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Als "Schrippenmutti" wurde Inge Schulze Kult. Jetzt schmerzt die Hüfte, das Laufen fällt schwer.

© Doris Spiekermann-Klaas

Schrippenmuttis letzte Runde: „Mit den jungen Leuten mach ich immer noch gern einen drauf“

Seit 26 Jahren verkauft Inge Schulze Buletten und Schrippen in Berlins Schwulenclubs, Kneipen und Bordellen. Doch sie spürt, dass etwas zu Ende geht.

Es ist Viertel nach vier und Inge Schulze will es noch mal wissen. Letzte Station, die „Minibar“ in der Graefestraße. Ein Zufluchtsort für die hartnäckigsten Nachtschwärmer. „Jetzt machen wir noch mal richtig Alarm“, sagt Schulze.

Doch die Stufe ist zu hoch. Schulze strauchelt, sie fällt nach hinten, versucht sich noch an ihrer Krücke festzuhalten. Vergeblich. Die 79-Jährige stöhnt vor Schmerz laut auf.

Die Tür der „Minibar“ fliegt auf, das Rotlicht von drinnen fällt auf die am Boden liegende Inge Schulze. „Mensch, Mutti. Was machst du denn für Sachen? Sollst es doch nicht mehr so wild angehen.“ Ein braun gebrannter, mittelalter Mann eilt herbei. Er hilft Schulze wieder auf die Beine und begleitet sie vorsichtig hinein. In der Bar drängen sich Dutzende Menschen an zwei Stehtischen sowie im schmalen Gang zwischen Wand und Tresen. Schnell macht eine Frau ihren Barhocker frei. Schulze klettert darauf, zündet sich eine dünne Zigarette an und bestellt Cola. Mit dem Kopf wippt sie zur Musik. An den Sturz scheint sie nicht mehr zu denken. „Wer bist du denn?“, fragt sie ein betrunkener Mann Anfang 30 von der Seite. „Icke?“ Schulze klingt erstaunt über so viel Unwissenheit. „Na, ich bin die Schrippenmutti!“

26 Jahre ist die Berlinerin Inge Schulze unterwegs gewesen und hat Schrippen, Buletten und Knacker verkauft. Nacht für Nacht, bei jedem Wetter. Manchmal, sagt sie, sieben Tage am Stück. In Eckkneipen in Wedding, Schwulenbars in Schöneberg, Bordellen in Neukölln. Zu ihren besten Zeiten hatte ein Abend zehn Stunden, 93 Stationen und 140 Kilometer Lieferweg. Als Schrippenmutti wurde Schulze Kult.

Doch jetzt schmerzt die rechte Hüfte. Arthrose. An schlechten Tagen kommt sie nicht mal mehr ohne Hilfe aus dem Sessel. Für die 30 Stufen von ihrer Wohnung in der ersten Etage bis zur Haustür braucht sie dann zehn Minuten.

Mit einer Zeitungsannonce fing es an

Die Abende, an denen sie ihre Schrippen durch die Nacht fährt, werden seltener. Schulze ahnt, dass ihre Touren bald ein Ende haben werden. Angst habe sie nicht. „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.“ Nur wegen ihrer Kunden tut es ihr leid. „Die sind mir seit 26 Jahren treu. Es gibt in Berlin keine Schrippen wie meine.“

Jetzt sucht sie einen Nachfolger. Oder wenigstens einen Helfer. Deshalb macht sie heute noch mal eine Runde, lässt sich dabei fotografieren – und erzählt von früher.

Schneiden, schmieren, verpacken. Früher brauchte sie nie mehr als eine Minute pro Schrippe, jetzt dauert alles länger.
Schneiden, schmieren, verpacken. Früher brauchte sie nie mehr als eine Minute pro Schrippe, jetzt dauert alles länger.

© Doris Spiekermann-Klaas

Vielleicht liest es ja jemand. Denn so fing auch bei Schulze alles an: mit einer Zeitungsannonce. Irgendwann Anfang der 90er Jahre. Aushilfe zum Brötchenbelegen gesucht. Dazu eine Telefonnummer und eine Adresse in Moabit. Als gelernte Fleischerin dachte sie, das passt. Schulze ruft an, wenige Tage später bestreicht sie für den Verkäufer in seiner Wohnung Schrippen. Die Kunden seien begeistert gewesen. Als der Mann Ärger mit der Polizei bekommt – „irgendwas im Rotlichtmilieu“ –, übernimmt Schulze das Geschäft. Morgens einkaufen im Moabiter Großmarkt, mittags schmieren, nachts verkaufen. „Dabei war ich wirklich keine Kneipentante. Mit meinem Mann war ich nur alle paar Wochen aus. Er hat immer drei halbe Liter Bier getrunken, ich Berliner Weiße. Nie mehr.“

Sieben Stunden vor der Ankunft in der „Minibar“: Inge Schulze ist noch zu Hause. Für eine allein lebende Rentnerin ist ihre Wohnung in Wedding absurd groß. Eine ganze Etage. Mehr als 300 Quadratmeter, kunterbunt. Ein alter Plattenspieler, ein Gummibaum, dicke Teppiche, eine alte Orgel, Porzellan, Plüschtiere. Ein Zimmer sieht aus wie ein Dschungel, voller Pflanzen, das Licht schummrig. Inge Schulze hat einen Salon und eine eigene Bar, dazu eine Zwischenetage, die man über eine Wendeltreppe erreicht. An der Wand hängt eine Uhr, die zu jeder vollen Stunde Lokomotivgeräusche macht. Ein Sammelsurium an Kitsch und Erinnerungsgegenständen aus 80 Jahren Leben. Alles mit Liebe eingerichtet, alles etwas verstaubt. Die frühere Haushaltshilfe ist krank geworden und nach München gezogen, die neue von der Krankenkasse „schaut nur auf die Uhr“. Seit 1953 lebt Inge Schulze hier. Erst mit ihren Eltern, dann mit ihrem Mann und den beiden Töchtern. Wie viel sie für die Miete zahlt, weiß sie gar nicht. „Ein Witz.“ Heizung gibt es nicht, dafür einen Gas-Heizpilz. Mit einem Rollator bewegt sich Schulze in der Wohnung, für eine Runde braucht sie Minuten. Sie hat drei Küchen.

Es gibt acht Katzenklos

In einer davon steht sie nun und brutzelt Hacksteaks in einem Topf voller Fett. „Die schmecken richtig geil“, sagt Schulze und legt die fertigen Fleischstücke in eine Tupperbox. Für ein Kilo ihrer tennisballgroßen Buletten nimmt sie zwei Brötchen, Eier, Paniermehl, Salz, Pfeffer, dies und das. Das Rezept ist geheim. Eigentlich müsste sie jetzt Stullen schmieren, doch sie braucht erst mal Kaffee und Kippen. Pause. Bisschen quatschen. „Die paar Käsestullen machen wir doch nebenher.“

„Die Hacksteaks schmecken richtig geil“, sagt Inge Schulze.
„Die Hacksteaks schmecken richtig geil“, sagt Inge Schulze.

© Doris Spiekermann-Klaas

Also erst einmal in ihren Sessel im kleinen Saal. Auf ihren Schoß springt Dreibein, ein schwarzer Kater, dem ein Hinterbein fehlt. Die Tierärztin hat ihn bei Schulze in Obhut gegeben. „Der würde sich für mich umbringen.“ Insgesamt vier Katzen hat sie. Dreibein, Pascha, Max-Felix und Lisa. Zeitweise hatte sie zehn. Überall stehen Kratzbäume und Trinkschalen, es gibt acht Katzenklos. Sie habe mal die älteste Katze der Welt gehabt, behauptet Schulze. 26 Jahre alt sei Püppchen geworden. Stirbt ein Tier, wird es eingeäschert und kommt in die Urne. Schulze will da auch mal rein. Die Urne steht im Nebenzimmer. „Und dann unter Buchen verstreuen“, sagt Schulze und lässt Max-Felix an der Sprühsahne schlecken.

Der Kaffee ist aufgekocht. Sie trinkt ihn türkisch, gerne auch mit Sprühsahne und einem Schuss Branntwein.

Zwei Uhr nachts vor der Bülow-Kneipe in Schöneberg. Schulze parkt ihr motorisiertes orangefarbenes Dreirad, Modell Piaggio Ape, mitten auf der Straße. Vor ein paar Jahren kam das Geld dafür bei einer Spendenaktion zusammen. RTL2, ein Rollerhersteller und die Berliner Weltenbummlerin Heidi Hetzer haben für Mutti gesammelt.

Wenn Schulze einen Nachfolger findet, will sie mit ihrem Dreirad noch einmal auf Tour. Nach Süditalien.
Wenn Schulze einen Nachfolger findet, will sie mit ihrem Dreirad noch einmal auf Tour. Nach Süditalien.

© Doris Spiekermann-Klaas

Normal ist für Schulze mit Fleisch

Die Tür schwingt von innen auf. Dicke Rauchschwaden wabern nach draußen. „Mensch, Inge. Um diese Uhrzeit! Das ist doch Wahnsinn“, ruft Conny, blond, schlank, die in der Bülow-Kneipe arbeitet. Dielen und Holzvertäfelung, an der Decke eine Karte von Alt-Berlin. Vor der originalen Wurlitzer-Jukebox tanzt ein älteres Paar wild zu Abba. Ein paar Betrunkene beobachten die Szene. Conny umarmt Schulze. Die beiden kennen sich aus vielen Nächten. „Es tut mir so leid, dass sie nicht mehr laufen kann. Ich wünsche ihr so sehr, dass sie bald einen Nachfolger oder einen Helfer findet“, sagt Conny, über die Schulze ihre Zigaretten bezieht. Importiert aus Polen. „22 Euro die Stange“, sagt Schulze. „Billiger kriegste die nirgends in der Stadt.“

Hier gehen Schulzes Schrippen nicht so gut weg, obwohl Conny lautstark Werbung macht. Die Hacksteaks sind schon aus. Ein Mann möchte eine Essiggurke. „Gurken habe ich mal für die Mädels eingeführt, aber jetzt kaufen immer Männer die.“ Auf ihrem roten Tablett hat Schulze noch Buletten, Käsestullen, Gurken und Senf. „Bei mir gibt es Käse und normal“, sagt sie. Normal ist für Schulze mit Fleisch. Vegan? Schulze rümpft die Nase.

Sie ist 15, als sie ihre Fleischerausbildung beginnt. „Eigentlich wollte ich Krankenschwester werden, aber da gab es keine Ausbildungsplätze.“ Also zwei Jahre in der kleinen Metzgerei um die Ecke, dabei ekelt sie sich anfangs vor Blut. Zehn Stunden am Tag, zwanzig Mark im Monat, dazu eine Gratismahlzeit und Fleischpakete am Wochenende. Als sie ausgelernt hat, wechselt sie in Großbetriebe, verdient gutes Geld. Für ein paar Monate jobbt sie auch als Aushilfe im KaDeWe. Zehn Jahre später wird sie doch noch Krankenschwester. Die Liebe zum Essen bleibt.

Ein Stammgast in der Schöneberger Schwulenbar „Oldtimer“ sagt: „Das Beste an Mutti ist, dass sie eine echte Berlinerin ist.“
Ein Stammgast in der Schöneberger Schwulenbar „Oldtimer“ sagt: „Das Beste an Mutti ist, dass sie eine echte Berlinerin ist.“

© Doris Spiekermann-Klaas

Mit Begeisterung kann sie von gefüllten Weinblättern erzählen, die sie im türkischen Laden bei ihr in der Nähe bekommt. Und von Gerichten, die sie für ihren Mann kochte, Eisbein, Rouladen, Sauerbraten. „Bei mir gibt es deutsche Küche. Ich bin ja deutsch“, sagt Schulze. Süßes habe sie nie so gemocht. Ob man schon die neuen, kalorienarmen Linsen-Chips kenne? Hat sie in der Werbung gesehen und gleich probiert. „Sind richtig geil. Schön feurig.“ Essen macht sie glücklich – auch weil sie weiß, was Hunger bedeutet.

Da ist einer tot, dort ist einer tot

Im Februar 1940 kommt Inge Schulze auf die Welt, die sich da bereits seit fünf Monaten im Krieg befindet. In Lübars. „Ne richtige Landpomeranze.“ Ihre Mutter arbeitet bei der Post, ihr Vater, Maschinenbaumeister in Wittenau, wird als Soldat an die Ostfront beordert. Im Garten habe sie Brennnesseln fürs Essen pflücken müssen, Fleisch gab es fast nie. Auch an die Kampfflugzeuge, die tief über das Dorf donnerten, um die Verteidigungsanlagen der deutschen Flak in Reinickendorf zu bombardieren, erinnert sie sich.

Schulze ist eine großartige Erzählerin. Wild gestikuliert sie, wechselt Lautstärke und Tonfall, imitiert Stimmen und berlinert dabei ununterbrochen. In ihrem Wohnzimmer lässt sie das Vergangene wiederaufleben. Überprüfen lässt sich vieles von dem, was nur noch in Inge Schulzes Erinnerung bewahrt ist, nicht.

Nach dem Krieg kommt ihr Vater nicht zurück. Kriegsgefangenschaft. Einzelkind Inge und ihre Mutter müssen sich alleine durchschlagen und sich dabei auch vor alliierten Soldaten in Acht nehmen. Einmal habe ein junger Soldat der Roten Armee ihre Mutter verfolgt, berichtet Schulze. Zur Vergewaltigung kommt es nicht, stattdessen erschießt der russische Kommandeur den Mann vor den Augen ihrer Mutter. „Das war nötig. Jetzt werden Sie in Ruhe gelassen“, soll der Mann gesagt haben.

In ihrer Wohnung lebt sie seit 1953. Erst mit ihren Eltern, dann mit ihrem Mann und zwei Töchtern. Die Miete? „Ein Witz.“
In ihrer Wohnung lebt sie seit 1953. Erst mit ihren Eltern, dann mit ihrem Mann und zwei Töchtern. Die Miete? „Ein Witz.“

© Doris Spiekermann-Klaas

Erst 1948 taucht der Vater wieder auf. Die kleine Inge, die gerade auf der Straße spielt, sieht ihn und erkennt ihn nicht. Doch mit ihm kommt der Wohlstand zurück. „Mit Papa war ich oft Würstchen und Kartoffelsalat essen. Herrlich ist das gewesen.“ Bald zogen sie in die neue Wohnung in Wedding. Früher seien Badstraße, Müllerstraße und Prinzenallee richtige Prachtboulevards zum Einkaufen und Flanieren gewesen. Jetzt gefällt Schulze ihr Kiez nicht mehr. „Das ist alles so rotzig hier.“ Außerhalb ihrer Wohnung fühlt sie sich unsicher, zu Penny geht sie nicht mehr. „Es gibt jetzt immer Messerstechereien“, sagt Schulze. „Da ist einer tot, dort ist einer tot.“

Die Polizei nannte sie "den Henker von Berlin"

Auf ihrer Tour durch die Puffs, Schwulenclubs und verrauchten Kaschemmen fürchte sie sich aber nicht. „Meine Kunden passen doch auf.“ In 26 Jahren sei noch nie etwas passiert. Als einer mal ihre Vespa klauen wollte, stoppten Gäste den Dieb.

Bevor sie loszieht in dieser Nacht, muss Schulze sich vorbereiten. Es ist 23 Uhr. Sie steht in einer ihrer drei Küchen. „Seniorenküche“ nennt sie die. Hier werden die Schrippen geschmiert. Aber heute sind es Stullen. Mit einer elektrischen Brotschneidemaschine werden die Gurken zerkleinert. So fix, dass man Angst um Schulzes Finger hat. „Fleischer schneiden sich nicht“, sagt sie. Von links nach rechts arbeitet sie sich durch die Küche. Brote schneiden, mit Margarine – „viel!“ – bestreichen, belegen – „ganz viel!“ –, Deckel drauf, in Klarsichtfolie verpacken, rein in die Kiste. „Früher habe ich eine Minute pro Schrippe gebraucht. Niemals mehr.“ Heute Abend braucht Schulze eine halbe Stunde für ein Dutzend Brote. Jeder Schritt fällt schwer, immer wieder stöhnt sie auf. Danach braucht sie erst mal zwei Zigaretten. „Siehste, das geht nicht mehr.“

Zeitweise teilte sie sich die mehr als 300 Quadratmeter mit zehn Katzen. Jetzt sind es noch vier.
Zeitweise teilte sie sich die mehr als 300 Quadratmeter mit zehn Katzen. Jetzt sind es noch vier.

© Doris Spiekermann-Klaas

Nun aber los! Raus aus den Puschen, rein in die Schuhe. Den ollen Karo-Pulli an, darüber die „Muttis Brötchen-Service“-Weste und die Brille um den Hals. Kurz ins Bad, ein bisschen die Haare machen, runter. Kaum hat Schulze in der kleinen Fahrerkabine ihres Motor-Dreirads Platz genommen, wirkt sie wie aufgeweckt.

Nach zwei Startversuchen knattert die Ape und schon düst sie los. Wie früher. Es geht nach Schöneberg. Nicht auf der schnellsten Route, sondern auf Schulzes Weg. Kreuz und quer durch Wedding, Westhafen, Moabit, Siegessäule. 25 Kilometer pro Stunde darf sie fahren, nicht immer nimmt sie es genau. Vor einem Jahr ist sie am Alex umgekippt. Die Feuerwehr zog sie aus dem Wagen, ein paar Tage später war sie wieder unterwegs. Früher hatte sie häufig Ärger mit der Polizei. „Die nannten mich den Henker von Berlin.“ Auch mit dem Ordnungsamt geriet sie wegen Falschparkens aneinander. Schulze wurde zu mehreren Bußgeldern verdonnert. Doch eine Richterin am Amtsgericht Tiergarten verfügte mit „Verweis auf Ihre sehr lobenswerten karitative Tätigkeit“, dass das Verfahren eingestellt wird.

Was auf der Tour übrig bleibt, bringt sie den Obdachlosen

In der Lietzenburger Straße parkt Schulze auf dem Gehweg direkt vor dem „Oldtimer“. Rotlicht, Raucherkneipe. Lametta hängt von der Decke, an der Wand Fotos von Männern mit erigierten Penissen. Schulze richtet in ihrem Kofferraum das Tablett an. Unten Hacksteaks, oben Käse, dazwischen Buletten, Senf und Gurken. „Muss ja auch schön aussehen.“ Ein Gast torkelt aus der Kneipe, macht sich auf den Heimweg. „Ach, Mutti ist auch unterwegs. Wie schön“, sagt er und verschwindet.

Den Kaffee trinkt sie türkisch, gern mit Sprühsahne und Branntwein. Ihr Cocktail: Baileys, Schokolade und Orangenschale auf Eis.
Den Kaffee trinkt sie türkisch, gern mit Sprühsahne und Branntwein. Ihr Cocktail: Baileys, Schokolade und Orangenschale auf Eis.

© Doris Spiekermann-Klaas

Für Schulze beginnt jetzt der Abend. Im „Oldtimer“ kennen sie alle. Schulze stellt sich vor ihre Kunden und haut die Sprüchemaschine an. „Nur wer richtig isst, kann auch richtig trinken.“ – „Futtern wie bei Muttern!“ Die ersten Stullen gehen weg. Gurke ein Euro, Käsestulle 2,50 Euro, Hacksteak und Buletten drei Euro. In einem Kästchen sammelt sie zusätzlich für Obdachlose. „Fünf bis tausend Euro. Nach oben gibt’s kein Limit“, sagt sie. Was auf der Tour übrig bleibt, bringt sie den Obdachlosen. Meist stoppt sie auf dem Rückweg noch am Bahnhof Zoo. Ein Gast steckt der Schrippenmutti zehn Euro zu. „Sie ist einfach ein Schätzchen“, sagt der Mann, der ein Hefeweizen trinkt. Früher hat er in der Disko bei Mutti gekauft. Gab ja sonst nichts. Auch wenn Inge Schulze mit Krücke kommt, keine Zähne im Mund hat und die Haare nicht mehr so adrett gemacht sind, löst sie bei ihren Kunden etwas aus. Der Mann mit Hefeweizen kennt sie seit 17 Jahren. „Das Beste an Mutti ist, dass sie eine echte Berlinerin ist.“

Nächster Stopp ist das „Prinzknecht“ in der Fuggerstraße. Schulze hält in einer Hofeinfahrt. Schwulenbar. Kennt sie schon ewig. Der Bass wummert, am Rand der Tanzfläche stehen Männer mit Bierflaschen in der Hand, die sich noch nicht so richtig aufs Parkett trauen. Jeder von ihnen könnte der Enkel von Schulze sein. Am meisten ist am Tresen los. Dorthin wackelt Inge Schulze zielstrebig. Der tätowierte Barkeeper macht ihr Platz. Er grüßt die Schrippenmutti herzlich und stellt ihr eine Cola hin. „Na, meine Süßen, wollt ihr ein paar Käseschrippen?“, ruft Schulze in den Lärm. „Futtern wie bei Muttern!“ Die Männer in Muskelshirts und Latexhandschuhen schauen irritiert. Schulze macht erst mal Pause, setzt sich an einen Tisch zu Ryan. Den kennt sie nicht, aber sie plappert direkt los.

Entweder die Küche hat es verbockt oder der Service

Ryan, mit schwarzer Basecap, voller Tattoos auf den Armen, am Hals und im Gesicht, mit Ohrringen, Ketten und Bart kann dieser Charme-Attacke nicht widerstehen. Nach wenigen Sekunden muss er lächeln, wirkt auf einmal wie ein kleiner Junge in Gangster-Klamotten. Er kommt aus Eindhoven, lebt seit zehn Jahren in Berlin und arbeitet im Berghain. „Früher war ich auch immer im Berghain“, sagt Schulze. Fürs Geschäft habe sich das nicht gelohnt. Dabei ist ihr Grundsatz, dass niemals die Kunden schuld sind: „Entweder die Küche hat es verbockt oder der Service. Nie meine Kunden.“

Viele Kunden kennen Inge Schulze seit Jahrzehnten, der Kauf einer Bulette ist obligatorisch.
Viele Kunden kennen Inge Schulze seit Jahrzehnten, der Kauf einer Bulette ist obligatorisch.

© Doris Spiekermann-Klaas

Trotzdem war sie am liebsten in den Puffs bei ihren Mädchen. Anfangs habe sie ein bisschen Probleme mit den Türstehern gehabt, doch denen brachte sie Suppe. Mutti kommt überall rein. „In den Puffs wollten nicht alle mit mir tratschen. Aber die Mädchen waren froh, wenn es was zu futtern gab.“ Vor allem Lachsschrippen seien gut gegangen. Berührungsängste hatte Schulze nie. Die Worte „Nutte“ oder „Hure“ mag sie nicht. Da wird sie böse. „Jeder macht seinen Job.“ So gut es geht. Und so lange. Die meisten der Puffs, in die Schulze einkehrte, gibt es nicht mehr.

Am Tisch nebenan küssen sich zwei Männer leidenschaftlich. „Darf doch jeder lieben, wen er will.“ Sie lacht. „Ich sage immer: von der anderen Fakultät.“ Schulze trinkt ihre Cola leer. Von Ryan verabschiedet sie sich mit einer Umarmung und dem Versprechen, gemeinsam das Fußballspiel Deutschland gegen Holland in einer Kreuzberger Kneipe anzuschauen. Ryan sagt: „Bis morgen.“

Je später es wird, desto fitter wirkt Schulze. Während um sie herum die Feiernden immer stärker von Alkohol gezeichnet sind, lässt bei Schulze die Energie nicht nach. Sie ist jetzt in Fahrt. Eine Kneipe nach der anderen betritt sie mit dem Ruf „Mutti ist da!“. Sie schäkert mit den Barmännern, drückt Altbekannte und preist ihre Ware. „Futtern wie bei Muttern.“ Sie hat Spaß. Ihre Kunden haben Spaß. Und doch schwingt auch Nostalgie mit. Bezüglich der noch viel wilderen Nächte früher, als nicht nur Schulzes Hüften lockerer waren. Hier geht etwas zu Ende – das ist zu spüren.

"Wie immer?" Sie nickt verschwörerisch

Ihr Mobil knattert durch die Stille der schlafenden Stadt. Über Nebenstraßen und Kopfsteinpflaster. Schulze fährt die Route aus dem Kopf. So, als hätte sich die Stadt um sie herum kein bisschen verändert. „Ich könnte hier noch zehn Läden in der Ecke anfahren, aber das packe ich einfach nicht mehr.“ Ihr nächstes Ziel: „Mister Hu“ in der Goltzstraße. Ihr Lieblingsladen wegen der leckeren Cocktails. Sie begrüßt den Barkeeper mit Küsschen. „Wie immer?“ Sie nickt verschwörerisch und beobachtet den Mann, der ihr eigens einen Drink kreiert. „Der macht das mit Liebe“, sagt Schulze. Sie mag fleißige Menschen.

Über die Kollegin des Kellners lästert sie. Immer betrunken. Und was die anhat. „Mit dem Ausschnitt wäre ich früher erschlagen worden.“ Der Kellner bringt den Cocktail. Baileys, Schokolade und Orangenschale auf Eis. „Ich hab noch nie so lange auf einen Drink gewartet“, sagt sie, tut empört. „Vor 30 Jahren, als ich noch knusprig war, hätte ich mir den sofort geschnappt“, sagt Schulze. Jetzt sei das mit den Männern vorbei. „Es ist aber nicht so, dass keiner mehr hinter mir her ist“, schiebt sie nach. „Ich sag dann immer: Haste eine größere Rente als ich, können wir ein Paar werden. Hat natürlich keiner.“

Als Inge Schulze sich auf den Heimweg macht, ist es bereits nach fünf.
Als Inge Schulze sich auf den Heimweg macht, ist es bereits nach fünf.

© Doris Spiekermann-Klaas

Ihre Rente wolle sie „allein mit meinen Katzen vernaschen“. Zweimal hat Schulze geheiratet. „Morgens beim Aufstehen haben wir gelacht, abends beim Ins-Bett-Gehen auch. Wir hatten 20 gute Jahre“, sagt sie ohne, dass man weiß, von wem sie redet. Auch über ihre Familie spricht sie nicht viel. Ihre Enkelin macht eine Ausbildung bei der BVG. „Dann fährt sie einen Bus wie meine Mutter.“

Aus finanzieller Sicht lohnt sich die Tour nicht. Gut 50 Euro nimmt Inge Schulze an diesem Abend ein, in der Spendendose klimpern ein paar Münzen. Auf das Geld scheint sie nicht angewiesen.

Irgendwann ist es genug

Fünf Uhr. Draußen zwitschern die Vögel, drinnen lachen die Gäste der „Minibar“ über Schulze. Die hat gerade eine Serviette in Herzform vom Kellner bekommen. „Ich heirate dich trotzdem nicht“, ruft sie. Die Menge johlt. Sie unterhält den kleinen Laden im Alleingang. Das ist ihre Bühne. Die Schrippenmutti ist ihre Rolle. Sie spielt sie einfach immer weiter. Jahr für Jahr. Bis zum Morgengrauen. Ums Verkaufen geht es nicht mehr. Die Kiste mit den Stullen steht abseits auf einem Tisch.

Irgendwann ist es genug. „War ne geile Runde“, sagt Schulze und startet die Ape. „Mit den jungen Leuten mach ich immer noch gern einen drauf.“ Dann fährt sie los. Das Licht hat sie vergessen einzuschalten. Es dämmert, das Dreirad ruckelt davon. Kein Blick zurück.

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