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Die Stadt ist für die Menschen da: Cafés sollen mehr Raum einnehmen dürfen.

© Jörg Carstensen/dpa

Restauranttisch oder Parkplatz?: Revolution auf dem Berliner Bürgersteig

Der Nachbar beschwert sich über einen Cafétisch auf einem Parkplatz. Das ist gestrig. Die Stadt wird gerade neu gedacht. Eine Kolumne.

In dem Café um die Ecke, wo ich jeden Morgen die Nachrichten lese, haben sich zwei übermütige Tische auf die Straße gewagt und knabbern vorsichtig, ganz am Rand, ein paar Zentimeter Asphalt an. Die junge Besitzerin, die so sehr fürchtete, wegen des Lockdown das Café ganz schließen zu müssen, hat diese zwei zusätzlichen Tische aufgestellt, um so viel Kundschaft wie möglich bedienen zu können, bevor das schlechte Wetter zurückkommt. Ein Kasten mit wilden Blumen, der hohe Kastanienbaum, das breite Trottoir, die sanfte Luft …

Ich denke an Paris und Wien, diese Städte aus Stein und Asphalt mit ihren engen Bürgersteigen (1,40 Meter ist die vorgeschriebene Breite in Frankreich) und den Autos, die fast die Fußgänger streifen, an den dauernden Verkehrslärm. Berlin ist ein Stück Paradies. Doch schon bald werde ich daraus vertrieben.

Denn schon nähern sich drei Polizisten. Ein Mann, zwei Frauen. Ein Nachbar hat sich beschwert: Die zwei Tische blockieren einen öffentlichen Parkplatz! Der Herr Denunziant ist ganz besonders mutig und hat zum Hörer gegriffen. Persönlich an Ort und Stelle auf zivilisierte Weise mit der Cafébesitzerin sprechen? Kommt nicht in Frage!

Der junge Polizist ruft den Nachbarn an, versucht, ihn zu beschwichtigen, ihn zur Vernunft zu bringen. Es handele sich doch nur um eine winzige Parklücke, die beiden Tischchen würden niemanden stören. An den Tischen lauschen wir gebannt dem Gespräch. Der Polizist legt auf, sichtlich verwirrt. „Nichts zu machen“, wendet er sich an die Cafébetreiberin und zuckt bedauernd mit den Schultern wie ein schuldbewusster Junge. Es ist ihm peinlich. „Wenn Sie keinen Ärger wollen, müssen Sie eine Genehmigung beim Ordnungsamt beantragen.“ Die Kunden stehen auf und setzen sich anderswohin, die Chefin stellt die Tische zurück ins Café.

Letzter Abwehrkampf des "kleinen Königs Auto"

Ich bin entsetzt. Wir kann man nur so böswillig und borniert sein? Wie kann man nur so unsolidarisch mit den Restaurantbetreibern sein, die so sehr unter dem Lockdown im Frühjahr gelitten haben und nun die letzten schönen Tage des Sommers nutzen, um noch etwas Umsatz zu erzielen?

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Und vor allem: Wieso freut man sich nicht über einen der seltenen, positiven Nebeneffekte der Pandemie, die uns zwingt, den Stadtraum neu zu überdenken? Um die Betreiber von Restaurants, Cafés und Bars zu unterstützen, hat die Pariser Stadtverwaltung es bis zum 30. September genehmigt, Terrassen auf die Bürgersteige und abends sogar auf einige für den Verkehr gesperrte Straßen auszudehnen.

Das Coronavirus könnte den Wandel unserer Städte beschleunigen: indem die Gehwege verbreitert werden (vor allem, um die Abstandsregeln einhalten zu können) und der Parkraum eingeschränkt wird, indem Platz für Begegnung geschaffen wird, indem Grünflächen und Bäume dem Asphalt den Platz streitig machen in einer Zeit, in der die überhitzten Städte im Sommer zu ersticken drohen.

Der denunziatorische Anruf ist also schon deshalb völlig unangebracht, weil er zu einem Zeitpunkt gesteigerten Umweltbewusstseins kommt, in dem der „kleine König“ Auto von Elektroautos, Fahrrädern und öffentlichen Verkehrsmitteln entthront wird. Ist unser Café um die Ecke nicht gerade ein lebensgroßes Laboratorium, um über neue Lösungen nachzudenken?

Es lebe die Revolution, die die Pandemie in den Straßen Berlins ausgelöst hat! Und möge der mutige Denunziant dreimal um den Block fahren müssen und sein Auto am Ende anderswo parken. Aus dem Französischen: Odile Kennel

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