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Hans-Ludwig Kröber ist Deutschlands bekanntester Kriminalpsychiater.

© Thilo Rückeis/Montage TSP

Psychologie des Mordes: „Es gibt Männer, die töten just for fun“

Hans-Ludwig Kröber ist Gerichtsgutachter. Im Interview spricht er über absurde Mordfälle, die größten Mythen und die Berliner Justiz.

Hans-Ludwig Kröber, 68, ist der bekannteste deutsche Kriminalpsychiater. Er wuchs selbst zwischen psychotisch Kranken und Anfallskranken in der diakonischen Einrichtung in Bethel in Bielefeld auf, wo seine Eltern als Psychiater arbeiteten. Bis heute forscht Kröber über die psychosozialen Hintergründe von Gewalt- und Sexualverbrechen und erstellt Kriminalprognosen bei Straftätern.

Herr Kröber, Sie sind seit mehr als 30 Jahren im Geschäft und vermutlich Deutschlands bekanntester Kriminalpsychiater. Wenn ein Mörder freigelassen wird, fragen alle: Wird er es wieder tun? Wie oft kommt es vor, dass ein lebenslang Verurteilter ein zweites Mal tötet?

Wir wissen es nicht. Es gibt keine staatliche Rückfallstatistik. Durch die deutsche Expertenszene geistert eine Zahl von drei Prozent, die aber nicht belegt ist. Manchmal findet man auch die aparte Angabe von null bis drei Prozent. In den 80er Jahren gab es in Berlin eine gewisse Häufung von Fällen. Die Gerichte waren damals oft sehr wohlwollend und unterschätzten die Gefährlichkeit mancher Täter. Die habe ich dann später zur Entlassbarkeit begutachtet und hatte das Gefühl: Drei Prozent? Die kenne ich allein ja schon alle.

Sie dachten, die Zahl muss höher sein?

Ja, deutlich höher. Also fing ich an zu sammeln und jedes Jahr kamen vier, fünf Fälle dazu. Jetzt ist daraus ein Buch über 45 solche Fälle geworden. In der Zwischenzeit haben Sie außerdem alle Straftäter erfasst, die 2014 in der JVA Tegel saßen, weil sie zu lebenslang verurteilt wurden. Das war vor allem die Arbeit einer Doktorandin, Anna Trofimova, die gerade angenommen wurde. Wir wissen nämlich auch über die Strafgefangenen mit lebenslanger Freiheitsstrafe nur wenig Konkretes.

Wer sitzt in Tegel lebenslang?

In unserer Totalerfassung haben wir exakt 100 Männer und fünf Frauen.

Ist dieses Verhältnis typisch?

Frauen kommen derzeit bundesweit bei den Verurteilungen wegen Mordes auf etwa zehn Prozent. Es gibt auch Serienmörderinnen wie die Charité-Krankenschwester, die fünf vollendete Patiententötungen begangen hatte und drei versuchte. In Berlin war die Älteste 70 Jahre alt und hatte ihre Tat mit 51 Jahren begangen. Die Jüngste war 46 und hatte ihre Tat mit 36 begangen. Da es seit achteinhalb Jahren keine Verurteilung einer Frau wegen Mordes in Berlin mehr gegeben hatte, habe ich die damals noch nicht rechtskräftig verurteilte Mutter eines Pferdewirtes mit in die Betrachtung einbezogen.

Warum töten Frauen?

Man kann nichts Ruhmreiches über sie sagen. In keinem Berliner Fall wurde ein böser gewalttätiger Partner getötet, sondern es erwischte zum Beispiel den im gleichen Hause wohnenden unliebsamen Vermieter oder die von der Täterin gepflegte und bestohlene alte Dame. Fast immer ging es um finanzielle Motive, die Opfer waren durchgängig ältere oder schwächere Menschen. Bei der Krankenschwester scheint das Töten selbst etwas Befriedigendes gewesen zu sein, Grandiosität, Macht über andere exekutieren. Und im Fall der Pferdewirtin ging es der Mutter darum, dem eigenen Sohn eine goldene Zukunft mit einem großen Reiterhof zu ermöglichen.

Töten Frauen anders als Männer?

Frauen wählen bevorzugt Arten, die nach natürlichem Ableben aussehen. Als alter Mensch stirbt man schon mal, und wenn man nachhelfen will, ist Ersticken ein probates Mittel. Wenn dann der Doktor kommt und einen Totenschein ausstellt, kann das ja auch gut gehen. Davon, was Ärzte manchmal als natürlichen Tod bescheinigen, können die Rechtsmediziner Arien singen. In einem Fall steckte sogar noch das Messer im Rücken, weil der Doktor die Leiche nicht mal umgedreht hatte. Manche Kriminologen befürchten, dass gerade bei alten und kranken Opfern die unerkannten Mordfälle einen ganz erheblichen Anteil haben.

Und was für Männer sitzen in Tegel?

Das Alter der Insassen reichte von 28 bis 75 Jahren. 70 Prozent der Täter waren Deutsche, elf Prozent Türken, sieben Prozent Vietnamesen, die restlichen Täter kamen je einer aus Libanon, Nicaragua, Polen, Rumänien, Ukraine, Afghanistan, Albanien und Bulgarien. Insgesamt haben wir unter 100 Lebenslänglichen zehn Verurteilte, die bereits früher ein Tötungsdelikt begangen haben. Zehn Prozent – das ist eine stattliche Rückfallquote! Aber man muss diese zehn auf alle Tötungsdelikte beziehen, auch Totschlag und Versuche, und dann sind wir wahrscheinlich wieder bei drei Prozent.

Warum töten Männer?

Es gibt Tötungsdelikte aus überwiegend rationalen Motiven: um Beute zu machen, materiell oder sexuell. Und es gibt Tötungsmotive aus überwiegend emotionalen Motiven: aus Angst, Notwehr, Wut, Gereiztheit, Niedertracht, Rache ... Bei den Berliner Verurteilten dominierten bei den Männern sehr deutlich Motive, die mit Geld und Macht zu tun haben. Also klassisch kriminelle Motive bis hin zum Bandenkrieg wie zum Beispiel die Morde der Vietnamesen, wo eine Gruppe von Zigarettenhändlern eine andere praktisch ausgelöscht hat.

Es geht den Männern also eher um Berufliches als Privates?

Wenn man sein Geld mit Drogen, Prostitution oder Waffen verdient, wenn man bereits mit 24 im Lamborghini durch die Gegend fahren will, muss man dafür sorgen, dass niemand einem den Reichtum wegnimmt. In den 90ern agierten in Berlin serbische Diebesbanden, die aus einem dafür berüchtigten Belgrader Stadtteil stammten. Die hatten vor nix Angst, außer dem Verrat an die Polizei. Ein junger, gut aussehender und intelligenter Serbe erschoss damals einen vermeintlichen Verräter – vor den Augen zweier Frauen und eines Bandenmitglieds. Es war eine geschäftsmäßige Hinrichtung mit zwei Schüssen. Im Prozess waren die Zeugen verschwunden oder konnten sich an nichts erinnern. Der Mann wurde freigesprochen und kehrte nach Belgrad zurück, wo er vermutlich gefeiert wurde.

Profitgier kommt doch auch in den besten Familien vor.

Ja, zum Beispiel spritzte ein ehrgeiziger Oberarzt aus Süddeutschland einmal Schmutzwasser aus Putzeimern in Infusionen, mit denen sein Konkurrent erfolgreich schwer kranke Patienten behandelte. Er tötete Patienten, um dessen Studie zu ruinieren. In der U-Haft hat er sich das Leben genommen.

Gab es noch andere Überraschungen?

Das Männerkollektiv stellt sich insgesamt deutlich krimineller dar, als ich erwartet hatte. Die Konstellation des nicht vorbestraften, unbescholtenen Bürgers, der lebensgeschichtlich in Nöte geraten ist und sich schließlich zu der fatalen Entscheidung versteigt, einen Menschen zu töten, aus romantischen Motiven oder aus einer finanziellen Notlage heraus, kommt kaum vor.

Haben Sie in Ihrem Alltag als Gutachter andere Erfahrungen gemacht?

Nein, dass es sich bei Mord und Totschlag hauptsächlich um Beziehungstaten handelt, ist ein Mythos.

Teilen Sie die These, dass jeder Mensch zum Mörder werden kann?

Wer sich entscheidet, einen Konflikt mit Gewalt zu lösen und alles zu verlieren, stammt meist nicht aus stabilen Verhältnissen. Ein amerikanischer Sozialforscher hat herausgefunden, dass die Mehrheit der Erwachsenen rund um den Globus schon ernsthafte Mordfantasien hatte, Frauen wie Männer. Bei Frauen richteten sie sich vorrangig gegen eine Rivalin in Liebesdingen, bei den Männern häufiger gegen Rivalen im Arbeitsbereich. Der Abstand zwischen Todeswünschen und Töten ist zum Glück im geordneten Sozialwesen riesig. Man hätte, zumindest bei uns in Deutschland, zu viel zu verlieren.

Ist das der einzige Grund?

Seit frühester Kindheit sind wir zumindest im Privaten überzeugt: Du sollst nicht töten. Schon Tiere zu töten, ein Kätzchen zu ertränken, ist etwas Schlimmes. Das absichtliche Töten eines Menschen ist ein Sakrileg, eine Todsünde. Wir haben sehr hohe Hemmungen. Entsprechend ist es sehr selten. Wer mit eigenen Händen tötet, weiß, dass er eine letzte unverrückbare Grenze überschreitet. Er begeht sozialen Selbstmord.

Gibt es Mörder, die erst während des Gutachtens bei Ihnen ein Geständnis ablegen?

Das passiert manchmal, dass die Menschen reden wollen, weil sie sich im Gespräch ernst genommen fühlen und die Tat sie belastet.

Was sind das für Situationen?

Es ist für beide dramatisch, weil der Beschuldigte versucht, sich der Wahrheit zu stellen. Er steht zum ersten Mal zu dem, was er getan hat. Für den Psychiater ist das auch ein anrührender Moment, weil er merkt, was einer kann. Dass er bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen. Das Geständnis ist ein erster Hinweis darauf, dass jemand bestimmte Qualitäten hat. Im Strafverfahren mache ich, bevor der Mann anfängt zu reden, erst mal darauf aufmerksam, dass ich keine Schweigepflicht habe.

"Es gibt Totschläger, die sich nach der Tat einkoten und erbrechen"

Justizbediensteter in der JVA Tegel
Schlechte Prognose. Viele Millionen sind in den therapeutischen Ausbau der Sicherungsverwahrung gesteckt worden - viele Angebote sind unsinnig.

© IMAGO

Manche Menschen töten aus ideologischen oder rassistischen Gründen.

Unter den Verurteilten in Berlin gibt es mehrere Männer, die rechtsradikale Positionen vertreten oder vertreten haben. Aber in Tegel sitzt derzeit wohl keiner, der aufgrund seiner rassistischen oder ideologischen Motivation gemordet hat – abgesehen von dem Terroristen Johannes Weinrich, die rechte Hand des Terroristen Carlos. Weinrich war im Jahr 2000 für den Anschlag auf das Kulturzentrum Maison de France im Jahr 1983 verurteilt worden.

Was macht das mit einem Menschen, wenn er tötet?

Grob gesagt gibt es drei Typen: Es gibt Täter, die sich ihre Tat als sehr erregend vorgestellt haben, sie aber dann als katastrophal erleben. Totschläger, die sich bei der Tat einkoten, die nach der Tat erbrechen. Sie sind aber leider in der Minderheit. Dann gibt es welche, die es vergleichsweise leicht fanden und es vielleicht öfter täten, wenn das Risiko, erwischt zu werden, nicht so hoch wäre. Und es gibt welche, die finden das faszinierend. Weil sie sich stark fühlten, großartig und richtig männlich.

Ist das die Mehrheit?

Ich schätze, das sind so um die 20 Prozent. Doch bis heute gehört es zu den sorgsam gehüteten Geheimnissen des Gerichtssaals, dass viele Angeklagte ihre Tat zwar bedauern, diese aber eigentlich als grandioses, positives Erlebnis erinnern. Niemand gibt das im Prozess zu, um nicht als Bestie zu gelten.

Fällt Ihnen ein Beispiel aus Berlin ein?

Ein Krimineller berichtete mir, dass es halt ein guter Einstieg in die organisierte Szene sei, wenn man einen anderen Kriminellen, hier einen Russen, in eine Falle lockt und hinrichtet; man habe gleich ein ganz anderes Standing. Es gibt Männer, die töten just for fun.

Gibt es Mörder in der JVA Tegel, die zu gefährlich sind, um jemals freigelassen zu werden?

Ich kenne ja nur einige richtig gut. Ich habe in Bayern einige kennengelernt, die trotz hohen Alters körperlich und geistig fit geblieben sind, narzisstische und egozentrische Persönlichkeiten, die kein Schuldbewusstsein zeigen und nur darauf zu warten scheinen, es allen noch einmal zu zeigen. Aber wenn sie draußen sind, haben sie wahrscheinlich andere Sorgen.

Sie sind 2017 emeritiert. Doch Sie reisen nach wie vor durchs Land, um mit Mördern zu reden, Gutachten und Bücher zu schreiben ...

Ich habe mich schon immer für das Töten, Mörder und Totschläger interessiert, im Rahmen der forensischen Psychiatrie sind sie für mich das Nonplusultra. Das sind die Leute, die wirklich das ultimative Verbrechen begehen. Pädophile sind langweilig.

Was fasziniert Sie?

Leben und Tod, tödliche Gewalt, die in das Leben anderer einbricht und von einem Moment zum anderen alles ändert. Schon als Kind hat mich das beunruhigt. Ich bin fünfeinhalb Jahre nach Kriegsende geboren, als die Menschen noch sehr stark geprägt waren durch die Kriegserfahrung, auch meine Mutter.

Also haben Sie das zum Beruf gemacht?

Ich kann mich Mördern in zumeist sehr großer Sicherheit nähern und sie mir angucken, was entängstigend wirkt. Der Kontakt hilft zu begreifen, dass das Menschen sind, die in einer bestimmten Situation in einer bestimmten Phase ihres Lebens ein Tötungsdelikt begangen haben. Aber man kommt nicht als Mörder zur Welt und fährt als Mörder in die Grube. Es gibt keine biologische Kategorie, Mörder zu sein.

Haben Sie manchmal Angst, wenn Sie mit einem Mörder zusammensitzen?

Normalerweise ist das völlig ungefährlich, weil die Straftäter nicht den geringsten Grund haben, mir etwas zu tun. Bislang hat es nur eine Handvoll Situationen gegeben, die mir nicht nur gefährlich vorgekommen sind, sondern es vermutlich auch waren. Es handelte sich um kriminalprognostische Begutachtungen, wo es zum Beispiel darum ging, ob ein Ausgang verantwortet werden kann.

Erzählen Sie!

Da gab es einen Gymnasiasten, der in Meißen vor der Klasse seine Lehrerin mit vielen Messerstichen getötet hatte. Im Jugendknast hatte er fleißig Krafttraining gemacht und sah aus wie ein einziges Muskelpaket. Der wollte unbedingt Ausgang zu einem externen Therapeuten haben. Als klar wurde, dass ich das nicht unterstütze, kippte die Situation und er drohte mir. Wir saßen am Freitagnachmittag am Ende eines menschenleeren Flurs, er zwischen mir und der Stahltür. Redend kam ich schließlich an den Besucherknopf und drückte, und nach angespanntem Warten kam ein Bediensteter und ließ mich raus. Habe daraus gelernt.

Unterliegt Mord einem Zeitgeist?

Gerade in Berlin lassen sich im Laufe von 40 Jahren erhebliche Wandlungen im Umgang mit Delinquenten gut beobachten. Die Nachkriegsgeneration von Richtern wird als recht streng und wenig empfänglich für das Seelenleben der Täter geschildert. Damals gab es viele harte Strafen in Berlin. In den 70er und 80er Jahren entwickelte die West-Berliner Justiz in ihrem Inselleben eine ausgeprägte Liberalität. Es herrschte eine hohe Bereitschaft, beim Urteil psychosoziale Belastungsfaktoren in Rechnung zu stellen und milde zu bestrafen.

"Berliner Verteidiger haben mich zwei Jahre boykottiert"

Fenster in der JVA Tegel
Hinter Gittern. 100 Lebenslängliche saßen im Jahr 2014 in der JVA Tegel - im Alter 28 bis 75 Jahren. 70 Prozent der Täter waren Deutsche, elf Prozent Türken, sieben Prozent Vietnamesen, die restlichen Täter kamen je einer aus Libanon, Nicaragua, Polen, Rumänien, Ukraine, Afghanistan, Albanien und Bulgarien.

© IMAGO

Sie kamen 1996 nach Berlin. Was war da so in Mode?

Damals waren manche Anwälte in Moabit gutachterliches Entgegenkommen gewohnt und fanden es skandalös, dass ich nicht bereit war, schon vor Prozessbeginn am Telefon über das Ergebnis der Begutachtung zu verhandeln. Ich habe öfter, als es hier damals der Brauch war, jemanden für strafrechtlich verantwortlich gehalten. Eine Gruppe Berliner Verteidiger hat mich schließlich zwei Jahre lang als Gutachter boykottiert.

Erinnern Sie sich an einen besonders krassen Fall aus den 70er oder 80er Jahren?

Mehrere, einige finden sich auch in meinem Buch. Wie beispielsweise der eines jungen Mannes, der 20 Mal auf seinen Rivalen eingestochen hat, das reicht ja normalerweise für eineinhalb Tode. Danach hatte er die Leiche zerstückelt und in den Kanal geworfen. Weil man aber den Kopf nicht finden konnte, kam das Gericht zu dem Schluss, dass man ja nicht ausschließen könne, dass er nicht an den Messerstichen gestorben ist, sondern sich beim Kampf fatal den Kopf gestoßen hat. Also hat der Mann laut Urteil den Totschlag mit den Messerstichen nur versucht. Er kam nach zweieinhalb Jahren in die offene Abteilung. Jahre später stand er wegen Mordes am neuen Partner seiner Ex-Frau wieder vor Gericht.

Das ist doch absurd!

So etwas gab es in Berlin mehr als einmal. Wie bei dem Mann, der 1989 einem Trinkkumpan mit einem Survivalmesser fünfmal in den Rücken gestochen hatte und wegen Notwehr freigesprochen wurde. Dabei war das schon sein zweites Tötungsdelikt. Nach seinem dritten Totschlag hat er wieder auf Notwehr plädiert – jetzt allerdings vergeblich.

Was trieb die Richter zu solchen Urteilen?

Bei den Strafjuristen gab es seit 1968 den berechtigten Wunsch, vom wilhelminischen Umgang mit den Strafgefangenen wegzukommen: mehr Demokratie wagen, mehr Offenheit wagen, auch Straffälligen eine Chance geben. Das war wesentlich besser als vorher, aber es gab auch viel Naivität, die zu fatalen Folgen geführt hat. Damals war Resozialisierung das zentrale Motto. Dieser Gedanke ist leider verstorben.

Warum interessiert das niemanden mehr?

Angeblich will die Bevölkerung nur noch eines: Sicherheit. Seit Ende der 90er haben wir eine sicherheitsorientierte Richtergeneration, nicht nur in Berlin, die sehr sachlich, sehr juristisch denkt. Viele Richter wollen keine Risiken eingehen. Es ist heute deutlich schwieriger, die Leute nach Ablauf der Strafhaft wieder aus dem Gefängnis oder der Maßregel herauszubekommen.

Im Zweifel sind Richter und Anstaltsleiter jetzt zu streng?

Es geht nur noch um Sicherheit. Und im Strafvollzug und Maßregelvollzug suchen die Gutachter oft wie die Trüffelschweine nach dem letzten Restrisiko. Dabei geht der Blick darauf verloren, was diese Menschen für Ressourcen haben. Bei einem 79-jährigen Strafgefangenen, der multimorbide und gehbehindert ist und unter Diabetes leidet, muss ich inzwischen wirklich kämpfen, dass der noch rauskommt. Als wenn dieser Greis noch eine Frau auf offener Straße anfallen und vergewaltigen würde!

Früher galten Sie als der harte Hund. Und heute bitten die Anwälte Sie um Hilfe?

Ich bin die Fachkraft für die Ultralanglieger, alt und mehr als 15, 20, 25 Jahre eingesperrt. Die Lösung ist oft einfach: betreutes Wohnen, Nachbetreuung, Schutz vor Vereinsamung.

Wie viele der Langstrafer könnten in Freiheit leben, ohne eine Gefahr zu sein?

Im psychiatrischen Maßregelvollzug, wo psychisch stark gestörte Täter untergebracht werden, sitzen besonders viele übermäßig lang, weil der Maßregelvollzug zeitlich unbefristet ist. Etwa 25 Prozent der Leute sind da meines Erachtens viel zu lange weggesperrt.

"Ich habe unendlich viele Heimkinder unter meinen Probanden"

Schloss in der JVA tegel
Gute Prognose. Es gibt etliche Fälle unter den Langzeithäftlingen, die früher aus dem Gefängnis entlassen werden könnten.

© Arno Burgi (picture alliance / dpa)

Seit wann sitzt der dienstälteste Gefangene in der JVA Tegel?

Ich weiß es nicht. Ich hatte vor ein paar Jahren den damaligen Alterspräsidenten zu begutachten, der bereits 35 Jahre in Tegel saß. Der Mann hatte seit 20 Jahren keinen Antrag auf Haftentlassung gestellt, ein kleiner, in seinem Alltagsverhalten harmloser, schwach begabter, sehr wenig redefähiger Mann, der als 22-Jähriger ein Kind in Wedding in einem Mietshaus erwürgt hatte. Als er nach 15 Jahren bei einem Ausgang einem Mädchen geholfen hat, sein Fahrrad zu reparieren, soll er sich an der Unterwäsche des Kindes zu schaffen gemacht haben. Danach war er weitere 20 Jahre im geschlossenen Vollzug, machte nie Probleme, alle hatten ihn vergessen.

Und dann kamen Sie ...

Dann hat die Justizverwaltung einen Begutachtungsauftrag erteilt. Die Begutachtung war schwierig, weil ihm das Reden schwerfiel, er war dem Leben abhandengekommen. Als ich irgendwann sagte, dass draußen nichts mehr passieren darf, standen diesem Mann plötzlich Tränen in den Augen und er sagte: „Ja, was glauben Sie denn, was ich seit Jahren immer nur denke?“ Das war eine so anrührende Szene, die hat mich umgehauen in dem Moment, weil plötzlich unter dieser Verschüttung dieser Mensch heraustrat und deutlich wurde, wie er auch 35 Jahre später noch unter dieser Tat leidet und wie wichtig ihm ist, dass er so etwas nie wieder tut.

Was ist aus ihm geworden?

Er ist in Westdeutschland auf einer Art Bauernhof für Obdachlose in Bethel untergekommen. Da hat er sich ein Moped gekauft und mir noch Briefe geschrieben, um zu berichten, wie es weiterging. Er hat es wirklich gut gemacht.

Tötungsdelikte gehen in Deutschland seit 20 Jahren deutlich zurück.

1996 wurden noch etwa 4400 Fälle angezeigt, seit 2012 etwa 3000 Fälle pro Jahr. Dazu gehören auch die versuchten Taten. Die Aufklärungsquote liegt bei 95 Prozent. Die Zahl der Verurteilungen ist wesentlich niedriger und zuletzt ziemlich konstant geblieben. Wegen Totschlags verurteilt wurden 2017 insgesamt 509 Angeklagte, davon 35 Frauen, wegen Mordes 114 Erwachsene, davon 13 Frauen, und 13 nach Jugendstrafrecht.

Haben Sie in Ihrem Buch Erkenntnisse über die Rückfallquote gewonnen?

Weniger als zehn Prozent der Langstrafer begehen nach der Haft nochmals kleinere Delikte. Erneute schwere Verbrechen sind äußerst selten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Rückfallquote mit Tötungsdelikt im niedrigen einstelligen Bereich liegt.

Also haben Sie sich damals geirrt?

Ja, es sind sehr wahrscheinlich nicht mehr als drei Prozent, die ein zweites Mal töten.

Für wen haben Sie das Buch geschrieben?

Erst mal für mich. Ich habe immer schon erstaunlich gefunden, dass jemand, der tötet und bestraft wird, also weiß, dass er draufzahlt, dass so jemand wieder tötet. Man muss weiter darüber nachdenken, warum Menschen töten, schon beim ersten Mal. Schreiben hilft beim Denken. Jeder einzelne Fall kann etwas lehren.

Gibt es etwas, das alle Mörder gemeinsam haben?

70 bis 80 Prozent sind in instabilen, gewalttätigen Familien aufgewachsen, in denen Kinder nur überleben, wenn sie sich strikt egoistisch verhalten und oftmals eine Lebensweise als Einzelkämpfer entwickeln. Ich habe unendlich viele Heimkinder unter meinen Probanden.

Beim Lesen Ihrer Fälle braucht man einen robusten Magen: Da wird zerstückelt, gequält, vergewaltigt ...

Ich mache das so trocken wie möglich, aber das konkrete Tatgeschehen ist wichtig, um zu verstehen, was Mord ist, was Täter und Opfer erleben. Man sollte das Buch portioniert lesen, man darf auch ruhig mal ein paar Fälle weglassen. Bei einem Fall habe ich extra eine Konsumwarnung gemacht, weil mir das selber schon zu viel war.

Wenn man die Fälle liest, fällt eines auf: Alkohol. Immer wieder ist er ein Faktor. Bei der Sozialisation, bei der Tat, beim Rückfall ...

Alkohol spielt als einzige Droge eine große Rolle bei Gewalttaten – mehr als alle anderen Drogen zusammen. Weil Alkohol aggressiv enthemmt, die Bereitschaft, zuzuschlagen, wächst, und die Selbstachtung ist weggespült.

Was wäre, wenn es ab morgen keinen Alkohol mehr gäbe?

Also in Mecklenburg würden sich die Gefängnisse leeren. Aber im Ernst: Das Problem gibt es nicht nur im Norden.

Ist mal jemand auf Ihr Bestreben rausgekommen, der danach wieder getötet hat?

Nicht dass ich wüsste.

Hängt Ihnen eines Ihrer Gutachten heute noch nach, weil Sie später anders entschieden hätten?

Ich überprüfe meine Gutachten jedes Mal, wenn ich von erneuten Straftaten erfahre, diskutiere das auch mit Kollegen. Bislang bin ich mit mir im Reinen.

Wie hat sich in den 30 Jahren Ihr Blick auf den Menschen verändert?

Man wird mit diesen Schicksalen vertraut und mit dem Phänomen, dass der Mensch, der einem da gegenübersitzt, oft ein ganz kleines, hilfloses Licht ist, das jetzt dieser enormen Macht des Staates unterworfen ist. Manchmal frage ich meine Klienten, ob da draußen irgendjemand weiß, dass es sie gibt. Manche haben keinen einzigen Mensch auf der Welt. Früher war ich sehr streng, wollte jede einzelne Lüge aufdecken und widerlegen. Das würde ich am liebsten immer noch, aber ich kann heute menschliches Versagen besser verstehen. Es steht mir nicht zu, als moralischer Oberrichter den Insassen zu verachten.

Aber gegen Ihre Kollegen teilen Sie immer noch ganz gerne aus ...

Wo die Justiz Murks macht, kriegt sie gelegentlich verbal einen vors Schienbein, das merkt die gar nicht ...

... und die Psychologen in den Gefängnissen auch.

Weil ich mit zunehmendem Alter immer unduldsamer und verzweifelter bin über das Ausmaß an Dickfelligkeit und Empathielosigkeit gerade von Leuten, die zu therapeutischen Aufgaben berufen sind. Zu viele betätigen sich in bürokratischer Weise als Gefährlichkeitspfadfinder und allein als Agenten öffentlichen Sicherheitsstrebens. Ich erlebe immer wieder, dass Klinikmitarbeiter an den Patienten ihre eigenen Erziehungsvorstellungen exekutieren und das für Verhaltenstherapie halten. Ständig führen sie dem Patienten seine Schwächen vor. Mit Strafen und Zurücksetzungen will man einen braven Patienten aus ihm machen.

Kann man da etwas tun?

Es gibt Kliniken und Gefängnisse, außerhalb Berlins, wo ich jede Hoffnung aufgebe, dass die mit ihren Insassen etwas Gutes anfangen. Diese Insassen müssen sich selbst helfen und Glück haben. Oder in eine gute Einrichtung verlegt werden – davon gibt es inzwischen gottlob etliche.

Gibt es einen kleinsten gemeinsamen Nenner bei den Rückfalltätern?

Als ich alle Fälle zusammenhatte, habe ich gemerkt, dass das Situative und das Zufällige in den Biografien der Menschen eine viel größere Rolle spielt, als wir das mit forensischen Risikomodellen erfassen. Das Leben – es kann einen beschenken, es kann aber auch mit einem Schlitten fahren.

Dann ist jede Prognose vor einer Entlassung nur Kaffeesatzleserei?

Nein, sie macht begründete Wahrscheinlichkeitsaussagen. Wer viele Risikofaktoren mit sich bringt und nach wie vor ein kriminelles Handlungskonzept hat, bei dem besteht eine größere Gefahr, dass er rückfällig wird.

Welche Eigenschaften erhöhen das Risiko?

Wenn der Straftäter beim ersten Kapitaldelikt noch sehr jung war und nach Jugendstrafrecht verurteilt wurde – also höchstens zehn Jahre. Im Jugendknast haben junge Mörder sofort einen hohen Status, selbst gegenüber Bediensteten. Sie genießen Respekt und bekommen kriminelle Angebote. Nicht gerade von Vorteil für die Resozialisierung. Wieder in Freiheit, bleiben den jungen Männern normale Erfolgswege meist verschlossen.

Wer ist noch gefährdet?

Die verrohten Einzelgänger, Obdachlosen-Rambos, die wissen, dass ihr Leben gescheitert ist, denen im Grunde das meiste egal ist und die sich auf niedrigstem Niveau über andere erheben. Außerdem besteht psychiatrisch der Verdacht, dass Männer, die einmal den Triumph des Tötens genossen haben, eine anhaltende Gefährlichkeit in sich tragen.

Und die enttäuschten Liebhaber?

Bei den Fällen mit erneutem Tötungsdelikt hatte die Mehrheit ein Problem mit Frauen; das war bei den Tätern mit nur einem Mord nicht so. Einerseits sind für sie Frauen ganz wichtig, sie können nicht ohne. Anderseits werden die Frauen verachtet, aber noch öfter gefürchtet; sie kommen mit Frauen und deren Art nicht zurande. Liebhaber kann man sie kaum nennen.

Wie können wir uns besser schützen vor Gewalt und Mord?

Viele Millionen sind in den therapeutischen Ausbau der Sicherungsverwahrung gesteckt worden. Bessere Unterbringung ist gut, das therapeutische Überangebot ist unsinnig. Der Glaube an die Therapierbarkeit von Kriminalität hat illusionäre Ausmaße angenommen. Die Erfolgsquoten von Kriminaltherapie psychisch gesunder Täter sind dürftig. Das Wissen, dass man mit DNA-Spuren jeden Sexualstraftäter überführen kann, hat sicher mehr Vergewaltigungen verhindert.

Es gibt also keine Prävention?

Die wichtigste Prävention ist ein sichtbares, eindeutiges und wirksames Auftreten staatlicher Repräsentanz von Gewalt. Mögliche Täter müssen eingeschüchtert werden, indem ihnen eine rasche Ergreifung und Bestrafung garantiert wird.

Gibt es denn auch Menschen, die man guten Gewissens entlassen kann?

Genügend. Zumal die Frauen. Ich habe in den 30 Jahren nicht einen einzigen Fall gefunden, bei dem eine Frau nach Bestrafung ein zweites Mal getötet hat.

Hans-Ludwig Kröber ist aufgewachsen zwischen psychotisch Kranken und Anfallskranken in der diakonischen Einrichtung in Bethel in Bielefeld, wo seine Eltern als Psychiater arbeiteten. Er studierte in Münster Medizin und engagierte sich Mitte der 70er Jahre im KBW, einer maoistischen linken Splittergruppe. Nach Verteidigung eines ungenehmigten Wahlkampfstands gegen Polizisten wurde er wegen Widerstandes verurteilt. Er habilitierte sich in Heidelberg. 1996 kam Kröber nach Berlin und war bis zu seiner Emeritierung 2016 Direktor der forensischen Psychiatrie an der Charité.

Bis heute forscht Kröber über die psychosozialen Hintergründe von Gewalt- und Sexualverbrechen und erstellt Kriminalprognosen bei Straftätern. Er trat als psychiatrischer Sachverständiger in vielen aufsehenerregenden Strafverfahren auf: 2010 begutachtete er die Mutter, die ihre siebenjährige Tochter Jessica in einem Hamburger Hochhaus verhungern ließ. In Berlin begutachtete er den wegen mehrfachen Mordes angeklagten Hautarzt und auch die Angeklagten im La-Belle-Prozess. Auch mit dem Fall Gustl Mollath war Kröber befasst. Im Mordfall Peggy kam er zu dem Ergebnis, dass das widerrufene Geständnis vermutlich auf tatsächlichem Erleben beruht. Ulvi K. wurde 2004 wegen Mordes verurteilt, nach einer Wiederaufnahme 2014 – und erneuter Begutachtung durch Kröber – jedoch freigesprochen, weil ihm das Geständnis durch die Polizei suggeriert worden sein könnte. Anfang Januar gaben Unterstützer von Ulvi K. bekannt, dass sie den Psychiater zu 350 000 Euro Schadensersatz verklagt hätten. Solange Kröber die Klageschrift nicht kennt, will er sich dazu nicht äußern.

Am Donnerstag (14. Februar) erscheint das neue Buch von Hans-Ludwig Kröber: „Mord im Rückfall – 45 Fallgeschichten über das Töten“, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 19,95 Euro.

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