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„Hier kein S-Bahn-Verkehr in Ost-West-Richtung“ – vom 20. Juli 2009 an galt bei der Berliner S-Bahn ein Notfall-Fahrplan.

© Alina Novopashina/dpa

S-Bahnkrise vor zehn Jahren: Als die Berliner S-Bahn aus dem Gleis geriet

Am 20. Juli 2009 trat der Notfahrplan für die Berliner S-Bahn in Kraft. Sie geriet in die größte Krise ihrer Geschichte. Die Folgen sind noch heute spürbar.

Damals, 2008, da war alles gut bei der S-Bahn. Die Gewerkschaft Verdi hatte gerade wochenlang die BVG bestreikt, nur die S-Bahn fuhr. Am Ende des längsten Arbeitskampfes seit Jahrzehnten hatte BVG-Chef Andreas Sturmowski Sorgen, dass die Berliner sich dauerhaft abwenden könnten von seinen gelben Bussen und U-Bahnen. „Wir sind die Gewinner“, sagte dagegen ein gut gelaunter S-Bahn-Sprecher dem Tagesspiegel. Dann kam das Jahr 2009, das alles ändern sollte.

Die S-Bahn fuhr, ohne zu bremsen, ins Chaos – beziehungsweise aufs Abstellgleis. Nur noch 165 der 632 Viertelzüge waren einsatzbereit. Den Rest hatte die Aufsichtsbehörde zwangsweise stillgelegt, weil die S-Bahn bei der Wartung bewusst geschlampt hatte, um Kosten zu sparen. Der Aufsichtsrat feuerte Anfang Juli den gesamten Vorstand – übrigens alles Nicht-Fachleute. Am 20. Juli, also am heutigen Sonnabend vor zehn Jahren, trat ein Notfahrplan in Kraft.

Mehrere Linien wurden eingestellt, darunter die Stadtbahn zwischen Zoo und Ostbahnhof. Damals wusste noch keiner, dass dieser 20. Juli nur ein erster Tiefpunkt war, dem weitere folgen sollten. Aus dem S-Bahn-Chaos wurde die S-Bahn-Krise. Sie ist bis heute nicht vollständig überwunden. „Das Tal der Tränen hat länger gedauert, als wir gedacht haben“, erinnert sich S-Bahn-Chef Peter Buchner. Der gelernte Eisenbahner hatte Anfang Juli 2009, also mitten im Chaos, das Kommando übernommen.

Schon die arktische Kälte im Januar 2009 bereitete der S-Bahn Probleme, im Laufe des Jahres sollte es noch schlimmer kommen.
Schon die arktische Kälte im Januar 2009 bereitete der S-Bahn Probleme, im Laufe des Jahres sollte es noch schlimmer kommen.

© dpa

Ein Blick zurück. Der Januar 2009 war kalt, sehr kalt, an vielen S-Bahnen fror überraschend die Fahrsperre ein, ein sehr sicherheitsrelevantes Bauteil. Die Züge durften nur noch Tempo 40 fahren, mehrere Linien fielen tagelang aus. Die S-Bahn bat die Fahrgäste um Entschuldigung, die Chefs des Unternehmens wurden zur Anhörung ins Parlament zitiert. Man hatte angenommen, dass es ausreichend sei, das Bauteil alle zwei Wochen etwas einzusprühen.

In Kaulsdorf entgleiste am 1. Mai 2009 ein Zug

Als es wärmer wurde, tauten die eingefrorenen Fahrsperren von selbst auf. Dann kam der 1. Mai 2009. In Kaulsdorf entgleiste ein Zug. Das interessierte die Öffentlichkeit an diesem Tag nicht: In Kreuzberg wüteten Linksextremisten.

Der Radbruch an einem Zug der neuen Baureihe 481 wurde erst zwei Tage später bekannt, die S-Bahn redete die Schwierigkeiten klein. Der damalige S-Bahn-Chef Tobias Heinemann sah keine Probleme. Noch einmal mehrere Tage später forderte das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) als Aufsichtsbehörde zusätzliche Sicherheitsprüfungen: Alle Räder sollten alle sieben Tage überprüft werden – viel Arbeit.

Demontiert. Vor allem die Räder machten Probleme.
Demontiert. Vor allem die Räder machten Probleme.

© David Ebener/dpa

Am 29. Juni stellte das EBA fest, dass die Prüfungen nicht ansatzweise im geforderten Umfang erfolgt waren. Das EBA, eine Art Tüv für Schienenfahrzeuge, ordnete an, alle nicht untersuchten Züge am nächsten Tag außer Betrieb zu nehmen. 165 der 632 Viertelzüge – das sind Züge, die aus zwei Wagen bestehen – durften noch fahren. Die Zahl der fahrfähigen Viertelzüge wurde in der Folge fast täglich in den Zeitungen veröffentlicht.

Defekte Bremszylinder

Was im Januar die Fahrsperren und ab Mai die Räder waren, wurden im September die Bremszylinder. An der Baureihe 481 wurden Defekte an den Bremszylindern festgestellt. Ein neuer Notfahrplan trat in Kraft. Jetzt waren nur noch 163 von 634 Viertelzügen einsetzbar. Wiederum ruhte der Verkehr auf der Stadtbahn sowie am Stadtrand. So ging es auf und ab.

Mitte Oktober fuhren wieder Züge auf allen Strecken, jedoch mit ausgedünntem Fahrplan und verkürzten Bahnen. Für den 13. Dezember versprach die S-Bahn die Rückkehr zum Normalbetrieb – und scheiterte. Ende Dezember kam es noch schlimmer, 70 Viertelzüge mussten wegen Störungen an Türen und Antrieben aus dem Verkehr genommen werden.

Die Schuld an allem liegt im Rückblick hauptsächlich bei der Deutschen Bahn und ihrem Sparwahn. 1999 war Hartmut Mehdorn an die Spitze des Unternehmens gerückt – um es, wie von der Politik gewünscht, börsenfähig zu machen. Die Einnahmen konnte er kaum beeinflussen – aber die Kosten. Der Berliner S-Bahn als Tochter der Bahn wurde ein rigider Sparkurs verordnet und jährlich Geld aus dem Unternehmen abgeschöpft.

Züge nicht gewartet, Wartungsprotokolle gefälscht

2006 hatte die S-Bahn 3766 Beschäftigte, bis Ende 2008 waren es fast 900 weniger. Bekanntlich hatte die Bahn 2006 eine wichtige Betriebswerkstatt, nämlich die in Friedrichsfelde, geschlossen, mit der Begründung, die neuen Züge bedürften kaum noch einer Wartung. In den Werkstätten war die Zahl der Mitarbeiter von 760 im Jahr 2002 auf 454 im Jahr 2008 gesunken.

Seit 2004 wurden die Züge nicht mehr im notwendigen Umfang gewartet und sogar Wartungsprotokolle gefälscht. Deswegen hatte die Staatsanwaltschaft auch Ermittlungen aufgenommen, stellte diese aber im Sommer 2010 ein: Strafbar sei das nicht gewesen.

„Das Tal der Tränen hat länger gedauert, als wir gedacht haben“, erinnert sich S-Bahn-Chef Buchner, der 2009 das Ruder übernahm.
„Das Tal der Tränen hat länger gedauert, als wir gedacht haben“, erinnert sich S-Bahn-Chef Buchner, der 2009 das Ruder übernahm.

© Soeren Stache/dpa

Um Geld zu sparen, verschrottete die Bahn auch angeblich überflüssige Züge, sodass es weniger Reserven gab. Der Betriebsrat der S-Bahn hatte übrigens schon im Januar 2009 gesagt, die Probleme rührten vor allem von fehlendem Personal her. Immer wieder versprach die S-Bahn in den Folgejahren einen Normalbetrieb, immer wieder brach sie dieses Versprechen.

Auf die Baureihe 481 wird man noch lange nicht verzichten können

Selbst heute muss die S-Bahn ihre Waggons genauestens takten und Passagierzahlen kalkulieren. Die Werkstatt Friedrichsfelde ist neu und größer im Betrieb, viel Personal wurde eingestellt. Doch die Züge sind immer noch die gleichen.

2018 startete die S-Bahn eine „Qualitätsoffensive“, jedes anfällige Bauteil wurde unter die Lupe genommen. „Wir kennen unsere Fahrzeuge heute besser als alle anderen Eisenbahnunternehmen“, sagt S-Bahn-Chef Peter Buchner dem Tagesspiegel und seufzt. „Das hilft uns, wenn wir die Fahrzeuge noch länger betreiben wollen.“ Denn auf die Baureihe 481 wird man noch lange nicht verzichten können.

Zehn Jahre nach 2009 gibt es nun aber Hoffnung auf grundlegende Besserung. Wie berichtet fahren die ersten Prototypen der neuen Reihe 483/484 bereits zur Probe. Die Züge sollen ab Herbst in Berlin auch auf dem Ring, aber noch ohne Fahrgäste getestet werden. 85 Halbzüge mit vier Wagen (Baureihe 484) und 21 Viertelzüge (483) sind bestellt für den Ring und die Zulaufstrecken aus Südost. Der erste Zug mit Fahrgästen soll am 1. Januar 2021 morgens um 4 Uhr starten – da ist sich der Chef sicher.

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