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Tiefe Bindung. Wenn es gut läuft, ist die Beziehung zu leiblichen und Pflege-Kindern gar nicht so unterschiedlich.

© ISTOCK

Pflegefamilien in Berlin: Wie die eigenen Kinder

Pflegeeltern sind offiziell „freie Mitarbeiter des Jugendamts“. Und fühlen sich doch als Mütter und Väter. Die leiblichen Eltern spielen aber oft auch noch eine Rolle – so entstehen ganz besondere Familien.

Und irgendwann stand auch die Frage im Raum, vor der sie vielleicht die meiste Angst hatte. Die Frage: Warum tust du dir das an? Warum sitzt du hier mit einem Schreibaby, das dich schier um den Verstand bringt, das gar nicht deins ist? Was hat dich da geritten?

Aber beides sei vorbeigegangen: der Zweifel und die Schreierei. Das eine eher, das andere später. Und wer weiß denn, ob nicht leibliche Mütter in der gleichen Situation genauso denken?

Was sie geritten hat, war ein großer Kinderwunsch, der sich nicht erfüllte, weshalb Johanna Kurz* und ihr Mann einen anderen Weg wählten, trotzdem eine Familie zu werden. Sie meldeten sich beim Verein „Familien für Familien“, der Kinder vermittelt, die nicht bei ihren Eltern bleiben können.

In den Räumen von „Pflegekinder Berlin“ besuchten sie wie alle angehenden Pflegeeltern eine Einführungsveranstaltung, lernten die Kurzzeitpflege (Tage bis maximal sechs Monate) und Langzeitpflege kennen, entschieden sich fürs Zweite, machten Vorbereitungsseminare und Grundqualifikationskurse, wurden zu Hause besucht, auf ihre Motivation überprüft, auf finanzielle Verhältnisse und ihre Paarbeziehung, es wurde durchaus privat. Dann bekamen sie eine Liste, in der sie ankreuzen konnten, was für ein Kind sie wollen. „Wie bei einer Katalogbestellung“, sagt Johanna Kurz. Sie kreuzten an Geschlecht egal, Hautfarbe egal, Alter null bis vier Jahre, Geschwister möglich, Behinderungen auch – und dann warteten sie.

Das Verhältnis zu den leiblichen Eltern ist oft fragil

Knapp 2800 Kinder leben in Pflegeverhältnissen. Es könnten mehr sein. Der Senat macht Werbung, sucht Pflegeeltern, die billiger sind als Heimunterbringung. Angesprochen werden dabei alle Berliner, bei der Vermittlung werde aber Rücksicht auf Vorlieben der leiblichen Eltern genommen. Die gehörten schließlich mit zum Pflegeverhältnis, sagt Ellen Hallmann von „Familien für Kinder“. Das ist oft fragil, weshalb die Pflegefamilien nicht mit ihrem richtigen Namen in der Zeitung stehen möchten.

Als bei Johanna Kurz das Telefon klingelte und sie hörte, was im Angebot war, musste sie sich setzen. Zwillinge, Jungs, sechs Monate alt. Die Eltern lieb, aber erziehungsunfähig, türkische Wurzeln. Die Kinder seien bereits in Kurzzeitpflege, hätten Entwicklungsdefizite, keine Gewalterfahrung. Das klang gut.

Die Sorge, die Kinder könnten ihnen unsympathisch sein, verflog in der Sekunde, als einer der Jungs sie anlächelte und sich zutraulich an sie schmiegte. Das sei noch nie vorgekommen, habe die Kurzzeitpflegerin gesagt. Wer würde das nicht als Zeichen nehmen?

Es geht um die Kinder, nicht um die Erwachsenen

Das kinderlose Pädagogenpaar hatte von jetzt auf gleich zwei Säuglinge. Johanna Kurz reduzierte ihre Arbeitsstelle auf 50 Prozent, ihr Mann war nach einer Umschulung ohnehin zu Hause. Mit dem Pflege- und Kindergeld seien sie gerade so hingekommen, sagt Johanna Kurz.

Sie öffneten ihre Herzen für den Zuwachs und sollten sich doch immer gewahr sein, dass die Kinder Eltern haben, die ihre Kinder sehen wollen und sollen. „In erster Linie sind die Pflegeeltern freie Mitarbeiter des Jugendamts“, sagt Ellen Hallmann. Es geht um die Kinder, nicht um die Erwachsenen. Bei Kurz’ kam hinzu, dass der Zwillingsvater anfangs auf Konfrontationskurs war. Dass man ihm die Kinder wegnahm, kratzte an seiner Ehre. Auch das gab sich langsam. Kinder, Pflege- und Herkunftsfamilien würden engmaschig betreut, sagt Hallmann. Johanna Kurz bestätigt das, sie habe sich nicht alleingelassen gefühlt.

Heute – es sind fast vier Jahre vergangen – nennt sie das Verhältnis zu den Herkunftseltern „herzlich“. Was sie jetzt teilen, sind Ausgrenzungserfahrungen. Wenn Johanna Kurz auf dem Spielplatz die Kinder bei ihren nichtdeutschen Namen rufe, ernte sie geringschätzige Blicke, sagt sie. Damit habe sie nicht gerechnet. Dafür habe neulich der Vater zu ihr gesagt, er sei froh, dass seine Jungs bei Johanna seien. Eine größere Anerkennung konnte es nicht geben. Sie tröstete auch darüber hinweg, dass die Jungs trotz aller Förderung die Entwicklungsdefizite bisher nicht aufgeholt haben, was an ihren Pädagogenansprüchen zerrt.

Mit der Pflegelösung den Familienwunsch erfüllen

Kinderlose Paare, die sich über die Pflegelösung recht schnell ihren Familienwunsch erfüllen, sind eine große Pflegeeltern-Gruppe. Die andere sind Eltern mit einem Kind, die ein zweites dazuholen.

So war es bei Marie Baum*. Sie wollte zur eigenen Tochter ein Mädchen aufnehmen. Auch die Baums durchliefen die Vorbereitungsphase. Auch bei ihnen klingelte irgendwann das Telefon und ein vierjähriges Mädchen wurde vorgeschlagen. An ihr erstes Treffen erinnert Marie Baum sich so: Das Kind war ihr nicht unsympathisch, aber verliebt sei sie auch nicht gewesen. Vor allem habe das Kind „sehr bedürftig“ gewirkt. Die Annäherung erfolgte etappenweise: erst Stunden, dann Tage, dann mit Übernachtung. Und dann war es ganz da. „Anfangs total pflegeleicht.“ Das sei typisch. Die Kinder sind vorsichtig, passen sich an. Dass die Pflegetochter relativ schnell aufsässig wurde, war nervig, aber ein gutes Zeichen. Das Mädchen fühlte sich sicher genug. Für Marie Baum und ihren Mann waren Wutanfälle ein neues Thema, das kannten sie von der eigenen Tochter nicht, die sich ihre kleine Schwester auch anders vorgestellt hatte.

Distanzierung kann helfen

Marie Baum sagt, in Momenten, in denen das Pflegekind besonders aggressiv war, habe sie oft gedacht: Ist ja auch nicht mein Kind. Diese Distanzierung habe ihr geholfen, das Interesse zu erhalten, zu fragen: Warum verhält das Kind sich so?

Die leibliche Mutter hat Marie Baum nur einmal getroffen, die verschwand an dem Tag, an dem klar war, dass ihr Kind ein Zuhause hat. Bis heute gibt es keinen Kontakt. Was das für das Mädchen bedeutet, ist unklar, es vermeidet das Thema, und niemand will drängeln.

Bei Marie Baum wie auch bei Johanna Kurz waren die Reaktionen aus dem Umfeld auf die Pflegekindpläne positiv. Die Eltern sind zu Großeltern für die Gastkinder geworden, die so in keiner der Familien gesehen werden. „Ich liebe die Zwillinge wie meine eigenen Kinder“, sagt Johanna Kurz. Und Marie Baum sagt, dass sie am meisten erstaunt habe, „wie schnell und tief“ die emotionale Beziehung zu dem neuen Kind war und sie ohne Zögern sagte: „Das ist meine Tochter.“

*) Namen geändert

Pflegeeltern, dringend gesucht!

Das Motto von „Familien für Kinder“ ist: Grundsätzlich kann jeder Pflegekinder aufnehmen, auch Alleinstehende oder Homosexuelle haben die Möglichkeit. Familien mit Migrationshintergrund werden immer aktiver konkret angesprochen. Gesucht wird für Langzeit- und für Kurzzeitpflege.

Aktuell werden außerdem für die Unterbringung von unbegleiteten Flüchtlingskindern Pflegeeltern gesucht. Wegen des hohen Bedarfs wurden die Vorbereitungskurse stark gekürzt. Die Flüchtlingskinder werden als Kurzzeitpflegefälle vermittelt, eine Umwandlung in Dauerpflege ist je nach Fall möglich.

Die Vorbereitungszeit umfasst Einführungsseminare, Eignungsfeststellung und 75 Stunden Grundqualifizierung. Der nächste Informationsabend findet am 5. April in der Stresemannstraße 78 (Kreuzberg) statt. Um Anmeldung wird gebeten. Infos: www.pflegekinder-berlin.de. oder Tel. 21 00 210.

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