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Schornsteinfegermeisterin Jessica Baschin (41) mit ihrem Lehrling Enrico Schleede (17) bei der Messung an einer Gastherme in einem Wohnhaus in Berlin-Neukölln.

© Sven Darmer

Schornsteinfeger-Meisterin aus Berlin-Neukölln: Wie Jessica Baschin ein wenig Glück in die Schulklassen bringt

Jessica Baschin und ihre Kollegen pflegen die Traditionen der Schornsteinfeger. Ihnen geht es aber um mehr als Folklore, sondern auch um abgehängte Jugendliche

Fürs eigene Glück muss eine Schornsteinfegerin erfinderisch sein. „Die Leute drehen aus alter Tradition gerne an den Knöpfen meiner Jacke, um Glück zu bekommen“, erzählt Jessica Baschin. Dann fielen ihre Knöpfe aber oft ab, und sie musste sich neue kaufen. „Jetzt habe ich die Knöpfe an einem Schlüsselring innen in der Jacke befestigt, das hält.“

Die 41-Jährige bevollmächtigte Bezirksschornsteinfegerin aus Neukölln möchte gern auch dem Nachwuchs ein wenig Glück bringen. So engagiert sich die zweifache Mutter beim Projekt „Berliner Schulpate“. Dort besuchen Vorbilder Schulen, um Kinder für ein Leben als Berufstätige zu begeistern, statt später den Eltern ein vom Staat bezahltes Leben mit Transferleistungen nachzumachen.

„Eins, zwei, drei, vier, das Glück gehört mir“. Wer diesen Spruch aufsagt, dem erlaubt Jessica Baschin in der Regel, an einem der Knöpfe ihrer Kluft zu drehen.
„Eins, zwei, drei, vier, das Glück gehört mir“. Wer diesen Spruch aufsagt, dem erlaubt Jessica Baschin in der Regel, an einem der Knöpfe ihrer Kluft zu drehen.

© Sven Darmer

Jessica Baschin war zunächst skeptisch, ob so Projekt nicht eher etwas für die Oberschule sei. „Aber dann erinnerte ich mich daran, dass ich mir selbst gewünscht hätte, früh von Berufen zu erfahren, die Spaß machen, und bei denen man sein eigenes Geld verdient“. In der Grundschule seien die Kinder „noch sehr neugierig und wissbegierig“. Noch im November konnte die Schornsteinfegerin in ihrer schwarzen Kluft mit Kehrgerät und Kugel an der Gütekette zu den Mädchen und Jungen – in eine kleinere Gruppe, mit Maske und Lüften. „Wenn die Kinder den Beruf erst gar nicht kennen, dann aber Fragen stellen, und ich ihr Interesse spüre, geht mir das Herz auf“, sagt die Schulpatin.

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Jetzt ist im sechsten Jahr des Engagements der Berliner Schulpaten aber auch Corona eine Herausforderung. Die gGmbH ist eine Tochtergesellschaft der Handwerkskammer Berlin, das Projekt wird von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales gefördert und von der Gasag und der Berliner Volksbank finanziell unterstützt. In der Pandemie ist die Idee entstanden, künftig eine Kombination aus Schulbesuch und Online-Filmen anzubieten.

Schornsteinfegerin Jessica Baschin an ihrem Arbeitsplatz, einem Hausdach. Ihr Rat an den Lehrling: Rückwärts die Stufen hinabsteigen!
Schornsteinfegerin Jessica Baschin an ihrem Arbeitsplatz, einem Hausdach. Ihr Rat an den Lehrling: Rückwärts die Stufen hinabsteigen!

© Sven Darmer

„Dann könnten wir Frau Baschin bei der Arbeit am Schornstein auf dem Dach filmen, wo man sonst nicht hinkommt“, sagt Diplom-Kaufmann Arne Lingott. Der Leiter der Abteilung Betriebsberatung bei der Handwerkskammer ist Geschäftsführer von „Berliner Schulpate“ und hatte auch die Idee fürs Projekt mit dem Motto „Abenteuer Beruf“. Die kam ihm 2012 nach einem Besuch in einer Kreuzberger Grundschule. Auf die Frage nach den Berufswünschen hatten ihm einige Kinder ,Hartzer' geantwortet. „Das war ein Schlüsselmoment für mich, und ein Alarmsignal“, sagt Lingott.

Einige Schüler empfinden die Arbeitslosigkeit der Eltern als normal. Sie sehen ja, das auch ohne Arbeit die Wohnung bezahlt werde, die Krankenkasse, dass über den Berlin-Pass Klassenfahrten, Schulmaterialien und Mensa-Essen gratis oder vergünstigt seien, und zudem die Bargeldleistungen ausgezahlt werden.

Auch Baschin kam eher zufällig zu ihrem Beruf

Auch Jessica Baschin wusste nach der Schule erst nicht, was sie dann machen sollte. Dann sei ein Glücksfall gewesen, dass der Vater einer Freundin von seinem Beruf schwärmte. Nach der Ausbildung hatte sie eine Aushilfs-, dann eine Gesellenstelle, wurde Schornsteinfegermeisterin und übernahm schließlich ihren eigenen Kehrbezirk. Daher müsse sie jetzt auch viele Verwaltungsaufgaben erledigen, „aber immer wenn ich draußen bin, habe ich von den Dächern so schöne Ausblicke, wie sie kaum sonst jemand genießen kann“.

Die Rudowerin arbeitet seit 1996 als Schornsteinfegerin in Berlin, davon 20 Jahre in Neukölln. Ihre Meisterprüfung hat sie 2005 abgelegt, sich 2007 als Gebäudeenergieberaterin qualifiziert. Heutzutage als Frau einen Handwerksberuf auszuüben, könne sogar von Vorteil sein, findet Baschin. Denn manche bewunderten sie, wie sie bei Wind und Wetter auf den Dächern unterwegs ist. Früher sei das noch anders gewesen. „In den 90er Jahren wurde uns nichts zugetraut“. Im aktuellen Lehrjahr haben 32 Auszubildende ihre Lehre begonnen, jeweils zwei oder drei junge Frauen sind darunter. „Das ist bei 180 Betrieben ausbaufähig, finde ich.“ Sieben oder acht Frauen haben, wie Baschin, eigene Kehrbezirke.

Schornsteinfeger-Meisterin Jessica Baschin mit ihrem Kehrbesen an der Kette, um ihn in die Schächte hinabzulassen.
Schornsteinfeger-Meisterin Jessica Baschin mit ihrem Kehrbesen an der Kette, um ihn in die Schächte hinabzulassen.

© Sven Darmer

„Vor allem muss man lernen, den Mund aufzumachen“, sagt Jessica Baschin. Sie kann das. Als ihr Lehrling nach dem Fototermin für den Tagesspiegel auf dem Dach die Tritte heruntergeht, kommt die knappe Ansage: „Rückwärts.“ „Sorry“, sagt Enrico Schleede, 17. Er war abgelenkt. „Wenn man rückwärts heruntergeht, kann man sich im Notfall mit den Händen abfangen“, sagt die Chefin. Ein Lehrling erhält im ersten Ausbildungsjahr 700, im zweiten 800, im dritten 900 Euro. Das macht im ersten Jahr 559,47 Euro netto – der Hartz-IV-Regelsatz beträgt für Jugendliche bis einschließlich 17 Jahre 373 Euro.

[Lesen Sie hier eine Reportage über das Glück und eine Schornsteinfeger-Kollegin aus Berlin-Schöneberg aus dem Jahr 2013.]

Timo Nitschke, bei Jessica Baschin Geselle, arbeitet seit etwa drei Jahrzehnten. „Einer für alle, alle für einen“, steht auf seinem Dress. Schornsteinfeger? „Der spannendste Beruf der Welt. Ich treffe ständig Menschen, musste mal mit einem Boot zur Arbeit übersetzen, und im Krematorium habe auch schon mal den Schornstein gereinigt – das war hart.“

Familien Wege aus Harz-IV-Dauerbezug aufzeigen

Den Berliner Schulpaten liegt die Einbindung von Kindern aus Hartz-IV-Familien am Herzen, wie auch die Integration von Kindern Geflüchteter. Diese wachsen in Berlin nach Erfahrung von Helfern und den Arbeitsmarktzahlen meist ebenfalls bei Eltern auf, deren Unterkunft, Wohnung, Krankenkasse und andere Leistungen seit der Ankunft in Berlin vom Staat gezahlt werden. Wer eine Ausbildung macht oder regulär arbeiten geht, muss das Geld bis zur Höhe der staatlichen Zahlungen abgeben, oder bekommt im ersten Helferjob, mehr ermöglichen die Sprachkenntnisse oder erforderte Arbeitszertifikate oft noch nicht, sogar weniger Geld, als das Amt zahlt. Arbeiten muss man sich leisten.

Teamarbeit: Meisterin Jessica Baschin mit ihrem Lehrling Enrico Schleede (links) und dem langjährigen Gesellen Timo Nitschke (rechts).
Teamarbeit: Meisterin Jessica Baschin mit ihrem Lehrling Enrico Schleede (links) und dem langjährigen Gesellen Timo Nitschke (rechts).

© Sven Darmer

Laut Statistik haben 2020 etwa 240 junge Menschen mit einer Staatsangehörigkeit aus den acht häufigsten nichteuropäischen Asylzugangsländern eine Ausbildung ins Berlins Handwerk begonnen. 742 junge Menschen mit einer Staatsangehörigkeit aus den Ländern Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia oder Syrien sind im Berliner Handwerk in Ausbildung: seit dem 1. Januar 2015 haben 1377 junge Menschen einen Ausbildungsvertrag im Berliner Handwerk abgeschlossen.

Die Schulpaten arbeiten zur Zeit mit 27 Schulen zusammen, „in einem Schuljahr erreichen wir im Schnitt 1500 Kinder“, sagt Pressesprecherin Petra Wermke. Rund 250 Berufspatinnen und -paten wie Jessica Baschin sind jedes Jahr im Einsatz. Insgesamt waren seit Projektbeginn etwa 500 Berufstätige in Grundschulen von Brennpunktkiezen dabei. „Das heißt, mindestens 50 Prozent der Eltern erhalten Sozialleistungen“, sagt Arne Lingott, der Schulpate-Geschäftsführer. Erfolgs-Statistiken des Projekts könne es etwa aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht geben.

Schornsteinfegermeisterin Jessica Baschin geht nicht aus den Klassen heraus, ohne nicht jedem Kind einen kleinen Glücksbringer überreicht zu haben. „Eins, zwei, drei, vier, das Glück gehört mir“, sagen viele Berliner, wenn sie ihre Kleidung kurz berühren wollen. Woher der Glaube stammt, dass Schornsteinfeger Glück bringen? „Schon früher verhinderten wir Brände, weil sich in gesäuberten Schornsteinen kein Ruß entzünden kann, und waren gern gesehen.“ Daher gibt es heute auch Erwachsene, die sich in Gedanken an Silvester gern mit ihrem Team in schwarzer Kluft fotografieren lassen – für ein besseres 2021 als das aktuelle Coronajahr.

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