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Berlin: Otto Willematt (Geb. 1920)

In der "Kolonie 3" war er der Vordenker

Nur wenige Stunden nach Beginn der Olympischen Spiele in Antwerpen kam Otto als viertes Kind und zweiter Sohn zur Welt. Im ostpreußischen Ebertann munkelte man, die Willematts hätten jetzt einen Olympioniken in der Familie und der heimische Hof würde bald Wettkampfarena.

Ehrgeiz und Begeisterung des jüngsten Sohnes galten aber nicht dem Sport, sondern, wie es sich gehörte, der Landwirtschaft. Die 320 Ebertanner waren sich schnell sicher, dass aus Otto ein großer Bauer werden würde. Von den Traktoren des Großbauern sprach der kleine Otto schon früh. Elterliche Mühsal und Pferdeschinderei sollten an seinem 14. Geburtstag ein Ende haben; davon träumte der Junge: Die Fahrerlaubnis für den Traktor musste der Schlüssel zum gesünderen und wohlständigeren Leben sein.

Im April 1934 fuhr die blonde Frohnatur ins 45 Kilometer entfernte Insterburg, um die Fahrprüfung zu machen. Der Fahrlehrer verlangte zwei Liter Benzin, die der zierliche Willematt nur in der Apotheke kaufen konnte – von seinem Rückfahrgeld. Es dauerte keine Stunde, und Otto war Besitzer einer echten Traktorfahrerlaubnis. In seinen späteren Erzählungen wurde der beschwerliche Fußmarsch nach Ebertann zur stolz-fröhlichen Hüpftour. Und von diesem Jahr an schufteten bei Willematts keine Pferde mehr. Ein Traktor wandelte die Feldarbeit in ein fast vergnüglich anmutendes Existenzabenteuer.

Die familiäre Eintracht bekam einen ersten Riss, als die Wehrmacht den Erstgeborenen zu sich rief. Der Riss wurde tiefer, als auch Otto zum Kriegsdienst kommandiert wurde. Der Bruder überlebte nur zwei Kriegsjahre, Otto wurde im vierten von einer russischen Granate getroffen. Seine linke Schulter war zertrümmert und die Seele erst recht. In einem Dresdener Hospital kämpfte er ein Jahr lang um sein Leben.

Drei Tage vor der Bombardierung Dresdens schleppte sich Otto davon – in ein Zuhause, das es nicht mehr gab. Mutter, Vater und die zwei Schwestern waren vertrieben, und der Traktor durchwühlte bereits russischen Boden. Wochen später fand Otto einen Teil der Familie weit im Westen wieder. Die Mutter überlebte die Entwurzelung nicht.

Halbwegs genesen, begegnete Otto 1947 Selma und ihren zwei Töchtern. Das jahrelang geübte Verantwortungsbewusstsein setzte Otto fortan für die neue Familie ein, und als Maler verschönte er Fenster, Türen und Wände der neuen Zuckerbäckerbauten in Ost-Berlin. Nachdem im Juni ’53 die Bauarbeiter der Stalinallee vergebens rebelliert hatten, verließ Otto seinen Arbeitsplatz. In Wedding fand er einen neuen Arbeitgeber, der ihm sogar die Ausbildung von Lehrlingen anvertraute. Es verging nicht viel Zeit und Enkel kamen. Otto sah ein, dass sportliche Aktivitäten Körper und Geist beleben mussten. Im Schwimmverein SG Neukölln wurden alle Willematts Mitglied. Jahrzehnte später erzählte Otto seinen Ururenkeln in ostpreußischer Mundart, dass er in den vielen Jahren seiner Mitgliedschaft nicht einmal unter der Dusche gestanden habe.

Sein handwerkliches Geschick schätzen besonders die Gartennachbarn in der Kolonie „Ideal 3“. Der Rastlose avanciert zum Vordenker der Schrebergärtner. Ihm ist es zu verdanken, dass Wasserleitungen Brunnenbohrungen ersetzen und Lichtleitungen knatternde Dieselaggregate. Doch Selma sorgt sich um seine Gesundheit: „Lange macht der nicht mehr!“

Und es kommt ganz anders, Selma wird krank und stirbt im Jahr 1983. Über den Verlust kommt Otto hinweg, weil er ja ständig gebraucht wird. Enkel und Urenkel sind immer nah. Von Infarkten und Schlaganfällen erholt sich Otto wieder und wieder ungewöhnlich schnell. Er kann ja gar nicht fort, denn wer kümmert sich dann um den Garten?

2008 heiratetet er seine serbische Zugehdame, patent genug, um das Grundstück am Tulpenweg zu unterhalten. Der zierliche Mann mit den feinen Gesichtszügen und den kleinen Augen, die nie richtig Zeit hatten, sich auszuruhen, erlebt noch einen großen 90. Geburtstag und einen üppigen Sommer. Im beginnenden Herbst findet Otto Willematt noch die Kraft, sich ins Schlafkostüm zu hüllen, damit die letzte Reise in vertrauten Kissen geschieht. Jacob Manthey

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