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Berlin: Peter Ulrich (Geb. 1928)

"Ich habe heute alle Termine für Ihren Mann abgesagt."

Die Seminargruppen, die ins Wannseeheim kamen, begrüßte der Geschäftsführer stets persönlich. 1961 kam eine Gruppe Krankenschwestern ins Haus. „Ulrich, guten Tag.“ – „Schwester Heide, angenehm.“ Er drückte der jungen Frau mit dem fußlangen, grauen Kleid und der Siebenfaltenhaube fest die Hand. Später trafen sie sich beim Rauchen und sprachen über den Kurs. Bei ihrer Rückkehr ins Schwesternheim fand Heide einen Brief von ihm vor: Er lud sie zu einem gemeinsamen Ausflug ein. Bald tranken sie Kaffee in Nikolskoe und am selben Abend Bier mit Sekt in der „Giraffe“ in Tiergarten. Dort machte er ihr einen Heiratsantrag: „Ich hoffe, dass unsere Kinder einmal aussehen werden wie Sie.“ Als sie begriffen hatte, was er meinte, sagte sie: „Ja.“

Peter hatte früh gelernt, die Dinge in die Hand zu nehmen. Sein Vater war von den russischen Besatzern inhaftiert worden, denn er hatte die Mansfelder Kupferwerke geleitet, die der Kriegsindustrie Kabel zugeliefert hatten. Peters Brüder waren schon aus dem Haus, so wurde der Siebzehnjährige zum Beschützer der Mutter und der beiden Schwestern.

Als Mitarbeiter des Bürgermeisters von Rönnebeck, einem Dorf bei Neuruppin, übernahm er zudem die Verhandlungen mit den russischen Militärs, die den Bauern vorschrieben, was anzubauen und wie viel davon abzugeben sei. Auch überzeugte er die Russen, weitere Flüchtlinge im Dorf aufzunehmen. Und er fälschte Erntebilanzen, um die Versorgung der Menschen zu sichern. Die Russen sahen darüber hinweg. Es war eine freundliche Koexistenz, die zuweilen mit einem Glas Kartoffelschnaps besiegelt wurde.

Mit der Gründung der DDR war damit Schluss. Die neuen Machthaber misstrauten dem allzu selbstständigen Gemeindesekretär. Wohlmeinende Russen rieten ihm, in den Westen auszuweichen.

In West-Berlin studierte er Politikwissenschaft und machte sein Diplom am selben Tag wie sein Abitur. Bei der Anmeldung zur Prüfung hatte man festgestellt, dass sein Notabitur, das ihm nach dem Krieg ausgestellt worden war, nicht zählte. 1944 war er, wie alle seine Mitschüler, aus der Schule genommen und als Marinesoldat verpflichtet worden.

Wer eine Abitur- und eine Diplomprüfung an einem Tag absolvieren kann, hat das Zeug zu Höherem. 1949 war er der SPD beigetreten, nach einigen Jahren als Bildungsstättenleiter holte ihn der Jugendsenator in seine Verwaltung, 1977 wurde Peter selbst Senator, Innensenator.

Die Wohnung in Grunewald, die er mit Heide und der gemeinsamen Tochter Anne bewohnte, musste nun mit einer schusssicheren Tür und einer Alarmanlage versehen werden. Als Innensenator war er für die Bekämpfung der terroristischen „Bewegung 2. Juni“ zuständig und wurde somit selbst zu einem potenziellen Anschlagsziel. Dazu kamen Drohanrufe von Rechtsextremen und Beschimpfungen auf der Straße, weil Peter durchgesetzt hatte, dass Ausländer Polizisten werden konnten.

Der Druck, dem er als Senator, später als Abgeordneter, Fraktions- und Parteivorsitzender der SPD ausgesetzt war, setzte ihm zu. Er bekam Magenprobleme und Diabetes. Manchmal zog seine Sekretärin die Notbremse für ihn. Dann rief sie bei Heide an und verkündete: „Ich habe heute alle Termine für Ihren Mann abgesagt und einen Tisch im Restaurant bestellt. Er braucht heute mal ein bisschen Ruhe.“ Immerhin, in den Urlaub fuhr er ohne Akten. Dort übernahm er die Betreuung der Tochter. Gemeinsam machten sie Skiwanderungen oder bauten Staudämme.

1984 zog sein Körper die Notbremse: Er erlitt einen Hörsturz und behielt einen Tinnitus zurück, ein dauerhaftes Störgeräusch im Ohr, das ihn arbeitsunfähig machte. Der Arzt empfahl ihm, möglichst nah ans Meer zu ziehen und dem Wasser zu lauschen, das über die Kiesel rauscht. Zudem sei eine handwerkliche Tätigkeit zu empfehlen.

„Dann fangen wir eben noch mal von vorne an“, sagte er zu Heide. Sie kauften ein Grundstück mit Meerblick auf Ibiza, das auf einem Hügel lag, und bauten ein Haus darauf. Als das Haus fertig war, errichtete Peter Trockenmauern rund um das Grundstück. Dazu musste er Steine sammeln und Stück für Stück behauen. Als das geschafft war, legte er das Grundstück mit Kies aus, den er in mühseliger Arbeit vom Meer hinauf auf den Hügel schaffte. Er war nun also tatsächlich ein Handwerker, der das Meer rauschen hörte, und außerdem sehr glücklich, endlich Zeit für seine Frau zu haben.

So hätte es bleiben können, doch Heide wurde krank und wollte lieber in Deutschland behandelt werden. Wieder war es Peter, der nach Lösungen suchte, anstatt zu lamentieren: „Das hier war die schönste Zeit unseres Lebens – aber jetzt fangen wir noch mal von vorne an!“ Er pachtete ein Grundstück in Brandenburg, und dort, im kleinem Bungalow lebten sie nun jedes Jahr von April bis September. Und lauschten wiederum dem Wasser, dieses Mal dem des Motzener Sees.

Als er erfuhr, dass er Krebs hatte, blieben ihm noch drei Wochen. Seine letzten Dinge nahm er selbst in die Hand. Mit dem Bestatter besprach er alles Notwendige und suchte sich eine Grabstelle auf dem Waldfriedhof in Stahnsdorf aus. Sie liegt unter einer Buche, die in jener Zeit gepflanzt wurde, in der er zur Welt gekommen war. Candida Splett

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