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Berlin: Reinhard Heberling (Geb. 1959)

"Was machst du da im Baum?" - "Wir bauen eine U-Bahn!"

Er hatte ein dünnes halbstatisches Seil fürs Erhängen gewählt, nahezu dehnungsfrei, und einen perfekten Knoten geknüpft, der gut lief, das minimierte das Risiko des Überlebens.

Eine akkurate Arbeit, wie es seine Art war. Drei Wochen zuvor hatte er eine Patientenverfügung aufgesetzt, er wollte sicher sein, nicht künstlich am Leben erhalten zu werden.

25 Jahre lang hat Reinhard Heberling als Baumpfleger gearbeitet, Bäume gefällt und beschnitten, präzise, unfallfrei.

In seiner Werkstatt war alles bestens sortiert, jedes Teil beschriftet; die Motorsägen wartete er selbst, schliff eigenhändig die Kettenzähne, setzte die Tiefenbegrenzer sehr knapp, so dass sich die Kette gut ins Holz fraß. Auch die Knoten waren kurz geknüpft und sehr fest zugezogen. Diese Gewissenhaftigkeit rührte her vom Vater, der ein strenger Mann gewesen war. Überstreng. Den größten Teil seines Einkommens spendete er. Für die Kinder blieb wenig, keine Fahrkarten für den Schulbus, kein Tanzkurs, selten ein liebes Wort.

Reinhard entfloh dieser schwäbischen Enge in einen Kibbuz, ging dann nach Paris, studierte an der Sorbonne Philosophie und kam schließlich nach Berlin.

Das Studium gab er bald auf. „Warum soll ich aus Sekundär- Tertiärliteratur machen?“ Fortan lebte er seinen „schwäbischen Hedonismus“, ein Widerspruch in sich, der schwer auszuhalten war. Wären nicht die Bäume gewesen!

„Warum diesen gesunden Ast absägen? Nur damit Sie ihr Auto näher am Haus parken können?“ Erstaunlicherweise hat ihm diese Strenge selten einer seiner Kunden verübelt, die meisten verstanden seine Leidenschaft für die Sache.

Immer wurde alles pünktlich und penibel erledigt. Gute Arbeit, die ihren Preis hatte – der nicht verhandelbar war: „Bei jeder Nachfrage wird es 100 Euro teurer!“

Diese Haltung nötigte Respekt ab und Bewunderung, bei den Großen wie bei den Kleinen. Wenn die Kinder standen und staunten: „Was machst du denn da im Baum?“ Dann antwortete er im ernstesten Ton der Welt: „Wir bauen eine U-Bahn!“

Er war überzeugend in dem, was er tat, das gefiel, auch den älteren Damen.

„Kindchen, wenn ich ein wenig jünger wär, würd’ ich Ihnen den Mann ausspannen!“

Das war seine beste Zeit, damals in den Neunzigern. Er hatte die Liebe seines Lebens gefunden, sie arbeiteten zusammen, ein Team, es schien, als könnten sie die Welt in die Tasche stecken.

Sie bezogen ein kleines Haus mit großem Garten, direkt an der Uferpromenade eines Sees. Das Glück war zum Greifen nah, aber er wollte, er konnte es nicht halten, nutzte die geringsten Anlässe zum Streit.

Die Frau seines Herzens ging.

Er hat seine Schwermut genossen und sich eingerichtet in seiner Einsamkeit. Fortan war es anderen verboten, ihm zu nahe zu treten.

Wer wissen wollte, wie ihm zumute war, dem gab er ein Buch: „Der Baron auf den Bäumen“ von Italo Calvino, das war seine Hausbibel. Darin vermerkt, sein Testament zu Lebzeiten: „Nur weil er so unerbittlich er selbst war, wie er es bis zum Tode gewesen ist, konnte er allen Menschen etwas geben.“

Denn das war die andere Seite an Reinhard Heberling, er war selbstlos und auf geradezu kindliche Weise zukunftsfroh zuweilen. Einer, der Scherben in die Luft wirft und sicher ist, eine Vase fällt herunter. Warum hätte er sich auch Sorgen machen sollen? Er verdiente gutes Geld, umgab sich mit schönen Dingen, verwettete sein Herz auf niemand mehr. Den Kunden gegenüber besaß er die Freiheit des Fatalisten: „Was wollen Sie den Baum denn noch schneiden? Die Klimakatastrophe kommt eh!“ Eine Altersvorsorge sparte er sich selbstredend. Lebensfreude, unauflöslich gemengt mit Lebensekel.

Aufbrausend war er ja schon immer gewesen, Michael Kohlhaas war sein Bruder im Geiste, und wehe ein Verkehrsteilnehmer hielt sich nicht an Reinhard Heberlings Regelsinn. Da flogen schnell mal Eier, und für solche Tätlichkeiten nahm er sogar eine Haftstrafe in Kauf, die er dann nutzte, um den „Mann ohne Eigenschaften“ zu studieren. Sein Lieblingsthema: die Leidenschaft der Leidenschaftslosen. Aber, das wusste er selbst am besten, ein Misanthrop, der keinen liebenden Menschen mehr um sich hat, wird sich irgendwann unweigerlich selbst zu viel.

„Wie ihr wisst“, so schrieb er in seinem Abschiedsbrief, „bin ich am falschen Bahnhof ausgestiegen …“ Seine Heimatlosigkeit wurde ihm zum gewollten Verhängnis. Er musste raus aus dem Haus, das wusste er seit Jahren. Als der Grund und Boden seinerzeit zu kaufen war, hatte er abgelehnt, aus Prinzip. Er trotzte dem Schicksal. „Komme, was wolle, ich zieh’ hier nicht aus!“

Dann, als es soweit war und er räumen musste, hat er alle noch ausstehenden Aufträge abgesagt, seine Passwörter und Bankverbindungen gelistet, und auf dem Anrufbeantworter die Nachricht hinterlassen: „Ich bin in Urlaub gefahren.“

Warum er das getan hat? Es lag nicht an seiner Kindheit, nicht an seiner verlorenen Liebe, nicht daran, dass er älter wurde. Das Bild über seinem Schreibtisch, der Dürer-Stich, gibt Auskunft über sein wahres Motiv. Reinhard Heberling litt an der unheilbaren Krankheit zum Tode, auch genannt Melancholie. Gregor Eisenhauer

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