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Berlin: Reinhold Gebhardt (Geb. 1920)

Wieder ein aus dem Nest gefallener Jungvogel

Saasen, ein kleines Dorf in Hessen, ganz in der Nähe des berühmten Rosendorfs Steinfurth. Wohin er blickte, überall Rosen. Seine ersten 16 Lebensjahre verbrachte er dort. Ein Hesse blieb er, als die Familie nach Berlin übersiedelte. Die Suche nach Arbeit trieb sie in die ferne Stadt.

Geschwister besaß Reinhold nicht, dafür immer mindestens einen Hund. Seine Tierliebe war so ausgeprägt, dass jeder aus dem Nest gefallene Jungvogel sich seiner Fürsorge sicher sein konnte. Als Sohn einer Hebamme und eines Bandagisten kannte er sich aus in praktischer Lebenshilfe. Sie zogen nach Kreuzberg in die Graefestraße. Kaum ein Haus gab es in der Umgebung, in dem seine Mutter nicht einem Kind auf die Welt verhalf. Für Reinhold bedeutete dies: Fraß er was aus, dauerte es keine zwei Stunden, bis seine Mutter davon erfuhr. Jeder kannte sie, jeder kannte ihn. Gern zog er sich ins Kino an der Ecke zurück und schaute sich die neuesten Filme an.

Gegen das, was er als Soldat im Krieg erlebte, halfen keine Filme. 1947 kehrte er aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück und wollte so schnell wie möglich zurück ins ganz normale Leben. Er war Reprofotograf und heiratete die Tochter einer Fleischerfamilie aus Karlshorst. Doch die Tage im Haus der Schwiegereltern wurden ihm bald zu lang. Er hörte und sang für sein Leben gern Opern. So einer passte nicht in die Fleischerfamilie. Er zog zurück in die elterliche Wohnung. Die Ehe wurde geschieden. Er war inzwischen Vater einer dreijährigen Tochter.

Alle zwei Wochen holte er sie in Karlshorst ab, radelte mit ihr zum Wannsee oder nahm sie mit ins Kino: mal ein Western, mal eine Schnulze. Daheim hielt er mit dem Fotoapparat das flüchtige Glück fest. Er hatte ein gutes Auge. Seine Bilder waren voll lebendiger Beiläufigkeit und füllten rasch Alben. Am 11. August 1961 kam die Tochter zum vorerst letzten Mal zu Besuch. Zwei Tage später stand die Mauer zwischen ihrer Stadt und der des Vaters. Die Fotos in den Alben wurden weniger.

Es dauerte viele Jahre, bis Vater und Tochter wieder zueinanderfanden. Sie kam hinüber in den Westen und präsentierte ihm einen Enkel. Reinhold Gebhardt präsentierte seiner Tochter eine deutlich jüngere Lebensgefährtin.

Es war Anfang der Siebziger, als ihn ein Freund mit einer Witwe verkuppeln wollte. Doch diese Witwe hatte eine Tochter. Der half er beim Abitur und riet ihr zu Studium und Promotion. Und er verliebte sich in sie und sie sich in ihn.

Sie blieben zusammen, für immer. Einmal stand ihre Mutter mit einem sechsjährigen Mädchen vor der Tür. Das Kind sprach kaum ein Wort, es war ihre Nichte. Wieder ein aus dem Nest gefallener Jungvogel, befand Reinhold Gebhardt und nahm das Mädchen auf. Drei Jahre lang lebte es bei ihnen, dann wollte es zurück zum leiblichen Vater.

Der nächste Findling war ein Meerschweinchen. Es saß zitternd am Urbanhafen. Später lebten Hunde, Meerschweinchen und allerlei Jungvögel bei ihnen unter einem Dach und verstanden sich bestens.

Jeden Morgen auf dem Spazierweg mit den Hunden sammelte Reinhold Gebhard Pfandflaschen ein. Im Getränkemarkt, wo früher das Kino war, gab er sie ab, das Kleingeld kam in ein Glas im Schrank und von dort, wenn das Glas voll war, auf ein Sparkonto. Nie hob er etwas davon ab. Als er es seiner Urenkelin überschrieb, waren 11 000 Euro drauf.

Ende 2009 wurde Darmkrebs bei ihm diagnostiziert. Ins Krankenhaus wollte er nicht. „Dann sterbe ich eben!“, sagte er zur Ärztin. – „So leicht stirbt es sich aber nicht, Herr Gebhardt!“, entgegnete sie. Er ließ sich umstimmen, wurde in den OP geschoben und schmetterte ein Lied aus Madame Butterfly: Eines Tages / sehn wir ein Streifchen Rauch / im Osten überm Meer / in die Lüfte steigen.

Der Krebs wurde herausgeschnitten, kam aber nach einem Jahr zurück. Zu Hause, in der Wohnung, in der seine Mutter seine Tochter auf die Welt geholt hatte, starb er friedvoll und im Beisein all seiner geliebten Menschen und Tiere. Stephan Reisner

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