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Sie wollte ihren Vater zuhause pflegen, da sagte man Petra Anwar, der Ärztin, dass sie ihn umbringe. Heute arbeitet sie als ambulante Palliativmedizinerin.

© Jakob Hoff

Palliativmedizin: Die Ruhe vor dem Tod

Ein friedlicher Tod, ohne Schmerzen, zu Hause im eigenen Bett. Dank der Palliativmedizin kann dieser Wunsch für immer mehr Menschen in Erfüllung gehen. Aber leider noch nicht oft genug. Unterwegs mit einer Berliner Ärztin.

Beginnt der Atem zu rasseln, sind es noch Stunden, vielleicht Tage. Dann kommt der Tod. Die alte Frau weiß, dass es bald einsetzen wird, das Rasseln. Der Brustkrebs ist austherapiert, das Krankenhaus hat sie nach Hause geschickt. Weißhaarig und schmal sitzt sie in einem Sessel, einen Schal um die Schultern, die Hände im Schoß gefaltet. Auf einem Tischchen steht eine Schüssel mit Keksen, auf dem Bett liegt ein Krimi. Irgendwo tickt eine Uhr.

In diese Stille tritt die Ärztin Petra Anwar, sie ist laut und kräftig. Sie nimmt die Frau an den Händen, horcht sie ab. Atemnot, sagt Petra Anwar, da geben wir Kortison, das wirkt oft Wunder. Eine laute Stimme, ein raues Lachen. Die alte Frau trägt am Körper ein schwarzes Kästchen, das Morphin in ihr Blut pumpt, gegen die Schmerzen. „Ich will noch fünf Jahre leben“, sagt sie. Ihre Tochter kommt aus der Küche. „Soll das eine Drohung sein?“ Humor im Sterbezimmer.

Drei Wochen später ist die Frau gestorben. „Ganz ruhig“, sagt Petra Anwar. Sie ist Palliativmedizinerin, ihr Bereich ist das Sterben, meistens Krebs. Zwölf Tage lang behandelt sie ihre Patienten im Schnitt. Sie hat mit Schmerzen, Appetitlosigkeit und Inkontinenz zu tun, mit dem Wuchern der Tumore, dem langsamen Versagen der Organe. Nichts davon kann sie heilen. Ihr Sohn musste in der Schule mal sagen, was seine Mutter beruflich macht. „Mama behandelt Menschen, und dann sind sie alle tot“, sagte er. Anwars Erfolgserlebnis, das ist der ruhige Tod.

Petra Anwar ist 47 Jahre alt, ein Film hat sie 2011 berühmt gemacht, „Halt auf freier Strecke“ von Andreas Dresen. Es geht um einen Vater, der einen Gehirntumor hat und zu Hause sterben will. Alle Ärzte in dem Film sind wirklich Ärzte, Petra Anwar spielt sich selbst. Gerade hat sie ein Buch über ihre Arbeit und ihre Patienten geschrieben. Geht das zusammen, ein Leben in der Öffentlichkeit und die Intimität des Todes? Manchmal, sagt Anwar, kommen Angehörige auf sie zu: Sie sind doch die Fernsehärztin, können Sie uns helfen? Aber ihre Arbeit sei immer die gleiche, „ein helfender Beruf“.

Früher Morgen, Berlin-Rudow. Petra Anwar sitzt in ihrem schwarzen Mercedes, seit 14 Jahren ist sie als Palliativmedizinerin unterwegs. Eine Zigarette in der Hand, das Handy klingelt. Anwar gibt Gas, sie ist unterwegs zu Menschen, die keine Zeit mehr haben. Seit fünf Jahren gibt es ein Gesetz, dass unheilbar Kranke darauf Anspruch haben, zu Hause medizinisch versorgt zu werden wie in einem Krankenhaus. Von besonderen Teams aus Ärzten und Pflegern. Spezialisierte, ambulante Palliativ-Versorgung (SAPV) heißt das Modell, es ist fast schon eine Revolution im Umgang mit dem Tod. Die Menschen sollen wieder zu Hause sterben dürfen. Der Tod soll dort kommen, wo das Leben war.

Frau Zischeks* Leben war 50 Jahre Herr Zischek, jetzt wartet sie auf den Tod. Petra Anwar geht ins Schlafzimmer. Sie hat einen Blick, welche Räume für den Tod geeignet sind, Sterben braucht Platz. Für einen Toilettenstuhl, einen Medikamentenschrank, ein Pflegebett. Die Wohnungen in Neukölln, die das Amt bezahlt, sind oft zu eng, die Bruno-Taut-Häuser sind hübsch, aber ungeeignet, wegen der schmalen Treppen.

Im Schlafzimmer der Zischeks stehen gleich zwei Pflegebetten. Eines für Frau Zischek, das andere hat Herr Zischek sich selbst gekauft, für 1600 Euro. Er will neben seiner Frau schlafen, im Tod wie im Leben. Petra Anwar fühlt die blasse Stirn der Frau, macht Notizen in ihrer Kladde.

„Sie träumt unruhig“, sagt Herr Zischek. „Von jungen Männern“, sagt Anwar. „Spaß muss sein, sonst bleibt die Liebe allein“, sagt Herr Zischek. Die letzten Worte singt er. „Du bist verrückt“, sagt Frau Zischek. „Ach, mein Täubchen“, sagt er. Gespräch eines Paares, das auf etwas wartet. Es wirkt wie die Vorbereitung auf eine Geburt, die Hausbesuche der Hebamme. Petra Anwar hat etwas von einer Hebamme. Nur, dass sie den Menschen nicht hilft, auf die Welt zu kommen, sondern die Welt zu verlassen.

Petra Anwar verabschiedet sich, rennt die Treppen hinunter. Sie springt in den Mercedes, das Handy klingelt und klingelt. Eine Schmerzpumpe muss dosiert, ein Rollstuhl besorgt werden. Die Zusammenarbeit mit den Kassen sei einfacher als früher, sagt Petra Anwar. Dennoch erleben manche das beantragte Pflegebett nicht mehr. Sie parkt das Auto.

"Die Patienten geben mir Energie", sagt die Ärztin.

Anwar rennt die Treppen hoch. Ein neuer Mensch, eine neue Familie, ein neuer Tod. Acht bis zehn Hausbesuche hat sie am Tag. Warum tut sie sich das an? Sie könne sich keine andere Art der Medizin vorstellen, sagt Anwar. Sie habe immer schon etwas machen wollen, das mehr ist als bloße Behandlung. Sie ist bei einer onkologischen Praxis angestellt, nebenbei arbeitet sie im Ricam-Hospiz in Neukölln. „Bei uns stirbt keiner mit Todesqualen, wir sorgen dafür, dass er sein Leben in Ruhe aushauchen kann.“ Und, so seltsam es klinge: „Die Patienten geben mir Energie.“

Sie hat ihren Vater in den Tod begleitet, Bauchspeicheldrüsenkrebs. Es war schwer, sie in Berlin, er in einem Dorf im Münsterland. Der Rest der Familie irgendwo. Der Vater wollte nicht über das Sterben reden, die Tochter musste Vorkehrungen dafür treffen. Anwar trommelte Mutter und Geschwister zusammen, sprach mit Ärzten. Entschied, dass sich der Vater keiner Chemotherapie mehr unterzieht, die Behandlung hätte in dem Stadium nur Qualen bedeutet. Die Oberärztin sagte, sie bringe ihren Vater um. Der Satz hängt Anwar bis heute nach. Sterben zu Hause, das heißt, nicht mehr nur für das Leben der Angehörigen verantwortlich zu sein. Sondern auch für den Tod.

Die Menschen sterben, wie sie gelebt haben, sagt Petra Anwar. In der Großfamilie, wie die 34-jährige Mutter, die von ihrer Schwägerin aufgenommen wurde, die selbst vier Kinder hatte. Allein, wie die alte Frau in der Kittelschürze, die nur den Wunsch hatte, in der Nähe ihrer neuen Waschmaschine zu bleiben. Geschäftig wie die Patientin, die bis zuletzt U-Bahn fuhr. Der Tumor in ihrem Bauch war so groß, dass die Leute glaubten, sie sei schwanger.

„Geschichten vom Sterben“ heißt Anwars Buch. Sie habe es geschrieben, weil man über das Sterben reden müsse, es zum Thema machen. Sie redet darüber, gerade wieder, bei der Lit.Cologne vor 300 Leuten, das Sterben ist ihr Lebensthema. Anwar schreibt über einen Professor, der vom Sterbebett aus seine Bücher verschenkt, und über einen Mann, der noch mal ans Meer fährt. Es sind Geschichten vom Sterben, aber sie handeln vom Leben. Davon, dass der Tod Teil jeder Biographie ist. Man muss ihn gestalten, wie man ein Leben gestaltet.

Der Autor John von Düffel hat Anwar geholfen. Von Düffel sitzt in der Kantine des Deutschen Theaters, wo er als Dramaturg arbeitet. Rundherum ausgelassene Leute, Sektgläser und Küsschen, Probenbeginn. Die Kunst war immer schon ein Mittel, um sich dem Tod zu widersetzen. Von Düffel kann sich noch gut erinnern, wie er Petra Anwar zum ersten Mal sah. Er habe noch nie jemanden erlebt, „der so wenig Angst und Berührungsangst hat“.

Anwar sitzt schon wieder im Auto und bremst vor einem kleinen Ladenlokal in Neukölln. Das Büro des Pflegediensts Langer + Franke, mit dem Anwar zusammenarbeitet. Auf dem Tisch Zigarettenschachteln und Schüsseln voller Süßigkeiten. Petra Anwar schlingt ein paar Kekse hinunter, ihr Frühstück. Die Krankenakten: ein Harnblasenkarzinom, Knochenmetastasen, abrutschende Blutwerte. All das, was sich hinter der Floskel in Todesanzeigen, vom „langen, schweren Leiden“ verbirgt. Dazu abgelehnte Pflegegeldanträge, zerstrittene Familien, Alkohol, Hartz IV. Nicht immer ist der Tod ruhig.

„Die Leute haben nicht Angst vor dem Tod, sondern vor dem Weg zum Tod“, sagt Anwar. Vor der Atemnot, dem letzten Atemzug. Wer arm ist, hat es auch im Sterben schwer, das Elend hört ja nicht auf. Anwar hat viele Geschichten, die sie „lieber verdrängt“. Die einer 40-Jährigen etwa. Sie lag mit ihren Verbänden zwischen Bierflaschen auf der Couch, meistens war sie betrunken. Der Ehemann schlug sie, bedrohte die Krankenschwestern. Der siebenjährige Sohn sah alles mit an.

Zwei Pflegerinnen wuseln durch den Raum. Telefon, Zigaretten, Akten. Menschen das Sterben zu erleichtern ist Schwerstarbeit. Sie erzählen, wie sie die Patienten aufsetzen, warten, bis ihre Übelkeit vorübergeht, sie waschen, die Wunden versorgen. Letztens sei ihnen in der Tür die Ehefrau eines Patienten zusammengebrochen. Sie konnte sich nur bei den Pflegerinnen ausweinen, ihr Mann sollte sie so nicht sehen. Und das alles in 45 Minuten, so verlangt es die Kasse.

Petra Anwar kann nicht sagen, wann sie das letzte Mal abends im Kino war. Meistens kommt der Tod in der Nacht, wenn der Körper entspannt ist. Der Schlaf ist der Bruder des Todes. Petra Anwar zündet sich wieder eine Zigarette an, in ihrem Mund fehlen Zähne. Hier brennt jemand für etwas, verbrennt sich aber auch dabei.

Seit Ende der 90er sind in Berlin Home-Care-Ärzte zu Sterbenden unterwegs, Berlin ist Vorreiter. Nicht überall ist die Versorgung so gut. In Südthüringen etwa gibt es gar keine. Wie gut man in Köln versorgt ist, hängt davon ab, auf welcher Seite des Rheins man wohnt. Rechts ist es schwerer. In Deutschland gibt es derzeit 200 SAPV-Teams, heißt es beim deutschen Hospiz- und Palliativverband. 300 bräuchte es, mindestens.

Ihre Forderung an den Sohn: Das muss hier klappen!

Joachim von Stackelberg war zehn Jahre Home-Care-Arzt. Stackelberg, halblanges Haar, sportlich, sitzt in seiner Praxis in der Gropiusstadt. Der Wind pfeift um die Häuser, vor dem Wartezimmer stehen Patienten Schlange, die sich erkältet haben. Stackelberg ist jetzt Hausarzt, er entschied sich für das Leben.

„Erschreckend“ sei der Umgang mit dem Tod, sagt er. Kam er zu einem Toten, war die Tür zum Sterbezimmer fest zu, das Fenster darin auf. Der Mensch lag so, wie er gestorben war, im Dunkeln, und alle warteten nur, dass der Bestatter ihn mitnimmt. Kerzen anzünden, Blumen aufstellen – auf die Idee sei kaum einer gekommen. Stackelberg sagt, es gebe unter den Sterbenden drei Gruppen. Die, die verdrängen, den Mund nicht aufmachen. Die, die hadern, sich fragen: Warum werde ich nicht geheilt, wenn der Mensch zum Mond fliegen kann? Und dann gebe es die mit dem schwarzen Humor. Die kommen mit dem Tod am besten zurecht.

Und wie ist es für den Arzt? Wenn man aus dem Medizinstudium kommt, sagt Stackelberg, dann ist der Tod das Ende, das nicht sein darf. Als Palliativmediziner soll man dafür sorgen, dass jemand friedlich stirbt. Ein Dilemma für Ärzte. Nicht heilen zu können. Stattdessen die banale Erkenntnis, dass der Tod zum Leben gehört.

Es dämmert, Petra Anwar ist noch immer unterwegs. Denkt sie an den Tod? Sie mache sich Gedanken, ja, schließlich rauche sie. Aber sonst verdrängt sie das Thema, wie alle. Sie ist verheiratet, hat drei Söhne, arbeitet und wirbt für die Arbeit. Im Film „Halt auf freier Strecke“ ist sie einfach zum Set gegangen und hat die Sätze gesagt, die sie immer sagt.

„So, wir beiden Dicken setzen uns jetzt mal zusammen.“ Uwe Bötiger* macht Petra Anwar Platz auf seinem Bett, Anwar legt einen Arm um ihn. Eine kleine Erdgeschoßwohnung in Neukölln. In dem Sterbezimmer stehen ein Bett und ein riesiger Flachbildfernseher. Limonadenflaschen auf dem Boden, auf einem Tisch Kekse, wie in so vielen Sterbezimmern. Als sollte noch möglichst viel Süße des Lebens sein. Bötigers Nieren arbeiten nicht mehr, der Tumor frisst sich durch seine Lendenwirbel. Seine Frau hat ihn gepflegt, dann hatte sie zwei Herzinfarkte und ist jetzt selbst im Krankenhaus. Es gibt noch eine Schwägerin und einen erwachsenen Sohn, der im Wohnzimmer vor einem Fernseher sitzt.

Petra Anwar streicht Bötiger durchs Haar. Sie ruft den Sohn, teilt die Schwägerin ein, organsiert einen zusätzlichen ehrenamtlichen Hospizdienst. „Das muss hier klappen, ohne dass Muttern sich aufregt, wenn sie von der Kur kommt“, sagt sie. „Ich vergesse alles“, sagt Bötiger. „Dann nehme ich dir nächstes Mal Gedichte zum Auswendiglernen mit“, sagt Petra Anwar. „Bist ’ne Bombe“, sagt Uwe Bötiger. Sie hat wieder ein kleines Stück geschafft, auf dem Weg zum Tod.

*Die Namen der Patienten sind geändert. Erschienen auf der Reportage-Seite.

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