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Bei einer Untersuchung war bei einem der Zwillinge eine hochgradige Hirnschädigung festgestellt worden (Symbolbild).

© Daniel Karmann/dpa

Prozess um Tod eines Zwillings: War es eine Spätabtreibung oder Totschlag?

Am Berliner Landgericht sind zwei Gynäkologen angeklagt. Der Vorwurf: Sie sollen bei der Entbindung einen schwer erkrankten Zwilling getötet haben.

Bei einer Zwillingsgeburt in Berlin sollen zwei Frauenärzte nach der Entbindung eines gesunden Kindes das an einer schweren Hirnschädigung erkrankte zweite Kind mit Kaliumchlorid getötet haben: Die beiden angeklagten Gynäkologen haben den Vorwurf des Totschlags vor dem Berliner Landgericht zurückgewiesen.

Als vor rund neun Jahren ein an einer schweren Hirnschädigung erkrankter Zwilling nicht lebend entbunden wurde, hatten die verantwortlichen Frauenärzte keinen Zweifel. „Wir wollten eine maximal hohe Sicherheit für den gesunden Fötus“, sagte Babett R. am Dienstag vor dem Landgericht. Neben der 58-jährigen Oberärztin muss sich Klaus V., ein Chefarzt im Ruhestand, verantworten. Ihnen wird Totschlag zur Last gelegt.

Ein Fall, der sehr speziell ist und zugleich tiefgreifende Fragen aufwirft. Wann beginnt die Menschwerdung?

Die Staatsanwältin zitierte die Rechtslage in Deutschland: „Mit Beginn der Eröffnungswehen oder mit Eröffnung des Uterus im Fall eines Kaiserschnitts beginnt die Geburt. Dann handelt es sich um einen Menschen und nicht mehr um einen Fötus.“ Nur vor Einsetzen der Wehen und damit vor der Geburt hätte ein „selektiver Fetozid“ vorgenommen werden dürfen. Sie aber hätten den erkrankten Zwilling nach Entbindung des ersten Kindes mit einer Kaliumchloridinjektion getötet.

Juristisch gesehen also trennen eine Spätabtreibung, den Fetozid, und einen Totschlag an einem Kind nur Minuten. Klaus V. erklärte, die deutsche Definition „Fötus“ sei lediglich auf ein Einzelkind anwendbar. Zu dem Vorgang vor neun Jahren in einem Klinikum sagte der 73-jährige V.: „Im Vordergrund stand nicht das Juristische, sondern das gesunde Kind.“

„Im Vordergrund stand nicht das Juristische, sondern das gesunde Kind“

Es geschah im Juli 2010. Eine damals 27-Jährige, die zunächst in einer Klinik in Hamburg behandelt worden war, suchte Hilfe. In der 29. Schwangerschaftswoche wurde sie an ein Berliner Klinikum überwiesen. Es handelte sich um eine eineiige Zwillingsschwangerschaft. Die Föten teilten sich die mütterliche Plazenta.

Bei einer pränatalen Fachuntersuchung war kurz zuvor bei einem Zwilling eine hochgradige Hirnschädigung festgestellt worden. Sie habe ausführlich mit den Eltern gesprochen, so die 58-jährige Oberärztin. „Sie haben sich zu einem selektiven Fetozid entschieden.“

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die beiden Angeklagten bewusst den in diesem speziellen Fall angezeigten ärztlichen Weg nicht beschritten.

Der erkrankte Zwilling hätte vor der Geburt getötet werden müssen, so die Anklage. Ein selektiver Fetozid sei vorzunehmen gewesen – „wobei zu einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft vor Einsetzen von Wehen der betroffene Zwilling durch eine Elektro- beziehungsweise Laserkoagulation der Nabelvene abgetötet wird und mit dem gesunden Zwilling bis zur Geburt im Uterus verbleibt.“

Anklage: Lasermethode vor Einsetzen der Wehen

Die Patientin war in der 32. Schwangerschaftswoche, als es zu Wehen kam. Sie hätten überlegt, wie der sicherste Weg für den gesunden Zwilling sein könnte, so die Angeklagten. Bei der Lasermethode seien bei einem Fall in Berlin beide Kinder verstorben.

Als sicherste Methode hätten sie einen Kaiserschnitt gesehen: „Entbindung des gesunden Kindes und dann ein Fetozid im Mutterleib.“ Dabei seien sie davon ausgegangen: „Solange der Fötus im Uterus ist, ist es ein Fötus – und wir sind auf der sicheren Seite.“

So schilderte es die Oberärztin. Der Richter nahm es kopfschüttelnd: „Haben Sie sich nie mit der Frage beschäftigt, wann beginnt die Geburt – auch rechtlich?“ Das sei doch eine grundsätzliche Frage. Auch wenn es ein Sonderfall sei. „Eine rechtliche Beratung haben wir nicht eingeholt“, sagte die Oberärztin.

Wann beginnt die Geburt?

Es war 5.16 Uhr, als die Bauchdecke der Patientin geöffnet wurde. Vier Minuten später wurde ein 40 Zentimeter langes, und 1670 Gramm schweres Mädchen zur Welt gebracht und abgenabelt. Dann klemmten die Gynäkologen die Nabelschnur des zweiten Zwillings ab, sodass die Blutzufuhr unterbrochen wurde. „Sodann injizierten sie in die Nabelvene 20 ml Kaliumchlorid. Um das Kind zu töten.“

Als der Herzschlag ausgesetzt hatte, brachten sie das zweite Mädchen tot zur Welt. Zur Anzeige kam es drei Jahre später – anonym und mit dem Hinweis, dass es sich um einen Mitarbeiter handele, der die in seiner Klinik praktizierte Spätabtreibung nicht mehr ertragen könne.

Drei Jahre später erhob die Staatsanwaltschaft gegen R. und V. Anklage. Nun wird es auch auf die Einschätzung eines Gutachters ankommen, der am Prozess teilnimmt. Für die Verhandlung sind fünf weitere Tage bis zum 29. November geplant. In einer Woche sollen die Eltern des getöteten Zwillings befragt werden.

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