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Als Kind hat der Journalist Andreas Ulrich lange auf der Fischerinsel (hier mit Blick auf den Historischen Hafen) gelebt. Jetzt hat er seiner alten Schulklasse nachgeforscht und nachträglich viel Überraschendes erfahren.

© Doris Spiekermann-Klaas

Rückkehr auf die Fischerinsel: Mit Aussicht

Als Schüler lebte Andreas Ulrich in einem der damals neuen Wohntürme. Jetzt hat er über seine alte Klasse ein berührendes Buch geschrieben.

Erdbeben in Berlin? Gibt’s doch gar nicht. Der Vulkan, der vor 290 Millionen Jahren hinter der nördlichen Stadtgrenze Lava gespuckt haben soll, längst erloschen, unter uns keine ineinander verhakten tektonischen Platten, nur ruhig vor sich hindämmernder märkischer Sand – was soll da schon beben? Und doch, es hat gewackelt, ganz anständig sogar, am 15. September 1976. Davon hat der damals 16-jährige Andreas Ulrich nichts bemerkt, schon deshalb nicht, weil er in dem 18-Geschosser der Fischerinsel Nr. 6 nur im ersten Stock wohnte. Sein Klassenkamerad Andreas aus der Nr. 1 aber in der 15. Etage, da schwankt so ein Betonriese auf unruhigem Grund schon ganz anders, und der hat es Ulrich, mittlerweile Journalist und Moderator beim rbb, dazu Buchautor, bei der Recherche zu dessen neuem Band „Die Kinder von der Fischerinsel“ erzählt.

Ulrich wollte es erst nicht glauben, recherchierte, stieß tatsächlich auf Meldungen, dass es an jenem Tag ein Beben in Italien gab, das habe sich bis nach Berlin fortgepflanzt. Und falls noch immer jemand zweifelt: Während Ulrich gerade vor Nr. 6 steht und die Wohnverhältnisse seiner Kindheit erläutert – dort die Fenster der beiden Kinderzimmer, um die Ecke die von Wohn- und Schlafzimmer –, kommt zufällig Doris Hildebrandt um die Ecke, die Mutter des erdbebenerprobten Andreas, die nun selbst in Nr. 6 wohnt. Großes Hallo erst mal, ist ja klar, begeistertes Lob für das Buch, und prompt kommt auch sie aufs Erdbeben zu sprechen. Sie erinnert sich gut, war damals gerade von der Arbeit gekommen, hatte sich ein Bier gegönnt, als plötzlich das Haus zu schwanken begann. Huch, das sei aber ein starkes Bier, habe sie erst gedacht. Doch bald bekam sie mit, was los war. Irgendwelche Schäden? Keine, aber bei Bekannten, einige Straßen weiter, sei das Aquarium übergeschwappt.

Eine kleine seismologische Nebenerkenntnis, die Andreas Ulrich beim Weg zurück in die eigene Vergangenheit verbuchen konnte. Vielleicht nicht die spannendste, aber immerhin. Seine Neugier wirklich beflügelt hat vielmehr die Möglichkeit, für das Buch den in seiner alten Klasse versammelten, ihm damals oft verborgenen, dann über die Jahrzehnte spannend sich fortschreibenden Lebensgeschichten nachzuspüren. Und dabei konnte er selbst, in den eigenen Erinnerungen wie den Erzählungen der anderen, an den Ort zurückzukehren, wo er über viele Jahre gelebt hatte, an dem er nur noch achtlos vorbeifuhr, obwohl der doch die damaligen Kinder von der Fischerinsel, also auch ihn, irgendwie geprägt haben musste, so seine Vermutung vor Beginn der Spurensuche.

Vom Fischerkiez zur Fischerinsel

Wieso eigentlich Fischerinsel? Das muss an dem Berufszweig gelegen haben, der vor Jahrhunderten das Leben auf dem südlichen Teil der von Spree und Spreekanal gebildeten Insel geprägt hatte. Offiziell wurde der Name erst 1954, vorher sprach man vom Fischerkiez, einem ärmlichen Viertel mit verwinkeltem Alt-Berliner Charme. Der wurde in den frühen Siebzigern von der Ost-Berliner Administration weggeräumt und durch sieben Wohntürme in Plattenbauweise, zwei Kitas, eine Schwimmhalle und die unvergessene, nach der Jahrtausendwende abgerissene Großgaststätte Ahornblatt ersetzt.

Andreas Ulrich hat die alte Bebauung teilweise noch gesehen, als er im Herbst 1970 mit den Eltern und den drei Geschwistern auf die Fischerinsel zog, aus einer riesigen Altbauwohnung mit Ofenheizung nahe Rosenthaler Platz in die neuen zentralgeheizten 75 Quadratmeter, verteilt auf vier Zimmer. Heute ein kaum mehr vorstellbarer Tausch, aber damals galt die Fischerinsel als Wohnparadies und lockte eine auch für Ost-Berliner Verhältnisse sehr bunt gemischte Mietergemeinschaft an. Da oben habe Markus Wolf, Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes, gewohnt, erzählt Andreas Ulrich beim Spaziergang durch sein altes Viertel, hat von dessen Tochter fürs Buch sogar ein Foto erhalten, auf dem ihr Vater in aller Seelenruhe den Kinderwagen mit seiner Enkelin über die Fischerinsel schiebt, zu einer Zeit, als seine Konkurrenz im Westen noch nicht mal wusste, wie ihr Hauptgegner überhaupt aussah.

Besuch im gelben Sportwagen

Auch wo die Dichterin Sarah Kirsch gewohnt hat, weiß Ulrich natürlich, die als Helikoptermutter gerne mit Fernglas den tief unter ihr im Kindergarten spielenden Sohn Moritz kontrollierte. Und neben seinem Haus habe oft der gelbe Sportwagen, ein Wartburg-Melkus, des Volksschauspielers Herbert Köfer geparkt, den man, so tuschelten die Nachbarn, besonders häufig in Begleitung junger Damen sah.

Doch, an Prominenz war auf der Fischerinsel kein Mangel, auch nicht an dem, was jenseits der Mauer als Multikulti galt. Den ersten Zugriff auf die Wohnungen hatte der Ministerrat für höhere Staatsbedienstete und Funktionäre, während das Dienstleistungsamt für ausländische Vertretungen Diplomaten aus der großen weiten Welt vermittelte. Der Rest wurde vom Wohnungsamt Normalbürgern zugewiesen. Wer dort hartnäckig genug vorsprach wie Andreas Ulrichs Mutter, bekam eben seine Chance.

Doch so bunt die Gesellschaft in diesem Biotop gerade durch die vielen Ausländer mit ihren exotisch anmutenden Wohn- und Esskulturen auch war, wie sehr sie, wie Ulrich meint, die Kinder von der Fischerinsel auch prägte, ihnen eine gewisse Weltläufigkeit vermittelte, da sie das Leben als vielfältiger erlebten, als es in der eher homogenen DDR-Gesellschaft sonst möglich war – viele Geheimnisse haben sich ihm erst jetzt erschlossen, und manches, was er sich als Junge fantasievoll zusammengereimt hatte, erwies sich als Irrtum, noch immer bunt und spannend, doch anders als vermutet.

Zum Beispiel Ann-Maren, die wie er selbst beim Einzug in die Klasse 5a der 15. Polytechnischen Oberschule gekommen war und deren Schicksal ihn besonders erschüttert hat. Geboren war sie in Rostock, ihr Nachname endete skandinavisch auf -son – eine Schwedin, wie der kleine Andreas, in das blonde Mädchen heimlich ein bisschen verknallt, folgerte.

Als Kind gehörte Andreas Ulrich zu den ersten Bewohnern der Hochhäuser auf der Fischerinsel.
Als Kind gehörte Andreas Ulrich zu den ersten Bewohnern der Hochhäuser auf der Fischerinsel.

© Doris Spiekermann-Klaas

Schwedin, Ausländerin also? Von wegen. Es gab immerhin einen schwedischen Urgroßvater, Ende des 19. Jahrhunderts eingewandert. Die Eltern aber waren Offiziere beim Ministerium für Staatssicherheit, arbeiteten an der Ostseeküste in einer Funkbeobachtungsstelle, daher der Geburtsort Rostock. Von alldem und den weiteren Stationen ihres Lebens, etwa als Leiterin der Änderungsschneiderei des Centrum-Warenhauses am Ostbahnhof und nach der Wende bei einer Versicherung, erfuhr Ulrich erst von ihrem älteren Bruder Sven. Ihre erste Ehe war gescheitert, in einem Mann aus dem Westen, Typ Hochstapler, wie sich dann erwies, glaubte sie ihren Traum von der großen Liebe erfüllt. Ein tragischer Irrtum: Ihr Geld hatte er genommen, ein Haus gekauft, ohne sie jedoch mit ins Grundbuch eintragen zu lassen. Als nach zwei Jahrzehnten eine neue Frau auftrat, waren Mann, Geld, Haus weg, der Traum vom gemeinsamen Leben dahin, woran Ann-Maren zerbrach. Sie nahm sich das Leben.

Neue Nachbarn aus dem Westen

Noch eine weitere Mitschülerin lebt nicht mehr, Annette, Tochter der Schauspielers Wolfgang Kieling, der samt Familie aus West- nach Ost-Berlin umgesiedelt war, sich aber bald einer neuen Frau zuwandte. Bis auf Sport war Annette in allen Fächern Einser-Kandidatin, das machte sie dem jungen Andreas irgendwie unheimlich. Und vor allem: Wieso aus West-Berlin? War nicht gerade üblich.

Vor zehn Jahren ist Annette  nach schwerer Krankheit gestorben, befragen konnte Ulrich nur noch ihren Halbbruder Florian Martens, Schauspieler wie sein Vater. Von dem hatte dieser erst erfahren, als er in der Schule über den ihm unbekannten, in den Osten übergesiedelten Westschauspieler „Tieling“ einen Vortrag gehalten hatte und seiner Mutter stolz davon erzählte. Da war es Zeit, ihm die Wahrheit zu verraten: Kieling heiße er, nicht Tieling, und es sei sein leiblicher Vater.

Andreas Ulrich: Die Kinder von der Fischerinsel. be.bra Verlag, Berlin. 224 Seiten, 41 Abbildungen, 20 Euro
Andreas Ulrich: Die Kinder von der Fischerinsel. be.bra Verlag, Berlin. 224 Seiten, 41 Abbildungen, 20 Euro

© be. bra Verlag

Insgesamt 35 Schülerinnen und Schüler waren in Ulrichs Klasse, 16 biografische Texte hat er aus den Ergebnissen seiner Recherche herausgefiltert – eine Sammlung durchweg spannender, überraschender, berührender, alles in allem überaus faszinierender Lebensläufe, mitunter auch jenseits des engen Rahmens der Schulklasse. Seine eigene Biografie taucht eher indirekt und beiläufig auf, er sei schließlich der Erzähler, erklärt Ulrich. Aber manches erfährt man eben doch: dass er mit 13 Jahren das erste Mal richtig geknutscht hat, mit Caro aus seiner Klasse, woran diese sich freilich nicht mehr erinnert; oder dass er schon in der sechsten Klasse erklärt hatte, er wolle mal „Schorrnalist“ werden, was in seiner Lehrerin – sie lebt noch immer auf der Fischerinsel, oben in Nr. 6 – große Heiterkeit auslöste, er wisse ja garantiert nicht mal, wie man das schreibt. Da habe sie wohl recht gehabt, gibt Ulrich zu, geschafft hat er es aber trotz des kleinen orthografischen Handicaps: erst Volontariat beim Radio in Berlin, Journalistikstudium in Leipzig, Reporter und Moderator beim Berliner Rundfunk, Jugendradio DT 64, später beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg – dann rbb, hier bei Radio Eins, unter anderem als Moderator der Sportsendung „Arena Liga Live“.

Und schließlich ist er eben auch Buchautor, hat bereits der Berliner Geschichte am Beispiel der Bewohner der Torstraße 94 nachgeforscht, des Hauses, in dem seine Familie vor dem Umzug 1970 wohnte, und nun eben am Beispiel der Kinder von der Fischerinsel. Wie er die alle ausfindig gemacht hat? Er selbst war mit Anfang 20 dort weggezogen, später verließen seine Eltern die Fischerinsel. Aber in den späten 90er Jahren gab es ein Klassentreffen, und hinterher bekam jeder ein Adressenliste zugeschickt, nur mit Festnetznummer und Wohnanschrift. Das half jetzt weiter, samt Online-Recherche in den Einwohnermeldeämtern der zuletzt bekannten Wohnorte.

Durch das Buch entstand die Idee zu einem erneuten Klassentreffen, über ein halbes Jahrhundert nachdem die nun weit verstreute Gemeinschaft sich zusammengefunden hatte. Wer das Treffen organisieren soll? Na, wer wohl.

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