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Die Zahl der Gefährdungsmeldungen hat sich binnen weniger Jahre fast verdoppelt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Personalnot in Berlins Jugendämtern: Immer mehr gefährdete Kinder, immer weniger Kinderschützer

Die Zahl der gemeldeten Kinderschutzfälle hat sich seit 2012 verdoppelt. Doch die Jugendämter leiden unter Personalmangel. Jetzt schlagen die Mitarbeiter Alarm.

Die Lage in den Berliner Jugendämtern spitzt sich zu: Der bereits bestehende Personalmangel im Kinderschutz verschärft sich weiter, weil immer mehr Fälle von Kindeswohlgefährdung gemeldet werden. Allein zwischen 2012 und 2016 hat sich die Zahl der sogenannten Gefährdungsmeldungen von knapp 8800 auf 15.400 fast verdoppelt.

Der drastische Anstieg gilt auch für die Fälle von latenter oder akuter Kindeswohlgefährdung. In diesem Bereich stieg die Zahl der Meldungen von 4000 auf mehr als 8000. Aktuell sind etwa 15 Prozent der Stellen nicht besetzt. Dies führt dazu, dass sich Mitarbeiter um mehr als 100 statt der angestrebten 65 Fälle kümmern müssen.

Die Lage in den Bezirken unterscheidet sich stark. So ist es etwa in Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg gelungen, die meisten offenen Stellen besetzen, während in anderen Bezirken die Not steigt. Die mit Abstand größten Lücken hat Tempelhof-Schöneberg: Hier ist der Anteil der offenen Stellen seit dem letzten Brandbrief vom Frühjahr 2017 sogar noch angestiegen und liegt inzwischen nach Angaben der Senatsverwaltung für Jugend bei knapp 30 Prozent.

Brandbrief aus dem bezirklichen Jugendamt

Diese Spitzenstellung bei den offenen Stellen hat nun dazu geführt, dass die betroffenen Kinderschützer einen bezirklichen Brandbrief geschrieben haben. Er richtet sich direkt an Bürgermeisterin Angelika Schöttler (SPD), die für das Personal zuständig ist. Die Mitarbeiter beziffern ihre Unterbesetzung sogar auf etwa 40 Prozent und kritisieren, dass „von einer Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gegenüber seinen Mitarbeitern leider nicht gesprochen werden kann“.

Anstatt die Kollegen durch „innovative Ideen“ zu entlasten, sei „das Gegenteil der Fall“. Aufgrund der Gesamtlage sei der Kinderschutz gefährdet. Es gebe Befürchtungen, dass in der „täglichen Konfrontation“ mit Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung Fehleinschätzungen mit „dramatischen Folgen“ entstehen könnten.

Der Jugendstadtrat von Tempelhof-Schöneberg, Oliver Schworck (SPD), bestätigte die Probleme bei der Stellenbesetzung. Er bemühe sich aktuell bei der Finanzverwaltung um die Möglichkeit, höhere Zulagen zu zahlen, um konkurrenzfähiger zu werden. Der bezirkliche Jugendhilfeausschuss will die Lage am Montag besprechen – allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wie die Ausschussvorsitzende Marijke Höppner (SPD) auf Anfrage bestätigte.

Während die Opposition vermutet, dass Schöttler und Schworck durch die Sitzung hinter verschlossenen Türen geschont werden sollen, betonte Höppner, der Ausschluss der Öffentlichkeit habe andere Gründe: Man wolle mit den Sozialarbeitern offen über ihre Arbeitsbedingungen sprechen können. Dem Vernehmen nach ist die Fluktuation im Jugendamt sehr groß, weil frische Kräfte durch die drastische Überlastung sofort verschlissen werden und kündigen.

Friedrichshain-Kreuzberg steht besser da

„Wir sind durch ähnliche Krisen gegangen, allerdings nicht ganz so heftig“, berichtete die Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann (Grüne). Eine Kehrtwende sei gelungen, indem ihr Bezirk es geschafft habe, dass trotz diverser Haushaltssperren durch Sondergenehmigungen ständig Stellen ausgeschrieben und besetzt worden seien. Es gebe seit fünf Jahren ein „professionelles Personalentwicklungsmanagement, unter der Federführung der Jugendamtsdirektorin und mir persönlich“.

Zudem gebe es ein ausgeprägtes Gesundheitsmanagement. Und jedes Jahr werde mit allen Führungskräften des Jugendamtes eine dreitägige Klausur organisiert, „um uns zu Führung und Management schulen zu lassen“.

Schöttler: Schnellere Besetzungsverfahren

Auch die Bürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg, nahm auf Anfrage zum Brandbrief aus ihrem Bezirk Stellung. Sowohl ihr als Schworck sei die "schwierige Situation" der Beschäftigten im Regionalen Sozialen Dienst (RSD) sehr wohl bewusst. Das Bezirksamt habe denn auch "mit einer ganzen Reihe von Maßnahmen" reagiert. Ausschreibungen erfolgten praktisch ständig, auch die Werbung sei bereits deutlich erweitert worden. Zudem sei die Dauer von Besetzungsverfahren um "mehr als die Hälfte reduziert worden von durchschnittlich neun Monaten auf jetzt vier Monate". Eine weitere Reduzierung sei infolge "festgesetzter Vorgaben kaum noch möglich". Gemeinsam mit dem Jugendamt würden alle Möglichkeiten ausgelotet, das Grundgehalt für Beschäftigte im RSD für die jeweils Einzustellenden nach individueller Prüfung "zu verbessern und so konkurrenzfähiger zu sein".     

Allerdings sei inzwischen die Belastung für die Kolleginnen und Kollegen "so groß und langanhaltend", dass auch deshalb der eine oder andere eine freie Stelle in einem anderen Bezirk vorziehe. Durch diese Weggänge, die menschlich absolut nachvollziehbar seien, werde das Problem weiter verschärft, "da die Neueinstellungen und die Abgänge sich oft die Waage halten".

Scheeres nennt Lage "hoch problematisch"

Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) bezeichnete die Situation in Tempelhof-Schöneberg als „hoch problematisch“. Der Kinderschutz müsse gesichert sein. Unabhängig vom Brandbrief habe sie veranlasst, dass ihr Haus, der Bezirk und die Finanzverwaltung gemeinsam und schnellstmöglich Maßnahmen und Vorschläge besprechen, um Verbesserungen zu erreichen. Dazu gehöre auch eine bessere Bezahlung, aber auch strukturelle Veränderungen, Supervision und verkürzte Einstellungsverfahren. Am Donnerstag habe es dazu ein Treffen mit Jugendstaatsekretärin Sigrid Klebba (SPD) gegeben.

Erklärungsversuche für den Anstieg der Meldungen

Warum sich die Zahl der Meldungen von Kindeswohlgefährdungen verdoppelt hat, sei nicht einfach zu beantworten, sagte Scheeres' Sprecherin Iris Brennberger. Eine Rolle könne die Einrichtung der Kinderschutzambulanzen spielen, durch die man besser an die Familien herankomme. Zudem sei die Gesamtzahl der Kinder gewachsen. Eine weitere Rolle könne die Zuwanderung spielen: Besonders deutlich ist der Anstieg nämlich 2015 mit Beginn der Flüchtlingswelle. Zum einen kamen viele hilfsbedürftige unbegleitetete Kinder, zum anderen gab es die schwierigen Unterbringungen der Familien etwa in Turnhallen.

Den Brandbrief können Sie hier lesen.

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