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Außer sich. Thelma (Eili Harboe) wird von ihren verdrängten Gefühlen überwältigt.

© Koch Films

Coming-of-Age-Film "Thelma": Die Unzähmbare

Joachim Trier kombiniert in seinem packenden vierten Spielfilm „Thelma“ ein Coming-out-Drama mit Mystery-Elementen.

Nur eine Cola? Hier im Club? Die jungen Leute sind irritiert. Weshalb lehnt Thelma alkoholische Getränke ab? „So wurde ich erzogen“, sagt sie. „Exotisch“ findet das ein junger Mann aus der Gruppe.

Ja, Thelma (Eili Harboe) ist anders als die anderen Studierenden an der Universität von Oslo – und „exotisch“ ist dafür noch eine euphemistische Beschreibung. Was nicht nur daran liegt, dass sie in einem strengen christlichen Elternhaus in den norwegischen Wäldern aufgewachsen ist und immer noch täglich Kontrollanrufe erhält. Die ruhige Biologie-Erstsemesterin leidet überdies unter seltsamen Anfällen, die sich durch auffliegende Krähenschwärme oder ein Flackern der Beleuchtung ankündigen. Zum ersten Mal fällt sie zitternd vom Stuhl, als sich in der Bibliothek die Chemiestudentin Anja (Kaya Wilkins) neben sie setzt. Die beiden freunden sich an, gehen weg, Thelma trinkt auch mal was und bald wird klar, dass ihre Anfälle etwas mit der dunkelhaarigen Kommilitonin zu tun haben.

Joachim Trier kehrt nach seinem englischsprachigen Familiendrama „Louder Than Bombs“ (2015) mit Isabelle Huppert und Gabriel Byrne für seinen vierten Spielfilm „Thelma“ nach Norwegen zurück. Hier entstanden auch die früheren Werke des 1974 in Kopenhagen geborenen Regisseurs, der denselben Urgroßvater wie Lars von Trier hat.

Der Vater richtet ein Gewehr auf sie

Erstmals steht nun eine Frau im Mittelpunkt, wobei sie meist tatsächlich das Zentrum der Cinemascope-Bilder einnimmt. Vor allem in der ersten Hälfte arbeitet Trier viel mit Totalen, in die er hinein- oder aus denen er herauszoomt. Menschen sind darin austauschbare, kleine Figuren, was einerseits Thelmas Verlorenheit in der Stadt spiegelt, aber andererseits auch andeutet, dass alle anderen ebenfalls Geheimnisse, unerfüllte Sehnsüchte und Konflikte mit der Familie haben.

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Thelmas Vergangenheit erzählt Trier mit eleganten Zeitsprüngen, seinem bevorzugten Stilmittel. Der Film beginnt mit einer Episode, in der die Protagonistin etwa sechs Jahre alt ist und mit ihrem Vater Trond (Henrik Rafaelsen) auf die Jagd geht. In einem tief verschneiten Wald sehen sie ein Reh, der Vater legt an und wendet sein Gewehr plötzlich auf das neben ihm stehende Mädchen – nach quälend langen Sekunden lässt er die Waffe sinken. Erst allmählich stellt sich heraus, dass dieser Impuls Ausdruck seiner Hilflosigkeit gegenüber Thelmas übernatürlichen Kräften ist. Das Mädchen mit der Unschuldsmine hat Schuld auf sich geladen – Trond tut dies auch, indem er sie mittels Medizin und Religion zu zähmen versucht.

„Thelma“ vermischt die klassischen Coming-of-Age-Topoi der Emanzipation von den Eltern und des ersten großen Begehrens mit Mystery-Elementen, packt einen Haufen psychoanalytischer Metaphern (Schlangen, Wasser) und ein seltenes Krankheitsbild dazu. Zudem macht er keinen Hehl aus seiner Verehrung für Alfred Hitchcock („Marnie“, „Die Vögel“) und spielt deutlich auf den von Hitchcock beeinflussten Brian de Palma an, dessen „Carrie“ eine entfernte amerikanische Cousine seiner Heldin sein könnte. Dass „Thelma“ dennoch weder epigonenhaft noch überladen wirkt, liegt am eindringlichen Spiel der beiden Hauptdarstellerinnen, der großen Ruhe der Inszenierung und der fast schon kaltblütigen Beiläufigkeit, mit der Trier Schreckensbilder in die Handlung integriert.

Ihre Erregung bringt das Opernhaus zum Zittern

Eine starke Suspense-Sequenz gelingt ihm bereits im ersten Drittel, als Thelma mit Anja und deren Mutter eine moderne Ballettaufführung in der Oper von Oslo besucht. Anja berührt Thelma am Oberschenkel, worauf diese nur mit Mühe einen Anfall unterdrücken kann. Ihre zitternde Hand, ihr schneller Atem, die Bewegungen der Tänzer verschmelzen mit der Musik von Philip Glass zu einem rauschhaften Sog. Thelmas Erregung überträgt sich auf den Saal, sie versetzt das riesige ovale Deckenornament in bedrohliche Schwingungen. Die Katastrophe bleibt aus, weil die Studentin gerade noch aus dem Raum stürzen kann. Anja folgt ihr und erlöst die schier unerträgliche Anspannung mit einem zunächst zaghaft, dann leidenschaftlich erwiderten Kuss. Doch Thelmas tränenüberströmtes Gesicht und ihre abwehrende Geste machen deutlich: Sie will ihre Gefühle nicht leben, sie flüchtet sich ins Verdrängen.

„Gott, nimm’ diese Gedanken von mir“, betet sie nach dem Opern-Besuch inbrünstig. Am Telefon beichtet sie ihrem Vater, dass sie Alkohol getrunken hat und im christlichen Chor versucht sie, sich ihre Gefühle aus dem Leib zu singen. Ihr Ringen kulminiert in einer zweiten fulminanten Szene, in der Thelmas übersinnliche Kräfte während einer medizinischen Untersuchung in einem High- Tech-Labor in superheldinnenhafte Dimensionen getrieben werden. Sie könnte glatt bei den X-Men einsteigen. Auch Thelma muss lernen, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren, allerdings nicht um Welten, sondern nur sich selbst zu retten. Was Joachim Triers Film nicht zuletzt zur originellen Variation einer Coming-Out- Erzählung macht, denn er zeigt eine Alternative zum sonst vorherrschenden Drama-Modus auf.

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