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Victor Polster (3. v. l.) spielt die junge Ballerina Lara.

© Menuet

Coming-of-Age-Film "Girl": Körper im Spiegel

Lukas Dhont erzählt in seinem Debütspielfilm „Girl“ von der leidvollen Teenagerzeit einer transsexuellen Ballerina.

Die Pubertät ist eine der aufregendsten Zeiten im Leben. Perfekter Kinostoff also. Die tausend Spielarten des Coming of Age-Films zeugen davon. Auch queere Geschichten, die sich um das Coming Out schwuler oder lesbischer Teenager drehen, sind ein fester Bestandteil davon. Doch trans Jugendliche sind bisher noch unterrepräsentiert. In jüngster Zeit unternahm nur Gaby Dellals „Alle Farben des Lebens“ (2015) mit Elle Fanning in der Hauptrolle den Versuch, die Pubertätsgeschichte eines trans Jungen zu erzählen. Als New Yorker Drei-Generationen-Drama inszeniert, blieb sie allerdings sehr schablonenhaft und ohne emotionale Glaubwürdigkeit.

Einen großen Schritt weiter und vor allem tiefer, geht nun der 1991 geborene belgische Regisseur Lukas Dhont mit seinem Debütspielfilm „Girl“. Im Zentrum steht die 15-jährige Lara (Victor Polster), die auf ihre Pubertät wartet. Weil sie nach ihrer Geburt zum Jungen erklärt worden war, nimmt sie Medikamente, die die männliche Entwicklung unterdrücken. Sie zählt die Tage, bis sie endlich weibliche Hormone bekommt und die für sie richtige, die weibliche, Pubertät beginnt.

Mit ihrem Vater und dem kleinen Bruder zieht sie nach Brüssel

Auch sonst gibt es viel Neues im Leben von Lara. Gerade ist sie mit ihrem Vater (Arieh Worthalter) und ihrem sechsjährigen Bruder Milo (Oliver Bodart) nach Brüssel gezogen, wo sie an einer renommierten Ballett-Akademie angenommen wurde. Es gilt die Probezeit zu überstehen. In der Schule wissen alle, dass Lara trans ist – und nehmen es locker. So ziehen sich die Mädchen in derselben Umkleide um wie die Neue, albern in der Pause mit ihr herum. Zu Hause hat Lara ebenfalls ein verständnisvolles Umfeld. Ihr Vater, ein hart arbeitender Taxifahrer, unterstützt sie aus vollem Herzen bei ihrem Transitionsprozess. Er ist liebevoll, ein wenig besorgt, aber ohne jeden Zweifel daran, dass seine Tochter den richtigen Weg geht. Auch der kleine Milo stellt Laras Geschlecht nicht in Frage – nur einmal als die Geschwister streiten, rutscht ihm ihr alte Name heraus. Ein schmerzhafter Moment, der zeigt wie verletzlich Lara ist.

In der Dusche, beim Umziehen - die Kamera kommt Lara ganz nah

Ihre Sicherheit und ihr Selbstbild sind eng an ihr Aussehen gebunden. Es ist zentral für sie, ihren Körper so perfekt wie möglich an ihr gefühltes Geschlecht anzupassen. Und zwar schnellstmöglich. In ihrer jugendlichen Ungeduld möchte sie am liebsten die Hormondosis erhöhen und gleich mit den Genitaloperationen beginnen. Wenn ihr der Psychotherapeut in sanftem Ton sagt, dass sie schon jetzt eine Frau ist und die medizinischen Schritte das nur unterstützen werden, schüttelt Lara den Kopf. Für sie ist Geschlecht keine soziale Konstruktion, sondern allein eine körperliche Kategorie. Laras Fokussierung auf die Physis, ihre ständigen Kontrollblicke auf sich selbst, zeigt Dhont vor allem durch Spiegelbilder von ihr. Häufig ist sie dabei nackt oder halbnackt – auch wenn die Handkamera von Frank van den Eeden sie direkt in den Blick nimmt. Immer wieder wird sie unter der Dusche, beim Umziehen und beim Abkleben ihres Penis’ mit breiten Tape-Streifen gezeigt – beziehungsweise beim Entfernen dieser Streifen.

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Potenziert wird die extreme Körperlichkeit von „Girl“ dadurch, dass Lara als Ballerina natürlich sehr oft beim Tanzen zu sehen ist. Mal mit der Gruppe im Studio, mal beim Einzelunterricht mit einer strengen Alt-Meisterin, die sie zum Durchhalten antreibt. Lara hat dabei öfter Tränen in den Augen als ein Lächeln auf den Lippen. Das harte Training, der ständige Spitzentanz fordern ihren Tribut: Die Zehen der Tänzerin sind nach den Übungsstunden bald jedes Mal blutig.

"Girl" steht in der Tradition trans Figuren als gequälte Kreaturen zeigen

Es tut weh, diesen Film zu sehen. Denn über den Schmerz möchte Lukas Dhont, der zusammen mit Angelo Tijssens auch das Drehbuch schrieb, Empathie für seine Heldin wecken. Das funktioniert, doch es hat in dem obsessiven Blick auf Laras Körper und sein Leiden auch etwas zutiefst erbarmungsloses. Dhont liebt Lara nicht, er weidet sich an ihren Qualen. Deshalb gehört auch eine Missbrauchsszene zu den stärksten Sequenzen von „Girl“, der in Cannes mit der Goldenen Kamera, der Queer Palm und dem Kritikerpreis ausgezeichnet wurde. Darin drängt ein halbes Dutzend Tänzerinnen Lara, ihr Genial zu entblößen. „Du hast uns nackt gesehen und jetzt sehen wir dich nackt,“ sagt die Anführerin, die sich auch durch Lanas wiederholtes „Nein“ nicht von deren Erniedrigung abbringen lässt.

Lukas Dhont stellt sich mit „Girl“ in die Tradition von Filmen wie „Boys Don’t Cry“ oder zuletzt „Danish Girl“ und „Eine fantastische Frau“, die trans Charaktere vor allem als leidende, gequälte Kreaturen zeigen. Der Auslandsoscar-Gewinner „Eine Fantastische Frau“ gestand der Hauptfigur, die von einer trans Schauspielerin verkörpert wurde, zumindest eine gewisse Selbstermächtigung und ein glanzvolles Finale zu. Doch auch sie muss unglaublich viel aushalten – und hat bei all dem keine einzige Freundin.

Dasselbe gilt für die vom cisgender Debütanten Victor Polster mit viel Verve gespielte Lara. Bis auf ihren Vater hat sie keinen Vertrauten, und ihm will die Teenagerin verständlicherweise nicht alles erzählen. Lukas Dhont gönnt Lara noch nicht einmal einen Internetzugang, über den sie sich mit anderen trans Kids austauschen könnte. Gnadenlosigkeit 2.0.

Hackesche Höfe, auch OmU: B-ware Ladenkino, Delphi Lux, FSK

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