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Der Regierende wirft bei seiner Sommertour einen skeptischen Blick auf die Maschine, die Desinfektionsmittel abfüllt.

© DAVIDS/Sven Darmer

Pop und Müller besuchen Berliner Betriebe: Wie eine Sommertour in Pandemiezeiten funktioniert

Hände desinfizieren, statt schütteln: Mitten in der Krise besuchen Wirtschaftssenatorin und Regierender einen Familienbetrieb und ein Start-up.

Bitte die Hände desinfizieren!“ krächzt der Automat am Werkseingang, und Firmenchef Frank Becker fügt nicht ganz unstolz hinzu, den habe man selbst entwickelt. Aber als dann Michael Müller und Ramona Pop im Collonil-Haus in Reinickendorf eingetroffen sind, wird das Ding doch klammheimlich stummgeschaltet. Nerven soll es nicht, denn die Nerven der hier anwesenden Entscheidungsträger sind durch die Seuche hinreichend strapaziert.

Dies ist das Sommerritual der Senatspressestelle und der ihr vertrauten Journalisten. An sich. Denn die jahrzehntealte Übung, ein wenig durch die Stadt zu fahren und erfolgreichen Unternehmern auf die Schultern zu klopfen, funktioniert in diesem Jahr nicht so recht, die Frage wäre ja eher: „Wie haben Sie denn bisher so überlebt?“

Und der Startpunkt der diesjährigen Fahrt mit Müller & Pop, Bombardier im brandenburgischen Hennigsdorf, fällt zudem abrupt flach, weil Müller&Pop an diesem Vormittag allerhand damit zu tun haben, Karstadt den Puls zu fühlen. Insofern: Keine Station im Nachbarland, bedauerlich, weil Bombardier ein paar Streicheleinheiten aus der Hauptstadt sicher gemocht hätte.

Becker ist nun zweifellos einer der Berliner Vorzeigeunternehmer. Seine Firma, 111 Jahre alt, wollte 2020 das „Jahr der Schuhpflege“ und es ordentlich krachen lassen – und dann, im März, interessierte sich plötzlich kein Mensch mehr für Schuhpflege, zumal der Einzelhandel war mehr oder weniger tot.

Becker meldete Kurzarbeit an und beschloss dann mit seinen Leuten, ins Desinfektionsfach umzusteigen: „Wir hatten eine Anfrage aus China, ob wir nicht was zum Desinfizieren von Schuhen anzubieten hätten“. Hatten nicht, konnten aber, denn die Geräte zum Zubereiten und Abfüllen waren ja da, die Kapazitäten auch, und so wurde innerhalb kürzester Zeit die Produktlinie „Collonil bleu“ geboren, verschiedene antivirale Mittel für Textilien, Schuhe, Waschmaschinen.

Auf Sommertour: Der Regierende Bürgermeister.
Auf Sommertour: Der Regierende Bürgermeister.

© picture alliance/dpa

„Das 360-Grad-Hygienekonzept“ rettete die Firma über die schlimmsten Zeiten, aber es hatte auch seine Zeit: „Ziemlich genau Ende Mai“, sagt Becker, brach die Nachfrager abrupt wieder ein, „da fühlten sich die Leute offenbar wieder sicherer“.

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Auf Dauer muss Becker er zum Kerngeschäft zurück, muss den Schuhen auf der ganzen Welt wieder Schönheit, Sauberkeit und Dichtigkeit verleihen, „aber das wird sicher noch ein Jahr dauern“. Schon jetzt aber funkelten seine Schuhe viel schöner als die des Regierenden Bürgermeisters. 111 Jahre Schuhpflege verpflichten – 1909 gründeten Karl Esslen und die Brüder Salzenbrodt einen Betrieb, der für einen schwedischen Ölhersteller Lederöl in Flaschen abfüllte.

Daraus wurde das international bekannte Unternehmen, das die Kriege überstand und seit 1956 auf einem großen Grundstück in Wittenau ansässig ist. Später rollte man den Markt mit revolutionären Erfindungen wie dem „Selbstglanz“ auf, der Tube mit Auftrageschwämmchen, profilierte sich als betont grünes Unternehmen, entwickelte Auto- und Flugzeugpflegemittel.

Und Becker erweckt den Eindruck, als werde das auch so weitergehen, denn er bedankt sich für die Unterstützung der Politik und der „Berlin Partner“, deren Mitglied er ist, denn man habe ihm besonders bei der schweren Aufgabe geholfen, schnell Grundprodukte für die Desinfektionsmittelproduktion aufzutreiben. Grundsätzlich, so betont er, habe aber das Kurzarbeitergeld rettend gewirkt, das sei aus seiner Sicht wichtiger als Kredite oder Soforthilfen.

Im Start-up ist der Aufzug kaputt

Traditionsunternehmen und Start-up nebeneinander – das ist das Basisprinzip dieser Sommerrundfahrten. Jeder kennt Collonil, keiner kennt Amboss. Jedenfalls, wenn er nicht professionell irgendetwas mit Medizin zu tun hat.

Das Unternehmen, dessen Berliner Sitz unter einem Dach in der Torstraße gleich neben dem Soho-House versteckt ist und im Sommer vermutlich viel Geld für mobile Klimageräte ausgeben muss, bietet medizinische Information für Profis an, gesammelt und aufbereitet von Ärzten, die nicht praktizieren, sondern aktuelle Fakten sammeln und der Kollegenschaft zugänglich machen. Ein Online-Lexikon mit Abonnementsmodell also, das den Anspruch erhebt, den Arzt vom Medizinstudium bis in die Rente zu begleiten.

Ein richtiges Firmengebäude ist das also nicht, und die Pressevertreter hecheln zu Fuß in den siebenten Stock, weil einer der beiden Fahrstühle kaputt ist und der andere unter Corona-Regeln Stunden gebraucht hätte, um alle nach oben zu bringen. Michael Müller ist im Dienstwagen schneller gewesen und plaudert schon Gründer Jan Sievert Weiss stellt die Distanz zur Old Economy schon rein optisch aus, trägt kurze Hosen und Sneakers im Kontrast zu Beckers Anzug.

Desinfektionsmittel im Akkord.
Desinfektionsmittel im Akkord.

© dpa

Die Start-Up-Atmosphäre durchzieht die Dachstuben, es gibt Küche, Kaffeemaschine und Sauna, wenngleich im Moment nur einzelne Beschäftigte im Büro arbeiten. Doch Amboss ist ein ganzes Stück weiter, beschäftigt 230 Mitarbeiter in Berlin und 100 weitere in Köln und New York mit klarem Expansionsdrang.

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Wenn Corona hier Schrammen hinterlassen hat, ist das nicht zu bemerken, denn das Produkt, das Amboss herstellt, hat ja Konjunktur: Gerade jetzt wurde viel Zeit darauf verwendet, besonders zum Thema Covid-19 immer auf dem Laufenden zu sein, und das in fünf Sprachen.

Das Portal bietet sowohl Basis-Info und Videos zu grundlegenden Dingen wie der richtigen Desinfektion, stellt aber auch den Stand der Dinge in der Virologie dar – ein Kunststück, das auch dem besten analogen Lexikon nicht gelungen wäre. 75 Ärzte ringen hier ständig und in Vollzeit um Fakten und Fakes, hinzu kommen Grafiker, medizinische Zeichner, IT–Fachleute.

Sie liefern konkrete Handlungsempfehlungen, Lehrbuchwissen, aber, wo das fehlt, auch „Best practice“ nach aktuellem Wissensstand. Häufig kommen Impulse zur Erweiterung von praktizierenden Ärzten, und das wissen der Fachgesellschaften in den einzelnen Richtungen bildet die Basis.

„Wie sind Sie denn darauf gekommen?“ fragt Müller, und Sievert Weiss antwortet: „Weil es das nicht gab, und wir es haben wollten im Studium.“ Gelegentlich gebündeltes Wissen sei im Internet natürlich verfügbar, aber nicht systematisch aufgeschlüsselt und abrufbar. So kam dann über die vergangenen zehn Jahre eins zum anderen, und die Internationalisierung schritt voran, mit New York als Knalleffekt. „Wäre Boston nicht medizinisch sinnvoller gewesen?“ fragt Müller, und Sievert Weiss gibt eine Start-up-Antwort: „Ja, vielleicht, aber es muss ja auch ein wenig Spaß dabei sein.“

Zurück, die Treppe hinunter. Ramona Pop hatte sich schon bei Collonil verabschiedet. Zu viele Krisen zu bewältigen im einstigen Sommerloch.

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