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Sasha Marianna Salzmann, 1985 in Wolgograd geboren, lebt in Berlin und ist Hausautorin des Maxim Gorki Theaters.

©  Heike Steinweg

Romandebüt von Sasha Marianna Salzmann: Die lila Augen meines Urgroßvaters

Im Familienroman „Außer sich“ von Sasha Marianna Salzmann sucht die queere Hauptfigur in Istanbul nach ihrem Bruder und der eigenen Identität.

Blaue Kugelschreiberstriche am Türrahmen. Sie zeigen die Größe der Zwillinge Anton und Alissa an. Der Raum zwischen den beiden Maßbändern ist voller Kringel und Schleifen, die aussehen wie Sternbilder. Die Kinder haben sie gemalt, denn ihnen sind die Zahlenangaben egal. Für sie zählt nur, dass eine Verbindung zwischen ihnen beiden besteht.

Das war schon in Moskau so, wo sich die erste Version des Türrahmen-Maßbandes befindet. Die Striche beginnen im Jahr 1987 – Alissa misst 82 Zentimeter – und enden 1995 bei 132 Zentimetern. Da packt Mutter Valentina die Kinder, ihren Mann, den Vater, zwölf Koffer und noch mehr Kisten in den Zug nach Berlin. Familie Tschepanow wandert aus.

36 Stunden lang im wackelnden Abteil. Alissa und Anton „krallten sich gegenseitig in die Schulterblätter und hielten sich fest, um bei all der Schaukelei nicht vom Hochbett zu fallen, und wenn, dann gemeinsam“, schreibt die Berliner Theaterautorin und Dramaturgin Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman „Außer sich“, der die Geschichte der Familie aus der Sicht von Alissa, genannt Ali, beschreibt.

Die Verbindung der Zwillinge reißt ab

Das Bild der miteinander verschmolzenen Zwillinge scheint noch mehrere Male auf. Denn in Niedersachsen wird es für die zunächst im Asylbewerberheim wohnenden jüdischen Aussiedler richtig hart. Die Kinder rücken noch näher zusammen. An einem besonders schrecklichen Nachmittag werden sie von einigen Mitschülern brutal zusammengeschlagen: „Ali lief Sabber aus dem Mund auf Antons Stirn, er wischte sie mit seinem Hemdsärmel weg, schob sich zu ihr hoch, drückte seine Nasenspitze an ihre, ihre Wimpern verhakten sich, ihre Münder standen offen, sie atmeten ineinander. Erst als Anton Ali küsste, fing sie an zu weinen.“

Ein paar Jahre später reißt die Verbindung dennoch ab. Ali steht allein vor den Strichen im Türrahmen, Anton ist verschwunden, keine Linie führt zu ihm. Einen einzigen Anhaltspunkt gibt es: eine kommentarlose Postkarte aus Istanbul. Also fährt Ali dorthin und hofft, dem Bruder irgendwo zu begegnen. Wobei bald klar wird, dass es für Ali eigentlich darum geht, sich selber zu finden. Weil ihre elementarste, innigste Bindung verschwunden ist, befindet sie sich im Zustand des Außersichseins, einmal sogar wortwörtlich. Bei einem Gespräch mit der Mutter hat Ali das Gefühl, im Schneidersitz an der Decke zu hängen, während unten nur eine Körperhülle hockt, nickt und zuhört.

Ali nimmt Testosteron wie Katho

Die Suche in Istanbul – irgendwann zwischen den Gezi-Protesten und vor dem Putsch-Versuch von 2016 – ist mehr ein stilles Warten, ein Versinken im wanzenverseuchten Sofa des Onkels und ein Sichverlieben in die vibrierende Stadt voller Katzen und aufregender Menschen. Einer davon ist die Tänzerin Katharina, mit der Ali eine Affäre hat, und die ihr schon am ersten Morgen erklärt, dass sie gar keine Sie, sondern ein Er ist: Katho. Von da an benutzt Salzmann männliche Personalpronomen für diese aus der Ukraine stammende Figur, die an den Cato aus ihrem Stück „Meteoriten“ erinnert. Wie dieser beginnt Katho gerade mit seiner Transition und zieht viele Fragen und auch Ablehnung auf sich. Ali, die ohnehin häufig nicht als Frau gesehen wird, inspiriert Kathos Beispiel, einen neuen Weg auszuprobieren: Wenn sie Anton nicht findet, kann sie vielleicht selbst Anton werden. Testosteron gibt es in Istanbul an jeder Ecke.

Es ist ein Versuch, keine endgültige Festlegung. Denn „Alissa, Ali – Schwester, Bruder, ich“ wie sie/er im vorangestellten Personenverzeichnis heißt, ist ein schillerndes, suchendes Wesen, außerhalb aller Kategorien, das sich einmal als unfähig bezeichnet, verbindliche Aussagen zu treffen oder eine Stimme zu entwickeln, die nur die seine wäre. So wandert Ali durch die Zwischenräume, versucht möglichst viele Stimmen ihrer Vorfahren zu hören, Verbindungslinien zu erahnen: „Ich reihe meine Vielleichts aneinander, Kügelchen für Kügelchen, ungeschliffene Murmeln, die keine vorzeigbare Kette ergeben.“

Salzmann hat das Я ins Gorki gebracht

Deshalb hat auch der Roman eine durch die Zeiten, Länder und Ebenen mäandernde Form. Salzmann erzählt dabei mal in der ersten, mal in der dritten Person, zoomt weit weg von Ali, dann wieder ganz nah ran, streut russische Sätze in kyrillischer Schrift ein und erzeugt so das facettenreiche und berührende Porträt einer Familie, das einige Ähnlichkeiten mit ihrer eigenen aufweist, aber von Ferne auch an T. Coopers „Lipshitz“ erinnert und einen Nebenpfad zu Aglaja Veteranyis „Warum das Kind in der Polenta kocht“ schlägt.

Alissa/Ali teilt mit der Autorin neben den kurzen Locken, das Alter, das Jüdisch- und das Queersein sowie die Auswanderungsgeschichte. Das Buch wirkt dadurch noch persönlicher als Theaterstücke wie „Muttersprache Mameloschn“, „Schwimmen lernen“ oder eben „Meteoriten“, in denen Salzmann bereits einige dieser Identitätsaspekte aufgegriffen hat. Letztere waren auch am Maxim Gorki Theater in Berlin zu sehen, wo sie seit vier Jahren Hausautorin ist und bis 2015 das Studio leitete.

Dass beide Bühnen ein Я im Namen tragen, hat sie angeregt. Der kyrillische Buchstabe (gesprochen: „Ja“) der ganz am Ende des Alphabets steht, bedeutet im Russischen auch „ich“ – und die eigenen Geschichten der Schauspieler/innen und Autor/innen sind am Gorki oft Ausgangspunkt oder Teil der Inszenierungen. Yael Ronen hat es mit ihren Ensemble-Stücken meisterhaft vorgemacht.

Besonders liebevoll ist das Urgroßeltern-Kapitel

Auch Sasha Marianna Salzmanns Buch, das auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht, spielt mit dem „Ja“, mit den ersten und letzten Buchstaben der Alphabete. Wobei der Anteil autobiografischer Bezüge letztlich unerheblich ist, denn es sind vor allem die Verdichtung, die lebendige Sprache und der liebevolle Blick auf die Generationen und die Geschichte selbst, die „Außer sich“ zu einem packenden Roman machen.

Das gilt besonders für das in der Mitte stehende Kapitel über die Urgroßeltern Etinka und Alexander, genannt Etja und Schura, das wie ein Roman im Roman funktioniert. Die beiden lernen sich 1936 beim Medizinstudium in Odessa kennen, wo ihre Namen stets die ausgehängte Rangliste der Jahrgangsbesten anführen. Schura, der an Platz zwei steht, will unbedingt Nummer eins kennenlernen – und ihr Herz gewinnen.

Einmal bringt er ein kleines Geschenk mit in die Uni, spricht Etinka im Flur an, hält ihr das Päckchen hin. Sie lehnt höflich ab. Was folgt, ist ein magischer Moment, bei dem nicht zufällig die Sprache eine entscheidende Rolle spielt: „Ikh bet dikh. Nimm“, sagt Schura. Sein Mut, laut mit ihr Jiddisch zu sprechen, überrascht Etinka so sehr, dass sie ihn zu lange anschaut und das Paket nimmt. Doch weil Schura – auf Russisch – einen Witz über den Inhalt macht, lässt sie es gleich wieder fallen, und es dauert noch qualvoll lange, bis die beiden endlich zueinander finden. Ein zweiter magischer Moment – ausgerechnet während einer Sezierstunde – hilft dabei.

Antisemitismus trifft alle Generationen

Nach dem Krieg machen die beiden in Czernowitz Karriere, sie als Leiterin einer Tuberkuloseklinik, er als gefeierter Erfinder. Und das, trotz des aggressiven Antisemitismus, der sich nach Stalins Tod unter anderem in der massenhaften Kündigung jüdischer Ärzte Bahn bricht. Auf die Hauswand der Familie schmiert jemand den Satz „Judensau Farbarjewitsch, verschwinde nach Israel!“ Etinka lässt es immer wieder überstreichen. Die Maler empfehlen ihr, endlich wegzuziehen, denn es werde sich nichts ändern und die Fassade sehe bald aus, als habe sie ein Geschwür.

Der Judenhass ist eine Konstante in „Außer sich“, jede Generation hat damit zu kämpfen. Die drei kyrillischen Buchstaben des gängigsten russischen Schimpfwortes bleiben bei der Lektüre hängen. Dass der Vater von Ali und Anton den Familiennamen für Geld russifiziert, ist ebenso eine Antisemitismusfolge wie die Emigration, der sich Schura noch verweigert hatte. Der Held der Roten Armee mit den lilafarbenen Augen, dessen Ölporträt im niedersächsischen Schlafzimmer von Valentina hängt, ist das stille Zentralgestirn der Geschichte. Zwei Jahre vor seinem Tod gibt er Ali eine dünne Mappe mit seinen Lebensaufzeichnungen. Beim Lesen beginnt er erstmals, sich „als mich zu denken, zu sprechen, sogar zu schreiben.“

Salzmanns Urgroßvater hat für die Autorin eine ähnlich zentrale Rolle gespielt, sie hat einmal über ihn geschrieben, dass er ihr „ein Verbündeter war wie wenige“. Nach ihm hat sie sich Sasha genannt. Auf ihr Buch wäre er sicher stolz.

Sasha Marianna Salzmann: Außer sich. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 366 Seiten, 22 €.

Buchpremiere: Gorki Theater, Studio Я, 16.9., 20.30 Uhr, Lesung: Autorenbuchhandlung, 19.9., 20 Uhr

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