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Rundgang im Berliner Zoo: An Winterschlaf ist nicht zu denken

Im Moment gehört der Berliner Zoo den treuesten Besuchern. Ein Rundgang zur Winterzeit - mit historischen und aktuellen Bildergalerien.

Ivo hat die Faxen dicke. Lange genug hat er, die Lippen zusammengepresst, die beiden Männer ertragen, die ihn unverwandt anstarren. Auch an seine drei Frauen haben sie sich mit ungebührlichem Winken und Fuchteln rangemacht. Jetzt reicht’s. Mit zwei Sätzen ist er bei ihnen und lässt seine Hand so wuchtig gegen die Scheibe donnern, dass die beiden Alpha-Männchen davor ganz kleinlaut werden. „Dem möchte man nicht im Dunkeln begegnen“, murmelt einer der beiden. Der Gorilla setzt sich an den Rand und beobachtet aus den Augenwinkeln, wer ihm sonst noch den Vorrang streitig machen möchte.

Nebenan bei den Zwergschimpansen führt die Chefin Yala die Geschicke ihrer Gruppe. Bonobos sind berühmt für ihre unverkrampfte Sinnlichkeit. Minutenlang kuschelt und schmust Mutter Opala mit ihrem Kind Likemba. Sie streicheln sich gegenseitig Kopf und Rücken, kitzeln sich unter den Achseln, zupfen sich ausgiebig das Fell. Dann geht ein Männchen dazwischen und wird scharf zurechtgewiesen. Meinungsverschiedenheiten unter den Bonobos sind häufig, sie werden jedoch gleich darauf mit sexuellen Gefälligkeiten befriedet, wobei sie ihre Gesichter einander zuwenden. Mancher Besucher sieht das mit einem versonnenen Seufzen, auch wenn diese Begegnungen nur wenige Sekunden dauern. Drüben die Nashörner lassen sich mehr Zeit: „Während der Begattung bleibt der Bulle bis zu 60 Minuten aufgeritten“, verkündet eine Infotafel.

Mit einem indischen Nashorn begann die legendäre Tierliebe der Berliner. Im April 1742 kam ein früher Star auf seiner Tournee durch Europa auch nach Berlin. Die Berliner, allen voran Friedrich der Große mit seinem Gefolge, strömten zu den Fischständen am Spittelmarkt, um die Sensation namens Clara zu bestaunen. Hundert Jahre später wurde der Zoo angelegt, mit besonders breiten Wegen, damit auf der „Lästerallee“ die Berliner Damen mit ihren Krinolinenkleidern sich nicht ins Gehege kamen.

Die besondere Verbundenheit der Berliner mit ihrem Zoo rührt von gemeinsam erlittenen Bombennächten im Krieg her, den nur 91 Tiere überlebten. Darunter auch das Flusspferd Knautschke, für den die Berliner sich in den Hungerjahren das Brot vom Munde absparten, um es ihm später ins weit geöffnete Maul zu werfen. Knautschke dankte es ihnen, indem er eine wahre Dynastie begründete. Die Namen seiner Nachkommen verkünden in aller Welt die Schönheit der Berliner Sprache: Klops, Molle, Schrippe, Bulette, Stulle. Noch heute ist die Knautschke- Skulptur blank gescheuert von tausend Kinderhänden. Das Schild davor meldet lakonisch: „Im Alter von 43 Jahren verstarb er nach einer Auseinandersetzung mit seinem Sohn Nante.“

Doch auch eine heiße Liebe kann witterungsbedingt abkühlen. „Lass uns weitergehen“, sagt eine Dame bei den Eisbären. „Hier kriegste nur Eisbeene.“ Zurück bleibt die kleine Schar der Knut-Liebhaberinnen, die von anderen Stammbesuchern nachsichtig „Groupies“ genannt werden. Jede von ihnen blickt auf eine langjährige, intensive Beziehung mit Knut zurück und kennt sich in all seinen Regungen aus; und so manche, da sie nun mal Berlinerin ist, weiß besser Bescheid als die andere. Heute aber stehen sie einträchtig beisammen und diskutieren über das schielende Opossum Heidi im Leipziger Zoo. „Nun stell dir mal vor, Knut hätte als Baby auch geschielt!“

Jetzt im Winter liegt eine eigenartige Stille über den Wegen. Im Tierpark tauchen die Trampeltiere im Morgennebel auf, im Zoo legen die kanadischen Wölfe ihre Köpfe in den Nacken und ihr gemeinsames Heulen weht weithin über die leeren Wege. Im Raubtierhaus heben die Erdmännchen die Köpfe und halten Ausschau nach Besuchern. Nur wenige sind unterwegs; vor allem russische und italienische Touristen, die in kleinen Gruppen durch den Zoo streifen. Dick vermummte Kinder werden zu den Seehunden und Flusspferden geführt.

An Winterschlaf ist dennoch nicht zu denken. Nur die Murmeltiere haben sich in ihren Bau zurückgezogen und schlafen dem Frühling entgegen. Die Biber dösen aneinandergedrängt in ihrem Schlafraum. Die Braunbären halten zumindest Winterruhe und blinzeln nur gelegentlich in die grauen Tage. Dafür sind Schwärme von Saatkrähen aus Russland eingeflogen und nutzen Zoo wie Tierpark als Futterquelle. Ein Marabu, die Schultern missmutig hochgezogen, beäugt ihr Treiben.

Die Weihnachtsbäume, die zuletzt auf unseren Bürgersteigen lagen, werden übrigens nicht, wie alle Eltern ihren Kindern versichern, an die Elefanten verfüttert. Die Elefanten bekommen nur solche Bäume, die nicht verkauft worden sind, und rupfen genüsslich Zweig um Zweig. Auch die Löwen schätzen Weihnachtsbäume ihrer ätherischen Öle wegen. Die beiden Löwenbabys Nathan und Miron bekommen noch das Fläschchen und einige Brocken Fleisch. Da die Mutter nichts mit ihnen anzufangen wusste, toben und balgen zwei Pfleger mit den Kleinen. Beim Schlag einer kindlichen Pranke zuckt der eine schon zusammen. Sie ziehen zum ersten Mal Löwenkinder auf und wissen noch nicht genau, wann mit dem Balgen Schluss sein wird: „Na ja, wenn es das erste Mal richtig wehtut.“

Die treuesten Besucher sind bei den Affen zu finden; sie kommen seit Jahren fast täglich, einige sind gleich um neun da, wenn der Zoo öffnet. Unter der resoluten Vorherrschaft einer Dame bilden sie eine eigene Gruppe, die mit der der Tierpfleger konkurriert. Sie wünschen sich Gitter statt der Scheiben, um mit ihren Lieblingen besser reden und spielen zu können; sie würden ihnen gern Leckereien und Schlafanzüge mitbringen. Heute hat eine von ihnen das Titelblatt einer Zeitung dabei, auf dem Likemba prangt. Sie zeigt es ihm: „Guck doch mal, bist in der Zeitung!“ Eine andere ist seit Jahren eng mit der alten Gorilladame Fatou befreundet. Zur Begrüßung strecken sie sich gegenseitig die Zungen heraus, und es ist nicht ganz klar, wer wen in der Einsamkeit tröstet. Die Pfleger sehen solche Beziehungen nicht gern, wenn sie die Tiere von ihrer sozialen Gruppe ablenken. „Aber die freuen sich doch“, sagt eine Besucherin. „Die erkennen einen, geben Küsschen, drücken den Bauch gegen die Scheibe!“

Die anthropologische Differenz verschwimmt hier ein wenig. „Wir Menschen sind auch Menschenaffen“, stellt Dr. Kühne klar, doch vermutlich ahnen die Schimpansen und Orang-Utans nicht, dass ihre Verwandten imstande sind, BVG-Doppeldecker zu steuern, wie sich auf dem Vorplatz des Zoo beobachten lässt. Der Silberrücken Ivo thront mittlerweile auf einen Baumstumpf, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Sein Blick schweift von oben herab über die letzten Gäste. „Der sitzt da wie ein Lehrer“, sagt ein Mädchen. Vermutlich wird sie am Vormittag in der Schule noch einmal an ihn denken. Wenn die Besucher um 17 Uhr gehen, kehrt allmählich Ruhe ein. Die Affen lassen den Tag ausklingen und richten sich in ihren Nestern ein. Sie wissen: Morgen kommt die Verwandtschaft wieder zu Besuch.

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