zum Hauptinhalt

Berlin: Rosi Sonnenthal (Geb. 1922)

„Du bist schwul!“ - „Und du bist die Liebe meines Lebens!“

Es lohnt sich alles noch bei Ihrer Mutter“, meinten die Ärzte, und sie meinten es gut. Rosi war nicht lebensmüde. Bis zuletzt nicht. Der Hausfriseur kam wie immer alle vier Wochen, schnitt und färbte und ließ sie dann alleine föhnen. Sie färbte ihre Haare gern rot, Mahagoni-Kupfer um genau zu sein. Akkuratesse schätzte sie. In allem. Das war ihr angeboren. Wie die unbedingte Liebe für alles Schöne. Schon als Kind durfte sie den Altar schmücken, Wiesenblumen mochte sie besonders. Froh und frisch sollte es sein, nichts Exaltiertes. Auch in der Mode. Obwohl sie aus der Provinz kam, machte sie in Berlin immer eine gute Figur.

Sie musste ja auch früh auf sich achten. Als sie 14 war, starb die Mutter an Tuberkulose. Rosi durfte nicht ans Krankenbett, Ansteckungsgefahr. Die Stiefmutter, die rasch ins Haus gekommen war, verbrannte das alte Bettzeug vor der Tür. Die drei großen Geschwister kamen allein zurecht, aber um ihren kleinen Bruder Otto musste sich Rosi kümmern. Sie begann eine Lehre bei der Stadtverwaltung, was sie sehr beliebt machte, im Krieg, als die Zwangsarbeiter in Hünfeld einquartiert wurden, darunter viele sogenannte Halbjuden aus Berlin. Eine Munitionsfabrik sollte gebaut werden. Kontakt war verboten, aber es gab keine Kontrollen. Rosi ließ sich ohnehin nichts vorschreiben. Der Hunger der Männer rührte sie. Claus konnte besonders bedürftig dreinsehen, da wurde aus Mitleid schnell mehr. Liebe auf den ersten Blick, sagte er immer, sie sah das nüchterner. Er hatte eine tropfende Nase, sie reichte ihm ein Taschentuch. Und etwas zu essen. Mit Butterbroten hat sie alle Mann versorgt, was bei Strafe verboten war. Claus mühte sich redlich um Rosi, er schrieb wundervolle Briefe, sie öffnete ihr Herz, und kurz nach der Befreiung wurde Brigitte gezeugt und geheiratet. Große Pläne: Die beiden wollten ein Kino betreiben, Helios-Lichtspiele, der Eröffnungsfilm „Die Glocken von Saint Marie“ sollte die neue Zeit einläuten, aber die Währungsreform machte das Wirtschaften nicht für alle leichter. Also zogen sie zu seinen Eltern.

Der Vater von Claus und seine „arische“ Frau hatten in Berlin überlebt, was ein Wunder war. Die Hausbewohner in der Saalfelder Straße 6 hatten ihn nicht verraten, auch keiner seiner juristischen Kollegen. Aber die Sorge um den Sohn hatte die Eltern zermürbt. Dann der Brief: Claus geht es gut, und Lebensmittelpakete kamen an, und die Enkeltochter wurde annonciert und bald darauf ein Enkelsohn. Die Hochachtung für die Schwiegertochter kannte keine Grenzen. Die für den eigenen Sohn schon, denn er machte sich davon, nach Paris. Studieren, hieß es. Rosi war vom Lande, aber sie war nicht auf den Kopf gefallen. Sie schnappte sich Tochter und Sohn, packte die Zinkbadewanne voll mit ihren Habseligkeiten und zog bei einer Offizierswitwe und deren Sohn ein. Eine alte Dame wohnte auch noch im hinteren Zimmer. Mit Rosi zog ein Mann ein, nennen wir ihn Heinz, „Halbjude“, Zwangsarbeiter wie Claus, knapp der Gestapohaft entronnen. Er arbeitete bei den Amerikanern und versorgte Rosi mit dem Nötigsten. Aber es reichte hinten und vorne nicht. Rosi fing an zu stricken, doch die Wilmersdorfer Witwen waren pingelig, und geizig zuweilen. Da ging sie lieber auf den Markt am Kolberger Platz, verkaufte Kaffee und Schokolade, akkurat abgewogen. Als dann der Senat um Mitarbeiter warb, fand Rosi eine Stelle in der Wehrmachtsauskunftsstelle, Referat 5, Marine. „Was wurde aus meinem Mann, meinem Sohn, meinem Bruder?“ Bei jeder Anfrage wird sie an ihren großen Bruder Anton gedacht haben, ein hübscher Junge, der mit 19 gefallen war. Nicht ein Knopf blieb von seiner Uniform.

Die neue Liebe war keine glückliche. Er hatte ständig Affären. „Du bist die Schönste, die Beste, die Frau meines Lebens“, beteuerte er immer, aber eben nicht die einzige. Eine glücklichere Zeit begann, als sie Horst traf, nennen wir ihn so, denn er war verheiratet und mochte seine Frau nicht verlassen. Aber mit ihm konnte sie reden. Sie war ja nicht auf den Mund gefallen, Gewerkschafterin war sie, Personalrätin, am 1. Mai immer auf den Beinen, „Sozitante“ hieß es in der Verwandtschaft. Bei einer Fortbildung verliebte sie sich in Horst, den Vortragenden. Mit ihm konnte sie reden, über alles, mit ihm ging sie ins Theater, in Ausstellungen. Zehn glückliche Jahre.

Die Kinder wurden größer, die Wohnung leerer. Das Geld war knapp, also wurden zwei Zimmer vermietet. Die ersten Untermieter, zwei Türken, ein kleiner Kräftiger vom Lande, Erol, ein großer Schlaksiger aus Istanbul, Aka, beide studierten und stibitzten hin und wieder aus der Speisekammer. Wofür sie sich mit knoblauchschweren Eselswürsten entschuldigten, wenn die Essenspakete aus der Heimat kamen. Ein Grieche zog ein, ein Spanier, Frauen und Männer aus der ganzen Welt. Schließlich Patrick, ein junger Mann aus Chicago, der Kunst studieren wollte. Er blieb eineinhalb Jahre und lud sie nach Chicago ein. Die beiden gingen auf große Tour, in den Staaten und in Europa. „Patrick, du bist schwul!“ – „Und du, Rosi, bist die Liebe meines Lebens!“

Als Rosis Mann starb, meinte die Tochter im Scherz: „Jetzt kannst du wieder heiraten!“ Da lachte sie. Fünf Jahre später gab sie Patrick in Miami ihr Jawort. Er hat gesagt: „Dank dir kann ich zu mir stehen.“ Sie meinte nur: „Wenn es mir mal nicht gut geht, dann musst du aber nach Berlin kommen und dich um mich kümmern.“ Sie war 73, als sie sich dieses Eheversprechen gaben. Beide haben sich daran gehalten.

Zur Startseite