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Roma in Neukölln: Von einem, der sich kümmert

Für viele Roma ist Benjamin Marx von Gott gesandt. Er kümmert sich um sie. Er hat das Haus in Neukölln gekauft, in dem viele von ihnen leben. Aber das reicht ihm nicht. Jetzt ist er im Bus nach Rumänien gefahren. Denn auch er denkt, dass er einen Auftrag von Gott habe.

Benjamin Marx sitzt in der ersten Reihe eines silbernen Reisebusses. Vor sich sieht er staubige Straßen, niedrige Häuser, manche unverputzt, manche mit Türmchen und bonbonfarben wie kleine Schlösser. Wenn es ihm darauf ankäme, könnte er auch ein paar neue Autos sehen und sehr viel mehr alte.

Aber auf diese Dinge kommt es Benjamin Marx nicht an. Er ist wegen etwas anderem in das rumänische Dorf Fantanele gereist. Seine Bewohner wissen in diesem Moment vielleicht sogar besser als er selbst, was es ist. Vor allem Kinder säumen den Straßenrand und winken dem Bus zu, sie laufen hinterher, sobald er vorbeifährt. Die Menschen rufen, doch im Bus ist davon wegen des Rauschens der Klimaanlage nichts zu hören. Auf 23 Grad ist die Temperatur im Inneren heruntergekühlt. Wie warm es draußen ist, zeigt eine andere Anzeige im Bus: 38 Grad. Fünf Minuten braucht der Bus, um zur Mitte des Dorfes zu gelangen, und die Dorfbewohner laufen. Dann kommt die Prozession zum Stehen.

Benjamin Marx, ein kleiner, rundlicher Mann, Mitte 50, mit grau-blondem Bart und gütigen Augen, steigt aus. Er ist zum ersten Mal hier. Und mitgebracht hat er 20 Deutsche und Rumänen, die ihn nach Fantanele begleiten, von Berlin aus, wo der Bus Tage vorher losgefahren ist. Sofort ist Marx umringt von den Kindern und Erwachsenen, die eben noch hinter dem Bus gelaufen sind. Alle reden auf ihn ein, auf Romanes, der Sprache der Roma. Marx versteht nichts, lächelt nur, zündet sich eine Zigarette an und schlendert die Straße hinunter. Wieder alle hinterher. Die Deutschen und die Rumänen aus dem Bus und die Roma aus dem Dorf.

Irgendwann stellt eine ältere Frau mit Kopftuch und eingefallenen, ledrigen Wangen einen Stuhl in den Schatten eines Baumes und bittet Benjamin Marx mit einer Handbewegung, sich zu setzen. Der Tross stoppt. Sofort ist Marx wieder umringt, ganz dicht bei ihm jetzt die Frau mit dem Kopftuch. Sie blickt ihm in die Augen, sagt ein paar Worte. Daraufhin jubeln die anderen.

„Sie hat gesagt“, übersetzt eine der rumänischen Begleiterinnen, „wenn Sie wollen, dass wir Sie wählen, dann wählen wir Sie.“ Marx wüsste nicht, dass er sich zu einer Wahl gestellt hat. „Und: Wir beten jeden Sonntag für sie.“ Er lächelt. Dann nähern sich einige jüngere Frauen und legen ihm nacheinander ihre Babys in den Arm, jemand bringt kaltes Wasser und Cola.

Für die Bewohner von Fantanele, 35 Kilometer nordwestlich von Bukarest, ist Marx ein von Gott Gesandter. Beinahe jeder in Fantanele hat einen Verwandten, der nach Berlin ausgewandert ist und dem Benjamin Marx dort eine Wohnung vermittelt hat, manchmal sogar Arbeit und immer Respekt.

Marx arbeitet für die Aachener Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft, eine Firma der katholischen Kirche, er ist dort Projektleiter. Seine Mission als Gesandter Gottes begann vor einem guten Jahr, als er ein heruntergekommenes Wohnhaus in der Harzer Straße in Neukölln kaufte. In dem lebten mehr als 400 Roma und ein paar Deutsche. Vor Marx wurde das Haus in der Presse „das Rattenhaus von Neukölln“ genannt. Denn Müll bedeckte zeitweise den ganzen Innenhof.

Dann kam Marx und mit ihm das einhellige Urteil: vorbildliches Integrationsprojekt. Er lässt derzeit nicht nur das gesamte Gebäude und jede einzelne der 137 Wohnungen sanieren, ohne die Mieten über den Mietspiegel zu heben. Er beschäftigt auch viele Roma als Bauarbeiter, Hausmeister, Putzleute und für die Kinderbetreuung. Außerdem bietet er Gratisdeutschkurse und soziale Beratung auf Rumänisch an. Und er holt Nicht-Roma als Mieter ins Haus, um kein Ghetto zu schaffen, zum Beispiel die Mitglieder einer katholischen Gemeinschaft aus Frankreich, deren Aufgabe es ist, Nächstenliebe zu leben.

Nur die Bewohner der umliegenden Häuser beschweren sich manchmal, wenn die Roma im Hof grillen. Und manchmal spielt ein Nachbar Nazilieder. Wenn das passiert, rufen Marx oder seine Mitarbeiter sofort die Polizei.

„Wir bauen Häuser für Menschen“, ist einer von Benjamin Marx’ Lieblingssätzen.

Nicht nur die Roma freuen sich darüber, auch die Politik. Die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung erklärte, das Projekt erinnere daran, dass die Integration von Roma gesellschaftlich erwünscht sei. Der Präsident des Zentralrats der Sinti und Roma, Romani Rose, sagte, das Haus in der Harzer Straße gebe ihm Hoffnung. Vom Neuköllner Rathaus wird das Haus als Modellprojekt dargestellt. Die BBC porträtierte Marx und sein Projekt in einem Beitrag mit dem Titel „Warum Roma jetzt nach Berlin wollen“.

Man kann den Eindruck bekommen, Marx ist der einzige. Tatsächlich stoßen die Roma so gut wie überall auf Ablehnung. 20 000 von ihnen leben in Deutschland. Über Europa verstreut sind es 20 Millionen. Gerade erst hat die Polizei in Frankreich ein Roma-Lager mit Bulldozern geräumt, auch die neue sozialistische Regierung schiebt rumänische Roma-Familien ab. Und laut Allensbacher Institut wollen 68 Prozent aller Deutschen nicht neben einer Zigeunerfamilie wohnen. In Berlin gibt es nach Angaben von Roma-Vereinen kaum Hausverwalter, die an Roma vermieten, weshalb viele in Bruchbuden leben, die sonst keiner will, zu überhöhten Preisen.

Natürlich hat auch Benjamin Marx eine Renditevorgabe: Nach vier Jahren soll das Haus vier Prozent Gewinn machen; bis dahin genügen zwei Prozent. Üblich sind auf dem Berliner Immobilienmarkt bis zu neun Prozent. Das ehemalige Ratten- und jetzige Modellhaus ist für das katholische Unternehmen vor allem ein Imageprojekt. Das ist es auch für Benjamin Marx. Am 14. September wird die Verwandlung des Hauses in ein Vorzeigeprojekt offiziell gefeiert. Klaus Wowereit soll dabei sein, Kardinal Rainer Maria Woelki und Fernsehsender aus der ganzen Welt.

Benjamin Marx ist nicht nur für die Roma-Familien aus der Harzer Straße ein Gesandter Gottes und für ihre Verwandten in Rumänien, die fast alle einer Pfingstgemeinde angehören. Auch er selbst ist überzeugt, dass Gott ihm den Auftrag gegeben hat. Das ahnte er schon, als er das Haus in der Harzer Straße das erste Mal betrat. Da war es wieder, dieses Lebensthema, das ihn seit Kindertagen prägt.

In der Schule war sein Religionslehrer Pastor Arnold Fortuin gewesen, der Oskar Schindler der Sinti und Roma, der Hunderte von ihnen vor den Nazis rettete. Zu so jemandem blickt man auf.

Allerdings wollte Marx das Haus zunächst nicht kaufen. Er vergleicht sich gern mit Jonas aus dem Alten Testament, dem Gott eine Mission sandte, vor der er in den Walfischbauch floh, und die er aber schließlich doch annehmen musste. Das Haus in der Harzer Straße ist heute nach Arnold Fortuin benannt. Marx nimmt seinen Auftrag mittlerweile sehr ernst.

Deshalb ist er auch, wie die Roma es täten, mit dem Bus von Berlin nach Fantanele gereist. 36 Stunden dauerte es, mit dem Flugzeug wären es vier gewesen. Marx will herausfinden, ob er noch mehr tun kann für die Roma, nicht nur in der Harzer Straße, sondern in ganz Europa. Er fängt mit Rumänien an, mit dem Land, aus dem seine Roma kommen.

Nachdem er in Fantanele das zehnte Baby im Arm gehalten hat, steht er auf und sieht seine Begleiter an. Da sind eine ganze Familie aus der Harzer Straße, seine persönliche Assistentin, die Mitarbeiterin eines Roma-Hilfsvereins, vier junge Künstler, die gerade ein Wandbild an die Fassade des Hauses in der Harzer Straße malen, und ein Fotograf. Und im Schatten des Baumes sitzt Diana Stavarache, 35, eine kleine, rundliche Roma mit freundlichem Lächeln im Gesicht, die mit ihrem Mann und den sieben Kindern in einer Drei-Zimmer-Wohnung in der Harzer Straße wohnt und dort nachmittags die Kinder in einem Gemeinschaftsraum im Keller des Wohnhauses betreut. Marx’ Blick auf all diese Leute malt jetzt ein Fragezeichen in die Luft. Dann erkundigt er sich nach dem Bürgermeister und der Lehrerin. Er will wissen, welche Probleme es im Dorf gibt, wieso die Menschen weggehen.

Die ältere Dame mit der ledrigen Haut schüttelt den Kopf. Weder Bürgermeister noch Lehrerin sind da.

Die Delegation zieht wieder von dannen. Im Gehen sagt Benjamin Marx: „Wir müssen die beiden anrufen, sobald wir wieder in Deutschland sind.“ Er ist ein bisschen enttäuscht darüber, dass er in Fantanele nichts vorangebracht hat. Am Tag zuvor hat er in Bukarest zwei Gespräche geführt, mit denen er zufriedener ist.

Am Vormittag war ein Treffen mit dem Antidiskriminierungsbeauftragten der rumänischen Regierung anberaumt. Der Beamte, um die 40, grau-brauner Topfschnitt und weißes Poloshirt, saß bei 38 Grad im letzten Zimmer des obersten Stockwerks eines Gebäudes, das ein Relikt aus dem Kommunismus ist und eine Kulisse für eine moderne Version von Franz Kafkas „Der Prozess“ sein könnte. Die Klimaanlage funktionierte nicht. Diana Stavarache war ebenfalls dabei, gemeinsam mit ihren Eltern. Die drei hatten sich herausgeputzt, die Frauen mit Kleidern, der Vater mit einem beigen Anzug. Außerdem war da der Fotograf, die Assistentin, die Mitarbeiterin des Roma-Vereins, ein Künstler…

Der Antidiskriminierungsbeauftragte bat Marx und seinen Tross an einen größeren Tisch, eine weißblonde Helferin mit roten Lippen musste ein paar Mal den Raum verlassen, um Stühle zu holen. Dann erzählte der Beamte stolz, wie er kürzlich dem rumänischen Präsidenten eine öffentliche Entschuldigung abgerungen hat, nachdem der eine Abgeordnete als „dreckige Zigeunerin“ beschimpft hatte. Es sei das erste Mal gewesen, dass ein Politiker einen rassistischen Spruch zurückgezogen habe. Und irgendwann gab der Beauftragte zu, dass sein Posten nur geschaffen worden ist, weil das Bedingung war für den EU-Beitritt. Sonst benutzte er oft das Wort „schwierig“ und „langsam“. Es ging darum, was Rumänien gegen die Diskriminierung von Roma tut.

Im Land leben nach inoffiziellen Schätzungen 1,5 Millionen Roma, sie sind nach den Ungarn die größte Volksgruppe in Rumänien und zum großen Teil sozial benachteiligt: Die Arbeitslosigkeit unter den Roma ist am höchsten, auch die Analphabetenrate. Und immer wieder kommt es zu Ausschreitungen gegen Roma.

Am Ende des Gesprächs lud Marx den Antidiskriminierungsbeauftragten für den 14. September nach Berlin ein. Der sagte zu, und Marx war zufrieden.

Später traf Marx und seine Delegation den Präsidenten des größten Roma-Hilfsvereins von Rumänien. Über eine Stunde lang erzählte der, wie kompliziert es sei, EU-Gelder für Projekte zu bekommen, weil man mit der Regierung in Bukarest zusammenarbeiten muss, die korrupt sei, weshalb wenig Geld sehr spät bei den Vereinen ankomme.

Marx hörte seiner Übersetzerin aufmerksam zu und blickte dabei den Vereinspräsidenten über den Goldrand seiner Brille an. Irgendwann sagte er, „wir müssen die EU unbürokratischer machen. Wir müssen die Politiker dazu bringen, Geld direkt an die Vereine zu vergeben.“ Und dann versprach er: „Ich werde versuchen, darüber mit ein paar Leuten zu sprechen. Da wird sich etwas ändern.“

Am Ende des Gesprächs lud er auch den Präsidenten des Roma-Vereins für den 14. September nach Berlin ein, auch der sagte zu, und Marx freute sich.

Vielleicht braucht es Utopisten, um überhaupt etwas zu bewegen? Vielleicht versetzt der Glaube tatsächlich Berge? Vielleicht braucht es aber auch gar nicht so viel, um Gutes zu tun?

Am vorletzten Abend der Reise durch Rumänien ist Benjamin Marx mit seinem Tross bei den Schwiegereltern von Diana Stavarache zum Essen eingeladen in einem Vorort von Bukarest mit vielen schmalen, niedrigen Einfamilienhäusern, von denen die wenigsten fertig gestellt sind. In Rumänien wohnen kaum Menschen zur Miete, fast jeder baut ein eigenes Haus, und je nach Einkommen kann sich das sehr lange hinziehen. Auch das dreistöckige Haus der Familie von Diana Stavarache befindet sich bis auf das Erdgeschoss noch im Rohbau, in den oberen Stockwerken fehlen sogar die Wände. Bevor sie nach Berlin auswanderte, lebte Diana Stavarache hier mit ihrer Familie, den Schwiegereltern und ein paar Schwägerinnen und Schwägern.

Jetzt ist der Hof des Hauses voller Menschen. Fünf Frauen tragen Teller mit Tomatensalat, Polenta und Krautwickel aus der Küche zu dem weißen Plastiktisch, um den die Delegation aus Berlin sitzt. Fünf Männer stehen um einen Grill herum. Nur Diana Stavarache, ihre Eltern und die Schwiegereltern sitzen mit den Besuchern aus Deutschland am Tisch.

Marx fragt, wieso die Roma weggehen aus Rumänien.

Diana Stavarache antwortet, sie sei glücklich gewesen hier in Bukarest. Und dass sie nur nach Berlin gegangen sei, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten.

Hatte sie sich denn als Roma benachteiligt gefühlt?

Schulterzucken.

Oder hatte sie sich daran gewöhnt, dass Roma abgelehnt werden in Rumänien, wo viele, sobald sie einen Ausländer kennen lernen, klarstellen, dass sie keine „Gypsys“ sind?

Schulterzucken.

Später sagt Diana Stavarache: „Ich freue mich so sehr, dass Sie meine Heimat und meine Familie kennen lernen.“ Sie sieht ihn an, als könne sie sein Interesse an ihr und ihrem Land gar nicht fassen. Marx hat schon viel erreicht.

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