaften von Toleranz und Verständnis. „Es ändert nichts an der Einschätzung von jemandem als Mensch, wenn er Jude ist.“ – „Ein Mensch ist ein Mensch, unabhängig von seiner Religion.“ Solche Sätze fallen. Und es gibt Interesse am jüdischen Glauben. Ein Mädchen mit langen Haaren will wissen, „was im Judentum erlaubt ist und was nicht“. Ein anderes Mädchen interessiert es, „welche Regeln Juden befolgen müssen“.

Mag sein, dass nicht alle Sätze ehrlich gemeint sind, aber auf jeden Fall herrscht hier eine ganz andere Tonlage als jene, die Barth auch schon von Jugendlichen gehört hat. Es gab Stunden, in denen sagte er: „Wir sind im geschützten Raum, alles, was gesagt wird, bleibt hier drin, nichts geht nach außen. Jeder sagt jetzt, was er vom Judentum kennt oder gehört hat.“ Es kam natürlich, wie es kommen musste. „Da fielen schon krasse antisemitische Sprüche“, sagt Barth. Er hat sie alle mit den Schülern intensiv und engagiert aufgearbeitet.

Für einige Eltern ist der Besuch des Jüdischen Museums eine Provokation

Und natürlich wissen er und seine Schulleiterin, dass sie sich virtuell noch mit ganz anderen Personen auseinandersetzen müssen. „Für einige Eltern ist allein schon der Besuch des Jüdisches Museums ein Provokation“, sagt Friederike Beyer. Und jetzt ist der Besuch auch noch ein Pflichttermin. „Der wird bei einigen Eltern Reflexe auslösen.“ Welche, kann man sich denken. Aber da spiele nicht bloß der Nahostkonflikt eine Rolle, sagt Friederike Beyer. „Für viele Eltern ist ein Museumsbesuch ohnehin ein fremdartiger Gedanke.“

Aber wirklich Einfluss hat sie nur auf die Kinder und Jugendlichen in ihrer Schule. Und offenbar hat sich da einiges bewegt. Natürlich weiß Friederike Beyer nicht alles, aber immerhin: „Seit ich hier Schulleiterin bin, seit zwei Jahren, hat es keine Beschwerde wegen antisemitischer Bemerkungen gegeben.“

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