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Blick hinter die Noten. Musiklehrer Rainer Kobin im Werner-von-Siemens-Gymnasium.

© Georg Moritz

Schule aus in Berlin: Abschied eines Super-Lehrers

Die Sommerferien beginnen und ein besonderer Mann geht: Rainer Kobin hat ganze Schülergenerationen in Schlachtensee geprägt.

Es ist, als hätte ein Beben die Aula des Werner-von-Siemens-Gymnasiums in Schlachtensee erfasst. Mehr als 60 Schüler des Oberstufenchors stehen auf der Bühne und trampeln, was das Zeug hält. Im Saal erhebt sich das Publikum, in vielen Augen glitzern Tränen.

An diesem Sommerabend verneigt sich eine Schule vor einem Mann, der das Musikleben an diesem Ort geprägt hat wie wohl kein anderer. Rainer Kobin heißt der Mann, und nach 37 Jahren verlässt er die Schule. Pensioniert ist er schon seit Februar, aber im letzten halben Jahr hat er den Chor noch weitergeleitet, sein Herzensprojekt.

Einfach wird der Abschied nicht, und so ist, nachdem die letzten Töne von Mendelssohn-Bartholdys „Abschied vom Walde“ verklungen sind, noch lange nicht Schluss. Noch eine Zugabe aus der Carmina Burana, dann verabschiedet sich der Chor mit einem eigenen Stück und auch die scheidenden Abiturienten singen noch einmal. Ein Mädchen mit einem Blumenstrauß für Kobin in der Hand will etwas sagen, sie schafft es nur mühsam unter Tränen: „Der Chor hat in den letzten Jahren alles für mich bedeutet“.

Schulleiterin Ute Paubandt spricht in ihrer Dankesrede von einer „Ära“, davon, dass Kobin „vielen hier an dieser Schule eine Heimat gegeben hat“.

Autorität, Freundlichkeit und – Augenbrauen

Wer ist der Mann, der viele so bewegt, der es geschafft hat, dass die Chöre der Schule eine Institution sind, mit hoher Qualität, die sich auch in professionellen Konzertsälen hören lassen könnte? Selbst für pubertierende Jugendliche ist hier nichts Uncooles dabei, in den Chor zu gehen – im Gegenteil.

Wenn man Schüler fragt, ehemalige und heutige, was Kobin so besonders macht, bekommt man viele Geschichten zu hören. Von legendären Chorfahrten erzählen sie – aber dazu später mehr –, von seiner Autorität und seiner Freundlichkeit, von einem Lehrer, der viel fordert und alles gibt, der auch mal scharf formuliert, wenn etwas nicht klappt, auf den man sich aber immer verlassen kann – auch nach Schulschluss. Und dann sagen sie: „Die Augenbrauen“.

Die sind tatsächlich markant, weiß und buschig ragen sie über die Brille – und damit ziehen ihn Schüler auch gern scherzhaft auf. Auf den Chorfahrten, wenn am letzten Abend alle etwas vorführen, gebe es eigentlich immer jemanden, der Kobin spiele und sich falsche Augenbrauen anklebt. „Das ist ja liebevoll gemeint. Und wer austeilt, muss auch einstecken können“, sagt Kobin.

Geboren wurde er 1953 in der DDR, in Fürstenberg. Als er acht Jahre alt war, flüchteten seine Eltern nach Westdeutschland, er wuchs dann im Sauerland auf. Als Teenager nahm er Querflötenunterricht und seine damalige Lehrerin sei eine der prägenden Frauen in seinem Leben gewesen, sagt er. Im Unterricht erlebte er das, was er später selbst mit seinen Schülern umsetzte: die intensive Auseinandersetzung mit der Musik, den Blick hinter die Noten und die persönliche Begegnung, bei der man auch private Probleme besprechen kann.

„Ich habe meine ganze Energie in diese Schule gesteckt“

1981 hat Kobin am Werner-von-Siemens-Gymnasium angefangen. 1983 hat er den Chor übernommen und ausgebaut. Später übernahm er die Fachbereichsleitung Musik. Auch eine Jazzband hat er an der Schule etabliert. „Ich habe meine ganze Energie in diese Schule gesteckt“, sagt er.

Er versuche, jeden einzelnen seiner Schüler als Person wahrzunehmen. „Und ich will ihnen über die Musik Welten eröffnen.“ In seinem Unterricht legt er nicht nur Wert auf präzise Technik. Er will, dass die Schüler verstehen und vor allem fühlen, was sie singen.

Das beginnt mit der genauen Auseinandersetzung mit dem Text und der musikalischen Gestaltung. Wenn er mit Schülern Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ einübt, dann legt er mit ihnen die Tiefen des Textes und der Musik frei und bespricht existenzielle Fragen.

Um den Tod und das Leben geht es da, bei anderen Gelegenheiten um Natur und Religion. „Die Musik geht über dass Sagbare hinaus, es geht um Empfindung und Gefühl.“ Jugendliche seien oft erstmal distanziert, es ist ihnen peinlich, Gefühle zu zeigen. Er schaffe es aber, in den allermeisten Fällen zumindest, dass sie diese Distanz überwinden, sagt Kobin. „Ich lebe das intensiv vor, ich kenne da keine Grenzen und gehe voll mit.“

Zu einer Chorgruppe habe er einmal gesagt: „Wenn ich es nicht schaffe, euch im Tiefsten eurer Seele zu berühren, dann habe ich nicht gut gearbeitet.“ Gleichzeitig fordert er Verantwortlichkeit von den Schülern. „Alles, was wir musikalisch tun, ist letztendlich mit einer Aufführung verbunden. Es müssen deshalb alle hundertprozentig alles geben.“

„Ich habe so viel von ihm gelernt"

Mit seiner Frau Katrin Kobin teilt er nicht nur die Liebe zur Musik, sondern auch die Verbundenheit zu den Schülern. Sie ist ebenfalls Musiklehrerin, am Droste-Hülshoff-Gymnasium, und wurde für ihr Engagement gerade vom Chorverband ausgezeichnet. „Die Kobins haben keine eigenen Kinder, dafür haben sie ganz viele Kinder“, sagen Schüler über die beiden.

Und für diese vielen Kinder, die längst Erwachsene sind, haben die Kobins ein offenes Haus. Einmal im Monat laden sie Ehemalige ein, 20 bis 50 Leute kommen da zusammen, und alle werden ausgiebig von Rainer Kobin bekocht. Kochen ist neben Musik und Radfahren eine Leidenschaft von ihm, er hat sogar ein eigenes Kochbuch geschrieben.

Viele seiner Schüler machen auch später etwas mit Musik, privat oder beruflich. Eine davon ist Sarah Kisker, 33 Jahre alt, inzwischen Musik- und Mathematiklehrerin in Hamburg. Sie blieb nach der Schulzeit mit Kobin in Kontakt, während des Studiums arbeitete sie bei der Chorleitung mit und kam seitdem als Betreuerin auf die Chorfahrten mit. „Ich habe so viel von ihm gelernt – die Präzision, die Begeisterung, den Umgang mit einer großen Gruppe und die Lebensperspektive, die er vermittelt“, sagt Kisker.

Riesenüberraschung auf der letzten Chorfahrt

Die Chorfahrten also. Rund 150 davon hat Kobin durchgeführt. Und auf diesen hat sich wohl die besondere Magie eingestellt, von der die Schüler schwärmen. Das Gemeinschaftsgefühl, die tiefen Freundschaften. Von freitags bis montags wurde da intensiv geprobt, gemeinsam gegessen, erzählt. Morgens ging Kobin mit seiner Querflöte durch die Gänge und weckte alle mit sanften Tönen auf.Die letzte Chorfahrt fand im Januar statt, es ging wie so oft nach Dessau. Es sollte etwas ganz Besonderes werden.

Am letzten Abend werden Kobin die Augen verbunden, für ein Spiel, sagen seine Schüler. Dann fängt ein Chor an zu singen, „Traurige Krönung“ von Hugo Distler. „Das ist nicht mein Chor“, ruft Kobin sofort. Als er die Augenbinde abnimmt, stehen 80 ehemalige Schüler vor ihm.

Sarah Kisker hat sie heimlich zusammengetrommelt. Einer ist dabei, der 1989 Abitur gemacht hat, einer, der 1983 bei der ersten Chorfahrt dabei war. „Meine ganze Vergangenheit stand vor mir“, sagt Kobin. Tränen fließen, Geschichten werden erzählt. Kobin hört von vielen, dass er sie weit über die Schule hinaus geprägt hat, dass er ihre Grundeinstellung zur Welt beeinflusst hat. „Das macht mich alles unglaublich glücklich“, sagt Kobin.

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