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Das Paar aus Berlin wartet auf die Impfung.

© Sven Darmer

Risikopatienten zuerst?: Warum dieser Berliner für die Impfung seiner Frau demonstriert

Ein Mann hat Angst um seine Frau: Sie ist besonders gefährdet, sich mit Corona zu infizieren. Doch ihr Fall hat keine Priorität. Warum

Jürgen Schulze-Ksinzyk versteht die Welt nicht mehr: Seit gut zehn Jahren wird seine 61-jährige Frau Ilona als Folge eines unverschuldeten Fahrradunfalls in einer Wohngemeinschaft in Tegel intensiv-pflegerisch von ambulanten Fachkräften betreut. Sie ist tracheotomiert, verfügt also über einen künstlichen Zugang zur Luftröhre, und zählt damit für ihren Ehemann zu den Menschen mit einem besonders hohen Risiko, sich mit Corona zu infizieren.

Diese Einschätzung teilt auch Norbert Suttorp, Leiter der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie an der Charité: „Da die eingeatmete Luft weder durch die Nase gereinigt noch befeuchtet wird, besteht ein erhöhtes Infektionsrisiko bei Tracheotomierten.“

Trotz ihrer Vulnerabilität gehört Ilona Ksinzyk aber aufgrund ihres Alters derzeit nur zu der dritten Gruppe der Impfberechtigten mit „erhöhter Priorität“, es kann also noch mehrere Monate dauern, bis sie bei den Corona-Schutzimpfungen an der Reihe ist. „In den Pflegeheimen werden derzeit alle Bewohner geimpft, auch die, denen es gesundheitlich gut geht“, sagt Schulze-Ksinzyk.

Da die über 600 ambulanten, teilweise intensiv-pflegerisch betreuten Wohngemeinschaften für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf in Berlin rein rechtlich aber keine stationären Pflegeeinrichtungen sind, kommen die mobilen Impf-Teams hierhin nur mit Einzeldosen für die über 80-Jährigen. „Dabei leben in den Pflege-WGs ebenfalls überdurchschnittlich viele stark schutzbedürftige Menschen“, empört sich Schulze-Ksinzyk, der seine Frau seit über zehn Jahren täglich besucht, sie betreut und mit ihr Ausflüge unternimmt.

Nun hat der 71-jährige Spandauer einen Brief an Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) geschrieben, in dem er sie auffordert, „die nicht nachvollziehbare Ausgrenzung hoch vulnerabler Menschen in Intensivpflege-WGs von den Impfungen mit Priorität 1“ zu beenden. In dem Schreiben, das dem Tagesspiegel vorliegt, berichtet Schulze-Ksinzyk auch von einem ihm bekannten Fall in Berlin-Buch, wo vier von zwölf Bewohnern einer Intensivpflege-WG an oder mit einer Covid-Infektion gestorben seien.

Braucht es eine neue Impfpriorisierung?

Auch Christina Brandt vom Träger Renafan, der neben der Wohngemeinschaft, in der Ilona Ksinzyk lebt, noch fünf weitere Intensiv-WGs in Berlin mit rund 60 Bewohnern betreut, ist unzufrieden mit der aktuellen Situation: „Die Impfpriorisierung müssten dringend überdacht werden. Schwerstkranke Menschen sollten in gleicher Weise prioritär behandelt werden wie alte Menschen“, so Brandt.

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Derzeit gehören Menschen, bei denen etwa durch Herz-, Nieren-, Leber- oder Autoimmunerkrankungen ein erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf nach einer Infektion mit dem Coronavirus besteht, ebenfalls erst zur Gruppe 3 der Impfberechtigten.

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Suttorp, Spezialist für Infektions- und Lungenkrankheiten, an der Charité hält eine umfassendere Ausweitung der Impfprioritäten für dringend notwendig: „Die aktuelle Priorisierung allein durch den Faktor Alter benachteiligt zahlreiche jüngere Menschen mit hoher Vulnerabilität zum Beispiel nach Organtransplantationen, mit Krebs- oder Autoimmunerkrankungen“, sagt Suttorp.

In Rheinland-Pfalz wurde ein 30-Jähriger geimpft

Dass Spielräume möglich sind, zeigte kürzlich eine Entscheidung in Rheinland-Pfalz: Hier wurden der 30-jährige Hochrisikopatient Benni Over und seine Eltern gegen Corona geimpft, nachdem sie sich mit zahlreichen Protesten unter anderem an Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) gewandt haben. Einen Tag später änderte die Ständige Impfkommission ihre Impfempfehlung, darin ist nun ausdrücklich von möglichen „Einzelfallentscheidungen“ die Rede.

Die aktuelle generelle Unterteilung in die verschiedenen Prioritätengruppen, die von Bund und Ländern vorgenommen worden war, ändert dies nicht. In Berlin werde jedoch derzeit die Rechtslage geprüft, ob sowohl vulnerable Personengruppen als auch die Bewohner von Pflege-WGs zukünftig priorisiert geimpft werden könnten, teilte die Senatsverwaltung für Gesundheit dem Tagesspiegel auf Anfrage mit. Ein Hoffnungsschimmer für Menschen wie Ilona Ksinzyk.

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Suttorp plädiert dafür, dass die Bundes- und Landesärztekammer für eine gerechtere Regelung eintritt und beschleunigte Impfungen vulnerabler Patienten zum Beispiel durch eine Bescheinigung des betreuenden Fach- oder Hausarztes ermöglicht werden. „Wenn der Impfstoff von Astrazeneca, der ja bei normaler Kühlschranktemperatur transportiert und aufbewahrt werden kann, verfügbar ist, sollte zeitnah auch eine Impfung von Risikopatienten durch den betreuenden Arzt möglich sein“, sagt Suttorp.

So lange möchte Schulze-Ksinzyk aber nicht warten. Er hat große Angst, dass all das Kämpfen um das Leben seiner erst 61-jährigen Frau durch eine mögliche Corona-Infektion vergeblich gewesen sein könnte. Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, plant Schulze-Ksinzyk daher in den nächsten Tagen eine „Mini-Demonstration“ am Impfzentrum im Weddinger Erika-Heß-Stadion.

Eva Steiner

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