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Eine Radfahrerin fährt über die Warschauer Brücke.

© Kitty Kleist-Heinrich

Plädoyer für die Hauptstadt: Ich bin in Berlin angekommen

Junge Leute in Berlin: oberflächlich, hip und nur aufs Feiern, nicht auf Freundschaft aus? Tagesspiegel-Autorin Nantke Garrelts empfindet es so. "Stimmt nicht!" entgegnet nun Leonie Langer: In Berlin kann man Freunde finden und sich auch als Zugezogene zu Hause fühlen. Eine Entgegnung.

Erst gestern hatte ich wieder einen dieser Momente: Im Sonnenuntergang radelte ich über die Gleisbrücke an der Warschauer Straße, umkurvte die Party-Touristen, die Alkoholleichen und Glasscherben, während unten die Schienen im letzten Licht glänzten, der Fernsehturm in der Ferne rosa umwölkt. Jaa! Berlin! ruft es in mir. Und: Hurra, ich lebe hier!

Auch ich bin eine Zugezogene. Aber anders als meine Kollegin Nantke Garrelts, die am Sonntag im Tagesspiegel schrieb, warum sie die Stadt nun wieder verlässt, weiß ich: Ich bleibe hier. Aber bis ich mir da so sicher war, hat es eine Weile gedauert.

Sommer 2010. Nach vier Jahren im beschaulichen Münster war ich reif für die Großstadt. Ich freute mich riesig auf Berlin, einzig meine Freunde ließ ich wehmütig zurück. Ein bisschen Angst hatte ich schon, keinen Anschluss hier zu finden. Trotzdem mietete ich einen Umzugswagen, packte Kartons und Fahrrad ein, und auf ging’s.

In Berlin trifft man alte Bekannte wieder

Was meine sozialen Kontakte betraf, hatte ich vorgesorgt und per Facebook sämtliche Leute angeschrieben, von denen ich wusste, dass sie in Berlin leben. Alte Schulfreunde, die es aus der niedersächsischen Heimat schon vor mir hierher verschlagen hatte; Leute, die ich beim Erasmus-Jahr und bei Praktika kennengelernt und zu denen ich den Kontakt vorher eher sporadisch gepflegt hatte. Ich sei jetzt in Berlin, da müsse man sich doch unbedingt mal auf einen Kaffee treffen, oder? Ich hatte schon ein Dutzend Verabredungen, bevor ich überhaupt angekommen war.

Ich fand ein WG-Zimmer in Friedrichshain; die Schulfreunde, in meinen Augen inzwischen sehr erfahrene, alteingesessene Berliner, hatten mich vorher belehrt, man könne überhaupt nur in Friedrichshain, Kreuzberg oder Neukölln wohnen. Dann begann die Uni und damit eine muntere Odyssee. Ich stellte fest, dass man tatsächlich auch in anderen Bezirken Berlins leben kann und reiste von da an regelmäßig mehrere Stunden durch die Stadt, zu Referatstreffen nach Schöneberg, zu Kochabenden nach Moabit, zu Partys nach Charlottenburg; nur meine Uni war blöderweise in Dahlem. Das mit den geplanten WG-Abenden mit meinen beiden Mitbewohnern klang auch nett, nur war ich irgendwie nie zu Hause.

Sich in Berlin zu Hause fühlen - das braucht seine Zeit

Manche, darunter auch meine Kollegin, sagen, in Berlin gebe es nur oberflächliche Selbstdarsteller, feierwütige Hipster, Hedonisten – die echten Berliner dagegen treffe man gar nicht. Ich habe genau das Gegenteil erlebt. Klar, es ist ein großer Vorteil, hier zu studieren; wenn man stundenlang über gemeinsamen Referaten brütet und sich danach mit einem Bier belohnt, bringt einen das näher als eine flüchtige Barbekanntschaft. Und eine Handvoll meiner Freunde sind sogar tatsächliche Berliner – inzwischen.

Bis es so weit war, bis aus Kommilitonen wirkliche Freunde geworden waren und ich herausgefunden hatte, mit welchen der Bekannten von früher ich mir mehr zu erzählen hatte als „Und was hast du die letzten Jahre so gemacht?“, bis dahin brauchte es seine Zeit.

Nach meinen ersten Wochen war ich erst mal ziemlich fertig. Ich hatte so viele alte und neue Bekannte getroffen, außerdem rannte ich in die Theater und Museen der Stadt, als könnten sie am nächsten Tag verschwunden sein. Schon gleich zu Beginn wollte ich am liebsten alles gesehen haben von Berlin, wollte mich zu Hause fühlen, mich nicht mehr dauernd verlaufen. Je verkrampfter ich das versuchte, desto weniger klappte das.

Erstmal mit dem Rad durch den eigenen Kiez

Irgendwann merkte ich: Man darf nicht gleich alles wollen. Nicht von den Menschen, und schon gar nicht von Berlin. Ich fing an, nicht mehr jede Tour durch die Bars mitzumachen, sondern traf häufiger diejenigen, die bei mir in der Nähe wohnten, ich fuhr öfter mit dem Fahrrad, nicht gleich durch die ganze Stadt, erst mal durch meinen Kiez. Ich entdeckte den kleinen Park, ein paar Häuserecken weiter, wo ich so manchen sonnigen Nachmittag mit Buch und Decke verbrachte anstatt über den Ku’damm oder die Friedrichstraße zu latschen, da war’s mir einfach zu groß und wuselig. Sonntags ging ich lieber auf den kleinen Flohmarkt auf dem Boxhagener Platz, der in Fußnähe war, und überließ den Mauerpark den Touristen und Hipstern. Der türkische Verkäufer der Bäckerei in meiner Straße begann zu grüßen, wenn er vor dem Laden eine rauchte und mich vorbeiradeln sah, und wenn ich was kaufte, steckte er mir oft noch zwei süße Teilchen in die Tüte.

Tagesspiegel-Mitarbeiterin Leonie Langer lebt seit 2010 in Berlin und fühlt sich inzwischen hier zu Hause.
Tagesspiegel-Mitarbeiterin Leonie Langer lebt seit 2010 in Berlin und fühlt sich inzwischen hier zuhause.

© Kai-Uwe Heinrich

Angekommen - nach fast drei Jahren

Und ganz allmählich setzte es ein, das Zuhausegefühl. Man muss eben das Kleine im Großen suchen, das habe ich gelernt. Berlin hat viel zu viele Menschen und viel zu viele schöne (und mindestens genauso viele hässliche) Ecken, da kann man gar nicht gleich wissen, wo und mit wem man sich am wohlsten fühlt. Erst mal reicht es, wenn man sich mit einem kleinen Radius vertraut macht. Der Rest kommt von alleine. Irgendwann begannen sie aufzublitzen, diese Großstadtmomente wie gestern auf der Warschauer Brücke. Diese Momente, in denen ich stolz bin, ein kleiner Teil des großen ganzen Berlin zu sein. Das liebe ich an der Stadt: Man kann für sich sein, jeder Kiez ist ja ein kleines Städtchen für sich. Aber wenn man will, kann man raus und die endlosen Weiten der Stadt erkunden, stundenlang unterwegs sein, sich verlieren.

Ich fahre nach Hause. Das sage ich heute, wenn ich nach Berlin zurückfahre. Seit zwei Jahren und neun Monaten lebe ich hier, mittlerweile in Neukölln. Auch da musste ich mich erst mal zurechtfinden. Und noch immer dauert der Kennenlernprozess an, in meinem neuen Kiez, aber auch in ganz Berlin. Ob er jemals ganz abgeschlossen sein wird? Ich bin mir da nicht so sicher. Aber gerade das ist ja das Tolle. Die Party-People und Berlin-Touristen wird es immer geben, manche reisen durch, andere stranden hier für eine Zeit, einige bleiben nur ein paar Tage, andere Wochen oder Monate. Ein richtiger Berliner zu werden, das dauert länger, viel länger. Aber es lohnt sich, da bin ich mir ganz sicher.

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