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Entspannen mit Risiken. Gerade LSBT unter Druck greifen häufig zu stimmungsaufhellenden Substanzen.

© Jens Büttner/dpa

Sucht bei Queers: "In der Szene wird zu wenig über Drogenkonsum diskutiert"

Queere Menschen sind wegen des gesellschaftlichen Drucks besonders suchtgefährdet. Doch das Thema wird oft tabuisiert. Ein Interview mit der Berliner Psychotherapeut*in Gisela Wolf.

Gisela Wolf, Studien zufolge konsumieren Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle mehr Drogen als der Rest der Bevölkerung. Was ist über das Ausmaß bekannt?

Tatsächlich zeigen Studien bei queeren Menschen im Vergleich zu allgemeinen Bevölkerungsstichproben regelmäßig ein erhöhtes Ausmaß an Substanzgebrauch, insbesondere im Jugend- und jüngeren bis mittleren Erwachsenenalter. So tragen Lesben, Schwule und bisexuelle Personen im Vergleich zu heterosexuellen Personen ein mindestens anderthalbfach erhöhtes Risiko für die sogenannten Substanzabhängigkeiten. Queere Menschen rauchen häufiger als nicht-queere Menschen und der Anteil derjenigen, die nie geraucht haben, ist bei ihnen auch geringer als bei nicht-queeren Personen. Durchgängig zeigen die Studien, dass Lesben deutlich mehr als heterosexuelle Frauen trinken. Und Lesben und Schwule konsumieren wahrscheinlich mehr illegalisierte Substanzen als heterosexuelle Personen. Die Datenlage hinsichtlich des Gebrauchs illegalisierter Substanzen bei trans* und nichtgenderbinären Personen ist noch sehr lückenhaft.

Welche Gruppen in der queeren Community sind besonders betroffen?

Der Substanzgebrauch ist wahrscheinlich besonders bei denjenigen Queers erhöht, die auch noch von anderen Ausgrenzungen betroffen sind, zum Beispiel von Rassismus. Gefährdet sind auch solche Queers, die gendernonkonform leben, die auf der Straße leben und/oder solche, die sexualisierte, körperliche oder verbale Gewalt in Herkunftsfamilien oder Schulen erlitten haben.

Sind auch LSBT im Coming out besonders suchtgefährdet?

Hier wäre die Frage, wo Coming out anfängt und ob dieser Prozess je aufhört. Substanzgebrauch kann zumindest in Zeiten, in denen aufgrund gewalttätiger und diskriminierender Reaktionen anderer auf die eigene sexuelle Orientierung und/oder Genderidentität massive Belastungen auftreten, die Funktion einnehmen, unerträgliche Gefühle von Schmerz und Einsamkeit zu dämpfen.

Auch ein Bier zu trinken oder eine Zigarette zu rauchen bedeutet „Substanzgebrauch“. Ist das schon ein Problem?

Bezüglich Alkoholgebrauch gibt es Grenzwerte für einen wahrscheinlich gesundheitlich unbedenklichen Konsum. Von daher ist der Genuss von einem Bier ab und zu unbedenklich. Menschen, die Zigaretten rauchen, schädigen ihre eigene Gesundheit und die derjenigen, die mitrauchen (müssen) auch schon mit einer Zigarette. In die Abwägung, ab wann Substanzgebrauch zum Problem wird, gehen mehrere Faktoren ein: die Konsummenge und der konsumierte Stoff, dessen rechtliche und soziale Bewertung, die Veränderungen im Verhalten der konsumierenden Person und die Auswirkungen des Konsums auf das soziale Umfeld und die gesamten Lebensbezüge einer Person.  Eine Person, die zum Beispiel ihre Kinderverantwortung nicht mehr gut tragen kann, weil ihr der Substanzgebrauch existenziell notwendig erscheint, konsumiert eventuell nicht unbedingt mehr als eine Person, die ohne Substanzgebrauch sich keine Sexualität mehr zu leben traut. Trotzdem liegen die Probleme dieser beiden Personen auf ganz unterschiedlichen Ebenen und müssen auch entsprechend differenziert betrachtet werden.

Auf welche Drogen greifen LSBT besonders häufig zurück?

Die meisten Studien in dem Bereich befassen sich mit Alkohol, Nikotin und illegalisierten Substanzen. Wie auch in der Gesamtbevölkerung stellen Alkohol und Nikotin auch für LSBT die am stärksten konsumierten Substanzen dar. Rauchen kostet hierbei die meisten queeren Lebensjahre.

Was sind die möglichen Motive für den Konsum?
Entsprechend der Modelle für die Entwicklung des Gesundheitsverhaltens queerer Menschen gehe ich von einer Verschränkung individueller Konsummotive wie Genuss, sexuelle Anregung, Appetitzügelung, Erwartungen bezogen auf die Substanzwirkung mit Modelllernen (konsumierende Vorbilder in der Mehrheitsgesellschaft, insbesondere den Herkunftsfamilien, und in den Communitys), mit Belastungen (Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen, deren emotionale Folgen durch die Substanzwirkungen bewältigbarer gemacht werden sollen) und Substanzspezifika (zum Beispiel Schnelligkeit des Wirkungseintritts, Suchtpotenzial) aus.

Wird in der Szene über Substanzgebrauch offen diskutiert?

Nach meinem Eindruck insgesamt noch zu wenig, was auch an Stigmatisierungsängsten und auch Tabuisierungen bezogen auf das Thema liegt. Zunehmend bilden sich jedoch soziale Zusammenhänge in den Communitys, in denen freundschaftlich, respektvoll und offen kommuniziert wird.

Gibt es in den Communitys ein gutes Unterstützungsangebot?

Es gibt viele Personen, die sich unter großem Engagement dafür einsetzen.  Trotzdem mangelt es aufgrund der entsprechenden Vernachlässigung queerer Gesundheit bei finanzrelevanten Entscheidungen im Gesundheitssystem leider an Mitteln, insbesondere für den Aufbau einer tragfähigen queerkompetenten stationären Versorgung und für langfristig angelegte queerkompetente suchtpsychotherapeutische Begleitung. Die Versorgung mit geeigneten queerfreundlichen Angeboten in Deutschland ist insgesamt sehr lückenhaft und konzentriert sich auf die Großstädte.

Demnach ist das allgemeine Gesundheitssystem nicht adäquat auf suchtkranke queere Menschen eingerichtet?

Ja, was daran liegt, dass die Beachtung der Gesundheitsbedarfe queerer Menschen weder in medizinischen, noch in pflegerischen oder psychotherapeutischen Ausbildungen implementiert ist.

Gibt es spezielle Präventionsmaßnahmen für LSBT – und reichen sie?

Es gibt einige und es gibt sie auf unterschiedlichen Ebenen. Am Anfang der Kette brauchbarer suchtpräventiver Maßnahmen stehen solche, die LSBT- Kinder und -Jugendliche vor Gewalt in Schulen und Herkunftsfamilien schützen sollen. Dem folgen Maßnahmen zum Beispiel an Community-Orten, die Möglichkeiten des bewussten und verantwortlichen Gebrauchs zeigen, zum Beispiel der Aids-Hilfen und weitere. Aber das Ausmaß schädlichen Substanzgebrauchs bei queeren Menschen zeigt: in der Prävention muss noch viel mehr getan werden. Letztlich ist dies eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, denn in den gesamtgesellschaftlich gestützten Drucksituationen gegen queere Menschen liegt ein Gutteil der Dynamiken, die zu Gefährdungen der Gesundheit queerer Menschen führen.

Gisela Wolf lebt als Psychotherapeut*in Berlin. Die Fragen stellte Anja Kühne.

In Kooperation mit der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) und der Schwulenberatung Berlin stellt Gisela Wolf am 25. Oktober ab 19 Uhr im Restaurant „Wilder Oskar“ des Lebensort Vielfalt Daten aus der aktuellen Forschung über Sucht und Substanzkonsum bei queeren Personen vor. Sie hat untersucht, wie internalisierte Abwertungsprozesse und Selbsthass mit Substanzgebrauch zusammenhängen. Gisela Wolfs Buch „Substanzgebrauch bei Queers. Dauerthema und Tabu“, hg. Von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, erscheint voraussichtlich Anfang Dezember. 72 Seiten, ca. 9,90 Euro.   

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