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Berlin: Reuven Moskovitz (Geb. 1928)

Immer schon ging es bei ihm ums Überleben

Die Menschheit“, spottete Reuven, „verhält sich wie der im Zug fahrende Jude, der bei jedem Bahnhof unzufrieden seufzt. Schließlich gerät er in Panik. Auf die Frage, warum er so stöhne, antwortet er: ‚Wie soll ich nicht stöhnen, wenn ich bei jedem neuen Bahnhof merke, dass ich in die falsche Richtung fahre?‘ “

Warum kehrt er nicht um? Die Frage ist schwer zu beantworten, denn sie betrifft uns alle. Warum tun wir Dinge, die wir längst als unrichtig erkannt haben?

Wo immer Menschen sind, gibt es Zwietracht und Krieg. Seit Kain und Abel herrscht Streit ohne Unterlass. Warum? Natürlich wusste Reuven, wie naiv so eine Frage klingt. Aber das macht eine Antwort nicht verzichtbar. Denn es geht ums Überleben. Immer schon ging es bei Reuven Moskovitz ums Überleben.

Zur Welt kam er in Frumusica, ehemals „ein kleines, nicht besonders schönes, nicht besonders sauberes und auch nicht besonders glanzvolles Schtetl“ in Rumänien, das den Kindern am schönsten schien, wenn viel Schnee gefallen war. Reuven war ein kränklicher Knabe, musste oft gestillt werden, und so überkam die Tante der böse Geist, und sie hielt ihn beim Baden lange unter Wasser, aber er begann, um sein Leben zu strampeln und zu schreien, und das Herz der Tante schlug heftig vor Reue.

Reuven war nicht kleinzukriegen. Ein wenig ein Schelm. Er stellte gern Unfug an, und er lief den Mädchen nach, kaum da er auf eigenen Beinen stehen konnte. Er hatte ein gutes Gedächtnis, eine schöne Stimme und eine Gabe fürs Musikalische. „Eines Tages nahm ich eine Geige und versucht auf ihr zu spielen. Zu meiner großen Überraschung kam dabei tatsächlich eine Melodie heraus.“ Mit der Mundharmonika erging es ihm ähnlich. Er hörte die Musik, und er spielte die Musik. Was seinen Lehrer nicht sonderlich verwunderte: „Um so schlecht zu spielen, muss man nicht besonders begabt sein.“ In der Schule ging es streng zu, überhaupt war das Leben im Schtetl kein Zuckerschlecken, weil der Hunger und die Not alle zu Egoisten machten. Nur Schadenfreude gab es umsonst. „Wenig anderes machte den Menschen in unserm Schtetl mehr Spaß, als einen sogenannten Klugen dumm und klein zu machen und ihn auszulachen.“ Ein anderes Lachen als das in „Anatevka“, aber ein gemeinsames Lied, das jeder für sich summte: „Wenn ich einmal reich wär“. Oder studieren könnte. Aber das blieb ein Traum für Reuven.

Als Rumänien 1940 in Folge des Hitler-Stalin-Paktes Bessarabien und den Norden der Bukowina an die Sowjetunion abtreten musste, ermordeten die Soldaten auf dem Rückzug aus diesen Gebieten wahllos Juden, weil sie ihnen die Schuld für die nationale Demütigung gaben. Die Familien wurden auf Staatsgeheiß aus ihren Dörfern vertrieben, zu Tausenden in Zwangslager verschleppt, die Auslieferung an die Deutschen war schon in Planung. Als der Diktator Ion Antonescu allerdings nach Stalingrad begriff, dass Hitler den Krieg verlieren würde, wurden die Deportationen gestoppt.

Nach dem Ende der Militärdiktatur schien sich vieles zum Guten zu wenden. Aber je stärker der Einfluss der Sowjetunion wurde, desto schlechter erging es den Juden. Reuven war mit seiner Familie ins Schtetl zurückgekehrt. Die Sehnsucht nach den Hügeln, Flüssen und Wäldern der Moldau war ihm geblieben, sonst nichts. Auch den Glauben an Gott hatte er verloren. Im Schtetl gab es kein Leben mehr, keine Bibliothek, keine Religionsschule, alle träumten davon, wegzugehen ins gelobte Land, für die einen war es Amerika, für die anderen Palästina.

Im Krieg hatte Reuven seine Familie durch Diebstähle ernährt. Er war klein und dünn, aber er hatte eine laute Stimme und verstand sich durchzuschlagen. Nun, da Frieden war, organisierte er Sommerlager für die Kinder und schulte sie für eine bessere Zukunft. „Wir sangen hebräische Lieder über unser Traumland Erez Israel, den Aufbau des Landes, den siegreichen Kampf und die schöne Landschaft, und tanzten den berühmten israelischen Tanz Hora, der eigentlich ein rumänischer Tanz ist.“ Als Jude wie als unorthodoxer Kommunist machte er sich bei den neuen Machthabern schnell unbeliebt, nur mit knapper Not entkam er 1947 nach Palästina.

Das Leben im Kibbuz war für ihn ein großes Glück. Er konnte sich jeden Tag satt essen, er hatte sein eigenes Zelt, alle Bücher, die er brauchte. Aber er begann, Fragen zu stellen. Die Palästinenser waren die Eigentümer des Landes gewesen, auf dem sie nun siedelten. Es wurde ihnen genommen. „Wer aber ist schon bereit, freiwillig seine Heimat aufzugeben?“

Als Reuven in der Mittagspause in der Ruine eines verlassenen Hauses Schatten suchte, stand plötzlich ein arabischer Mann vor ihm. Beide erstarrten. „Nun stand ich als Sieger vor einem Menschen in Todesangst – in seinem eigenen geplünderten Haus.“ Dieses Bild ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Er zog nach Jerusalem und wurde Geschichtslehrer. Aber da er seine Schüler dazu ermahnte, die Ängste beider Seiten zu sehen, wurde er schnell zur missliebigen Person. Damals kam er das erste Mal nach Berlin, dank eines Stipendiums, und lernte die „Aktion Sühnezeichen“ kennen. Wenn die Juden sich mit den Deutschen aussöhnen konnten, warum dann nicht auch mit den Palästinensern?

Nach seiner Rückkehr begann er für „Neve Shalom“, die Oase des Friedens, zu arbeiten, ein kleiner Kibbuz, offen für alle Gläubigen, Moslems wie Juden. Er stellte sich zu den mutigen „Frauen in Schwarz“, die seit 1987 jeden Freitag in Jerusalem an einer Straßenkreuzung, unweit des Sitzes des israelischen Premierministers, ein Ende der israelischen Besatzung fordern: „Stop the Occupation“.

Im Jahr 2010 fuhr er als Passagier auf dem kleinen Segelschiff „Irene“ Richtung Gazastreifen mit. Es sei für ihn „eine heilige Pflicht“ als einer der Überlebenden des Holocaust, „gegen die Verfolgung, das Einsperren und die Unterdrückung so vieler Menschen“ in Gaza zu protestieren. Natürlich wurde er beschimpft dafür. Der immer gleiche Vorwurf, das Besondere der jüdischen Not nicht zu begreifen. Aber er hielt dagegen: Es wird keinen Frieden durch Krieg geben. In den 70 Jahren seines Bestehens führte Israel acht Kriege, über 50 000 Menschen kamen dabei ums Leben. Viel zu viele Tote, viel zu viele Flüchtlinge.

Unruhig wie er war, verließ er die „Oase des Friedens“ und begann ein neues Leben als Busfahrer und Reiseführer, der Juden und Araber gemeinsam durch Europa fuhr, vier Länder in vierzehn Tagen. Nicht immer nur zu den Kulturstätten, sondern gern auch zu „Woolworth“ und „C & A“. Konsum eint. Und wann immer Reuven in Deutschland war, bevorzugt in seiner zweiten Heimat Berlin, ließ er keine Gelegenheit aus, für eine Versöhnung im Nahen Osten zu werben. Berührungsängste kannte er nicht. So bat er den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, energischer zwischen Juden und Palästinensern zu vermitteln. Auf dem evangelischen Kirchentag 1992 erkämpfte er sich das Podium, indem er vorgab, auf seiner Mundharmonika Friedensweisen spielen zu wollen. Was er dann auch tat, aber zuvor rühmte er die „Frauen in Schwarz“ und den israelischen Friedensaktivisten Abi Nathan, der sich für einen ehrlichen Dialog mit den Palästinensern einsetzte. Reuvens Platz war zwischen allen Stühlen, da stand er recht ungezwungen und äußerte lauthals seine unbequemen Wahrheiten: „Es gibt keinen Frieden und keine Sicherheit für Israel ohne Freiheit und Frieden für die Palästinenser.“

Unterstützer fand er dafür in Berliner Regierungskreisen wenige, zu viele Skrupel. Die Frage, ob sich Deutsche „angesichts der großen Schuld gegenüber den Juden kritisch über Politik und Sicherheitserwägungen Israels äußern“ dürfen, beantwortete er mit einem klaren „Ja“. Es muss, so betonte Reuven in seinem Erinnerungsbuch „Der lange Weg zum Frieden“ immer wieder, „eine bedingungslose Solidarität Deutschlands mit der Existenz des Staates Israel geben, nicht jedoch eine bedingungslose Solidarität mit der israelischen Politik“.

Er wurde belächelt, verspottet, verunglimpft und geehrt. Im Jahr 2003 erhielt er gemeinsam mit der Palästinenserin Nabila Espanioly den Aachener Friedenspreis, wofür er sich mit der Geige bedankte. Zehn Minuten lang spielte er Weisen aus dem Schtetl, deutsche Volkslieder und arabische Melodien. Wie naiv, werden sich viele insgeheim gedacht haben. Denn natürlich sind sie alle viel klüger als Reuven Moskovitz, und alle wissen viel besser als er, was zu tun und was zu glauben ist. Und deswegen wird das Töten nie enden.

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