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Da steht er nun und kann nicht anders.

© Luca Ellena

Rollt bei ihm: Warum geklaute Einkaufswagen in Berlin jetzt Kunst sind

Sie hängen in Laternen oder liegen nutzlos rum: Luca Ellena hat mehr als 700 Einkaufswagen fotografiert. Ihn begeistert ihre Ästhetik – und die Konsumkritik.

Zieht man aus der ländlichen Schweiz in die Großstadt, sieht man Dinge, die Einheimischen entgehen. „Es war schon ein krasser Kontrast“, sagt Luca Ellena, der 2017 zum Fotografie-Studium aus der Nähe von Fribourg nach Berlin kam. Bald sei ihm aufgefallen, dass Menschen hier alles Mögliche auf die Straße stellen, Sofas, Fernseher, Bücherkisten – dankbares Material für Straßenfotografen.

Zwischen all dem Hausrat finden sich auch zahlreiche Einkaufswagen, die schnell zum eigenen Sujet avancierten und jetzt einen Fotoband mit dem schlichten Titel „Einkaufswagen“ (96 Seiten, 28 Euro, erschienen im Kerber Verlag) füllen. „Einkaufswagen fand ich in erster Linie ästhetisch spannend“, sagt Ellena.

Ihre Erscheinung hat etwas Grafisches, mit feinen, wie mit dem Bleistift gezogenen Linien, aber auch grellgelben, grellroten, grellorangenen Farbtupfern. Mal hängen sie irgendwo an Straßenlaternen, stehen mit Müll befüllt vor Graffitikulissen oder liegen kopfüber in Parks.

Sie alle erzählen Geschichten vom Berliner Leben, die zu entschlüsseln Aufgabe des Betrachters bleibt. „Es gibt natürlich auch obdachlose Menschen, die geradezu in ihnen wohnen. Normalerweise aber sind die abgestellten Wagen vollkommen nutzlos, sobald sie aus ihrer eigentlichen Funktion gelöst werden. Und die besteht eigentlich in der Gewinnmaximierung, also dem Supermarktkunden zu ermöglichen, mehr einzukaufen, als er mit bloßen Händen zur Kasse tragen könnte.“

Schon das Ästhetische ist politisch

Die kapitalismuskritische Dimension sei zwar nicht von Anfang an Motivation des Projektes gewesen, wohne ihm aber naturgemäß inne. Aber schon die Ausgangsebene, das Ästhetische, ist politisch, sagt Ellena. Man denke an eine Politik der Sinne oder den Begriff Aufmerksamkeitsökonomie. „Wenn man mit Berlinerinnen und Berlinern über abgestellte Einkaufswagen spricht, fällt auf, dass sie die schon gar nicht mehr wahrnehmen. Sie scheinen dermaßen ins alltägliche Stadtbild integriert zu sein, dass man irgendwann für sie blind wird. Es hat auch niemand verstanden, weshalb ich ausgerechnet Einkaufswagen fotografiere.“

Der Fotograf Luca Ellena im Berliner Schillerkiez
Der Fotograf Luca Ellena im Berliner Schillerkiez

© Jascha Müller-Guthof

Wie hoch der Grad der Abstumpfung gegenüber den Wagen ist, belegen die Zahlen: In seinen Streifzügen durch die Berliner Straßen hat Ellena innerhalb von etwas über zwei Jahren an die 700 Einkaufswagen geschossen – nicht nur Bilder, sondern wirklich unterschiedliche Wagen.

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Das macht im Schnitt einen neuen Wagen alle zwei bis drei Tage, der niemandem mehr auffällt. Und das allein in den Gegenden um Wedding, Moabit und Mitte, wo sich ein Großteil von Ellenas Berliner Alltag abspielte. „Ich fand sie vor allem in weniger herausgeputzten Wohngegenden sowie an stark belebten Straßen, wie der Weddinger Müllerstraße. Eben da, wo auch viele andere Objekte auf die Straße gestellt werden.“

Zwischen nachbarschaftlicher Tauschkultur und Wegwerfgesellschaft

Des einen Müll ist des anderen Schatz – in vielen Berliner Straßen ist das Credo unübersehbar zur Maxime erhoben. Allerdings ist längst nicht alles, das mit der Aufschrift „zu verschenken“ für sich wirbt, schenkenswert. Im Regen abgestellte Sofas mit Stoffbezügen, verschlissene Schuhe, lieblos in einen Karton geworfen, der selber besser in der Papiertonne gelandet wäre. Elektroschrott, der im Regen rostet und giftige Metalle ans Berliner Grundwasser abgibt.

Wenn offensichtlicher Müll unter dem altruistischen Vorwand abgeladen wird, zeugt das kaum von nachbarschaftlicher Solidarität. Der Grat zwischen freundlich kieziger Tauschkultur und dekadenter Wegwerfgesellschaft ist schmal. Und die Einkaufswagen illustrieren das, auch wenn sie selbst gar nicht Teil dieser Kreisläufe sind. Denn bei den Wagen handelt es sich streng genommen um Diebesgut.

Mehrere Hundert Einkaufswagen werden dem Online-Portal Weddingweiser zufolge jährlich allein im Schillerpark-Center geklaut und dann achtlos irgendwo stehengelassen. Ellena ist nicht der Erste, der den Einkaufswagen für die Kunst entdeckt hat.

Erst kürzlich, im ersten Lockdown, wurde in einem Bremer Park die menschengroße bronzene Skulptur eines Seniors mit Einkaufswagen anonym aufgestellt – Kunst in Coronazeiten. Künstler wie Helmut Hennig, Sylvie Fleurie oder Duane Hanson waren sich der Symbolkraft des Einkaufswagens schon bewusst und kommentierten mit ihm den Konsum auf unterschiedliche Weisen.

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Ellenas Ansatz ist ein anderer. Als Straßen-Fotograf hat er seine Einkaufswagen nicht extra aus den Supermärkten holen müssen, sondern innerhalb ihrer realen Kontexte fotografiert. Und eben aus denen beziehen sie ihre romantisch sehnsüchtige Strahlkraft.

Fotograf aus Langeweile

Das Fotografieren war Ellena gewissermaßen in die Wiege gelegt, zwischenzeitig sogar lästig. „Mein Vater ist Pressefotograf – oft musste ich als Kind auf ihn warten, bis er seine Technik eingepackt hatte oder irgendwo einen Fototermin hatte.“ Die Kombination aus langweiliger Wartezeit und verfügbarer fotografischer Ausrüstung führte Ellena zu ersten eigenen fotografischen Versuchen.

Dieser Einkaufswagen transportiert nichts mehr.
Dieser Einkaufswagen transportiert nichts mehr.

© Luca Ellena

Bis heute sind kaum Menschen in seinen Bildern zu sehen. „Ich interessiere mich mehr für die Auswirkungen und Spuren der Menschen als für die Menschen selbst.“ Und weil Menschen besonders gern Bilder von Menschen betrachten, studiert er zurzeit, wieder in Fribourg, Kommunikationswissenschaften – um sich ein zweites Standbein aufzubauen. „Werbefotografie ist nichts für mich, und andere Jobs als Fotograf sind eher schwierig. 60 Prozent Angestelltendasein, 40 Prozent Kunst, das kann ich mir gut vorstellen“.

Was nach einem Kompromiss klingt, kann befreiend sein: Wenn man finanziell unabhängig von der Kunst ist, muss man sich keine Gedanken um den Kunstmarkt machen, kann spielerisch mit der eigenen Arbeit umgehen. „Ich kenne einige, die allein von der Kunst leben. Wenn man einmal etwas geschaffen hat, das sich verkauft, versucht man schnell, es immer zu wiederholen“, sagt der Fotograf. Die eigene künstlerische Entwicklung oder gar der Bruch mit dem eigenen Stil fällt dann schwer.

Voraussetzung für die Unabhängigkeit ist, dass man eine Anstellung findet, die zulässt, dass man keine allzu großen karrieristischen Ambitionen an den Tag legt. Gerade das ist im Kapitalismus vielleicht nicht ganz so leicht.

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