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Fritz Schmehling (1941-2017)

© Karl Grünberg

Nachruf auf Fritz Schmehling (geb. 1941): Vergehen: "Unzucht"

Er war jung, wollte Abenteuer. Dass Sex unter Männern verboten war, ahnte er nicht. Er suchte ihn auf Toiletten, in Büschen. Und fand dort den Mann seines Lebens. Der Nachruf auf einen, der nie auf den Mond wollte.

Die Liebe seines Lebens lernte Fritz im Gebüsch kennen. Es war abends, es war dunkel, Fritz war im Tiergarten unterwegs, auf der Jagd nach schnellem Sex. Auf der Jagd nach einem Mann. Das machte Fritz immer so. Kam von der Arbeit nach Hause, duschte, aß etwas, schaute sich eine Sendung im Fernsehen an und machte sich dann auf die Pirsch. Fritz war schwul, und Fritz war keiner, der frustriert auf seiner Couch rumsaß. 1983 war das, da war Fritz 41 Jahre alt.

War er liiert, war er treu und durchaus sittsam. Ein Dreier wäre nichts für ihn gewesen. Sein erster Freund war ein Zauberkünstler, dem er seine Zauberkisten bauen sollte. Spezialkonstruktionen, in die man einen Papagei reinstecken konnte, und nach dem „Simsalabim“ war plötzlich eine Katze zu sehen. Von diesen Papageien hatten sie vier zu Hause. Von den Perserkatzen auch einige; um die kümmerte sich Fritz. Er züchtete sie sogar und traf in einem Katzenklub Freunde fürs Leben. Die und die Katzen blieben, den Zauberkünstler und seine Papageien schmiss er raus. Der hatte ihm Geld aus seinem Portemonnaie geklaut. Gutmütig war er ja, der Fritz, aber verarschen ließ er sich nicht.

Einen Draht zu den Leuten fand er schnell. Er lernte sie einfach kennen. Auf der Straße, bei Festen, hier in Berlin, aber auch im fernen Neuseeland oder Indien. Gerade die Inder waren begeistert von seinem prächtigen kaiserlichen Oberlippenbart.

Zurück ins Gebüsch, zurück in diese eine Nacht. Fritz stand da, in einer Ecke des kleinen Tiergartens, als Bernd entlangkam. Sie schauten sich an, sie gefielen einander, sie verschwanden im Dunkeln. Danach gab Bernd ihm seine Nummer mit. „Ruf doch mal an, lass uns was machen.“ Damit war es besiegelt. Eine siebenstellige Festnetznummer für 28 Jahre Beziehung.

Bernd passte im Hintergrund auf ihn auf

Fritz war der Arbeiterjunge, der Schreiner mit dem lauten Lachen, dessen Bauch so prall war wie seine Lebenslust. 15 Jahre rackerte er für eine Möbelfirma, fuhr Schränke, Tische und Sofas aus, trug sie in die Wohnungen, baute sie zusammen. Danach war er 22 Jahre Schreiner für eine Berliner Hausverwaltung. Reparierte, was es zu reparieren gab. War er enttäuscht, weil er glaubte, dass er zu etwas Höherem bestimmt gewesen wäre? Nein, sagen seine Freunde. Fritz war keiner, der auf den Mond wollte. „Nein“, sagte Fritz selber: „Ich hatte Arbeit, ich hatte Geld, nicht viel, aber es hat gereicht zum Saufen, zum Rauchen, manchmal zum Essengehen.“

Bernd war anders. Stiller, feingeistiger. Er war Klavierlehrer und Verwaltungsbeamter. Stürzte sich Fritz in eine Partyrunde, lernte jeden kennen, lachte hier und scherzte da, passte Bernd im Hintergrund auf ihn auf, sortierte für ihn und warnte ihn vor falscher Freundlichkeit. Bernd war es auch, der Fritz die klassische Musik näherbrachte. Am Ende wusste Fritz genau, von welchem Komponisten ein Stück war, von welchem Orchester aufgeführt.

Wenn ein Freund in Not war und sie um Unterschlupf bat, nahmen sie ihn auf. Klar, das war Ehrensache, gerne auch über Wochen. Stritten sich die beiden oder waren sich böse, dann passten sie auf, dass sie am Abend nebeneinander im Bett lagen und erst einschliefen, nachdem sie das geklärt hatten. „Wir hatten auch nur Blümchensex. Das hat uns gereicht. Wir sind jede Nacht aneinandergeschmiegt eingeschlafen, in Löffelstellung“, sagte Fritz.

Er probierte es auch mit einer Frau

Als die beiden sich kennenlernten, konnte man sich als schwules Pärchen schon offener zeigen, konnte Hand in Hand gehen, konnte sogar zusammenleben, ohne angezeigt zu werden. Als Fritz ein Jugendlicher war, noch bei seinen Eltern in Rastatt lebte und seine Schreinerlehre machte, da war das alles anders. Sex zwischen Männern war verboten; wer sich dabei erwischen ließ, riskierte Haftstrafen und Stigmatisierung.

Das wusste Fritz alles nicht. Er war jung, und er wollte Abenteuer. Im Umkleideraum des Schwimmbads mit einem französischen Soldaten, auf der Bahnhofstoilette mit einem älteren Mann. Der war schon über 40, war überall behaart und arbeitete an der Uni. „Ich wollte alles wissen, ich war die treibende Kraft“, sagte Fritz. Er probierte es auch mit einer Frau, mit seiner Tanzpartnerin im Tanzverein, aber das gefiel ihm nicht. „Reumütig kehrte ich zu den Kerlen zurück.“

Dann kam dieser eine Morgen. 1957. Friedrich stand am Fließband, drehte, steckte, schraubte, alles war wie immer. Doch jetzt ließ ihn sein Meister rufen. Er soll sich umziehen, an der Pforte steht die Kripo. Raststatt ist klein und beschaulich. Wenn da einen die Kriminalpolizei abholte, wusste das die ganze Stadt. Auf der Wache, im Verhörzimmer, wollte der Beamte alle Details wissen. Stundenlang befragte er den Lehrling. Namen, Handlungen, Orte. Fritz war 15, wusste nicht, wie ihm geschah, hatte keine Ahnung, wo das alles hinführen sollte, also erzählte er alles.

Hatte er das Leben dieses Mannes zerstört?

Ein paar Wochen später kam der Brief nach Hause, lag auf dem Esszimmertisch, der Vater hatte ihn gelesen. Eine Vorladung ins Jugendgericht. Fritz’ Vergehen: „Unzucht“. Das musste er dem Vater nun erklären. Der war Oberlehrer, früher in der NSDAP. War im Krieg gewesen, Versorgungsoffizier in Stalingrad. Dort hatte er sich beide Hände gebrochen und wurde mit einem der letzten Flugzeuge aus dem Kessel geflogen. Nach Kriegsende kam er in amerikanische Gefangenschaft und erst 1948 nach Hause. Für Fritz war er damals ein fremder Mann gewesen. Dieser Vater kam nun mit ins Gericht und hörte sich die Vernehmung seines Sohnes an.

Dann schickten sie Fritz raus und befragten den Vater über die charakterliche Eignung seines Sohnes. In dieser Befragung muss irgendetwas passiert sein, jedenfalls verurteilte ihn das Gericht nur zu einem milden Jugendfreizeitarrest. Vier Wochenenden, die Zigaretten schmuggelte Fritz in seiner Unterhose mit rein. Natürlich stand am nächsten Tag alles in der Zeitung: „Tischlerlehrling Friedrich S. schuldig wegen Unzucht mit Männern“.

Die Stadt wusste, wer gemeint war. Von seinem Vater aber, von seiner ganzen Familie, hat Fritz nie ein böses Wort darüber gehört. Sie haben nicht darüber geredet, niemals wieder. Der Mann aus der Bahnhofstoilette kam für sieben Jahre ins Gefängnis. Bis zum Schluss machte sich Fritz Vorwürfe. Glaubte, das Leben dieses Mannes zerstört zu haben.

"Alter Schwuler mit kleinem Bauch, Beziehungsstatus: Witwer"

„Du Fritz, lass uns heiraten. Du hast doch kaum Rente. Wenn ich den Arsch zukneife, sollst du was davon haben“, sagte Bernd. Sie heirateten 2009. 2010 kam der Krebs, erst bei Bernd und dann bei Fritz. Fritz pflegte und betreute Bernd, so lange, bis er selber ins Krankenhaus musste, Chemo, Strahlen, Reha. Dass Fritz in diesem Moment nicht für seinen Bernd da sein konnte, machte ihn fertig. Dafür ließ Fritz seine Freunde antreten, ließ sie die Schichten übernehmen, damit immer jemand bei Bernd war. Dann starb Bernd. Starb und ließ Fritz alleine.

„Die Krebs-Selbsthilfe-Gruppe ist nichts für sie“, sagte der Psychologe zu Fritz. „Was sie brauchen, ist eine Trauergruppe.“

Also sitzt Fritz eines schönen Dienstags in einem Stuhlkreis. Er blickt nach links: Frauen. Er blickt nach rechts: Frauen. Er ist der einzige Mann. Wer von sich erzählen möchte, nimmt den Redestein in die Hand. Die Frauen legen los, weinen und berichten von ihren Vätern, Brüdern, Männern. Als Fritz den Stein bekommt, sagt er: „Ich habe auch meinen Mann verloren.“ Das ist Fritz’ Art. Drüber reden. Und dann wieder auf die Piste gehen. Früher musste er dazu durch die Büsche kriechen, heute legt er sich einfach ein Onlineprofil zu: „Alter Schwuler mit kleinem Bauch, Vollbart und grauhaarig, Beziehungsstatus: Witwer.“

Ein paar Jahre Spaß bleiben ihm. Dann kommt der Krebs wieder. Diesmal lehnt er die Chemo ab. Fritz will nicht mehr. Zieht auf die Palliativstation, empfängt seine Freunde, lacht mit ihnen, erinnert sich mit ihnen.

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