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Schön mit Dom: Brandenburg an der Havel steht gut da, die AfD hier aber auch.

© picture alliance / Bernd Settnik

Pascale Hugues über die AfD in Brandenburg: „Ich verstehe es einfach nicht“

In Paris schlafen Flüchtlinge unter Brücken, in Berlin verrotten Schulen, in Brandenburg/Havel? Nichts davon. Wozu also hier AfD wählen? Eine Kolumne.

Es dürfe nicht so sein, „dass man am Straßenpflaster merkt, wo man im ehemals geteilten Berlin ist.“ So sprach der frühere Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, 1990. Die Mauer, die Deutschland teilte, war gerade gefallen.

30 Jahre später rollt mein Auto über samtig glatten Asphalt. Ich verbringe den Tag in Brandenburg an der Havel, streife auf perfekt nivellierten Trottoirs durch die Stadt. Nicht ein Schlagloch, nicht eine Kerbe, die mich zum Stolpern bringen. Und auch die Straßen mit Kopfsteinpflaster sind perfekt eingeebnet. Man erkennt heute sehr wohl am Straßenpflaster, ob man sich im Osten oder im Westen befindet. In Osten: makellos. Im Westen: ausbesserungsbedürftig.

Hier blüht die Landschaft!

In Brandenburg an der Havel empört man sich über Kaiserslautern: „Unglaublich, der Zustand dieser Stadt. Marode! Grau! Eine einzige Ruine! Schrecklich. Wie damals bei uns!“ Die Welt steht Kopf. Eberhard Diepgens Wunsch hat sich nicht erfüllt.

Hätte Helmut Kohl sein Versprechen über blühende Landschaften illustrieren wollen, er hätte sicherlich Brandenburg an der Havel gewählt. Hier ist alles neu: die Straßen und Gehwege, die Dächer und die Brücke über den Fluss, die pastellfarbenen Fassaden und sogar die Straßenlaternen. Es gibt einen Barbershop (genau so, auf Englisch, steht es auf dem Ladenschild), traditionelle thailändische Massage, ein Antiaging-Kosmetikstudio, Sojamilch und Bagels in den Cafés (zum Glück serviert man im Schweinehäuschen noch immer „deftige deutsche Küche“ – schmeckt schließlich auch bei 33 Grad! –, sonst würde die Leitkultur völlig in den trüben Gewässern der Globalisierung untergehen) und sogar einen Vermögensberater.

Ein ordentliches Stück vom Kuchen abbekommen

Die Arbeitslosenquote ist einstellig, nicht ein Syrer ist mir auf der Straße begegnet. Flüchtlinge machen hier, habe ich mir sagen lassen, einen verschwindend geringen Teil der Bevölkerung aus. Man hat sie bei ihrer Ankunft in einer ehemaligen Kaserne untergebracht. Hier muss keiner unter der Brücke schlafen wir in Paris – „es sei denn freiwillig.“ Brandenburg an der Havel hat es geschafft.

200 Milliarden Euro wurden in Wirtschaft und Infrastruktur der Neuen Länder investiert. Die Brandenburger, die am Sonntag wählen, haben ein ordentliches Stück vom Kuchen abgekommen. Trotzdem ist die AfD bei den Europawahlen im Land Brandenburg stärkste Partei geworden. Wird sie am Sonntag womöglich abermals die SPD überholen?

Dieses Ost-West-Psychodrama!

Bei den Kommunalwahlen, die am gleichen Tag wie die Europawahlen stattfanden, errang die AfD in Brandenburg an der Havel sieben Sitze in der Stadtverordnetenversammlung. Wahrscheinlich entgehen mir die Feinheiten des Ost-West-Psychodramas, das sich seit drei Jahrzehnten abspielt – diese Mischung aus Bewunderung, Neid, Ressentiment, Konkurrenz, Verlustängsten, Bedürfnis nach Anerkennung und Arroganz.

Ein spannendes Kapitel, das den Rahmen dieser Glosse sprengen würde, doch kam ich nicht umhin, mir bei meinem Streifzug durch Brandenburg an der Havel die vielleicht naive Frage zu stellen: Warum wählen die Leute hier AfD?

Ich denke an Kaiserslautern und seine Schlaglöcher. Ich denke an Paris und seine Obdachlosen. An die heruntergekommenen Klos der Berliner Schulen, die zugigen Fenster im Winter. Ich denke an die Polen und Ungarn, die ganz alleine in der Marktwirtschaft Fuß fassen mussten, ohne großen reichen Bruder an ihrer Seite. Ich denke an die Fotos von vor der Wende im Stadtarchiv. Und ich verstehe es einfach nicht. - Übersetzt aus dem Französischen von Odile Kennel.

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