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Christoph Müller war zuständig für die Rubrik "Ost-Berlin in der Ostpresse" - mit täglicher Zeitungslektüre. (Foto 1964)

© Sammlung Christoph Müller

„Ost-Berlin in der Ostpresse“: Wie der Tagesspiegel über den Alltag in der DDR berichtete

Hinschauen statt ignorieren: Nach dem Mauerbau blickte der Tagesspiegel verstärkt nach Ost-Berlin und ins Umland. Und Uwe Johnson rezensierte das DDR-Fernsehen.

Christoph Müller war der erste und einzige Tagesspiegel-Redakteur, der es mit einem Foto auf die Seite 1 des „Neuen Deutschland“ geschafft hatte. Müller hatte den Auftrag, den in West-Berlin gestarteten langen Trauerzug mit dem Sarg Benno Ohnesorges durch die DDR nach Hannover zu begleiten und darüber top-aktuell zu berichten.

Die DDR-Grenzer beorderten ihn ausdrücklich an die Spitze des Konvois – nicht ohne Grund, denn sie ließen bei der spektakulären Fahrt alle paar Kilometer zwangsverpflichtete FDJler jede Menge Nelken in Müllers offenen Wagen werfen. So hatte das ND ein exotisches Titelfoto in der Ausgabe vom 10. Juni 1967. Im Tagesspiegel zurück in der Lokalredaktion, musste er sich scherzhaft von seinen Kollegen fragen lassen: „Seit wann arbeitest Du fürs Neue Deutschland?“

Dabei war Christoph Müller von 1960 bis 1968 erst Volontär und dann Redakteur der Lokalredaktion. „Haben Sie nicht Lust, rüberzugehen und zu schreiben? Sie haben doch als einziger von uns einen bundesdeutschen Reisepass“, fragte ihn Günter Matthes, der legendäre Lokalchef. Und Müller fuhr nach Ost-Berlin - mit seinem Cabrio über den Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße.

Eines seiner ersten Stücke hieß „Berlin Alexanderplatz, Weihnachten 1963“ und berichtete ausführlich vom Lichterglanz des Ostens und dem vorweihnachtlichen Warenangebot, das gar nicht so knapp war. Und das kurz vor dem ersten Passierscheinabkommen, das der West-Berliner Senat mit der DDR-Regierung für Besuche über Weihnachten geschlossen hatte.

Das "Neue Deutschland" reagiert mit Verblüffung auf Müllers Text

Müller hatte einen Nerv getroffen, denn sein Artikel war dem „Neuen Deutschland“ einen Dreispalter wert: „West-Müllers Prophylaxe“. Der Autor Heinz Busse konnte kaum glauben, dass eine West-Zeitung einfach objektiv berichtet: „Aber nein, plötzlich bricht ein ausgesprochen westliches Presseerzeugnis mit den schönsten Traditionen und bereitet seine Leser außerdem noch darauf vor, daß am und um den Alexanderplatz neue Häuser stehen“, schreib Busse im ND.

„Den Lesern hat es gefallen, sie wollten mehr über den Osten lesen“, erzählt Müller heute. Auch der Artikel über die „Weiße Flotte“ fand viel Zuspruch in der Tagesspiegel-Leserschaft. Günter de Bruyn hatte ihm dafür das Ticket besorgt, denn für West-Besucher gab es die offiziell nicht.

"Ost-Berlin in der Ost-Presse"

Während die Springer-Presse und auch das westliche Fernsehen den Osten ignorierten, setzte sich der Tagesspiegel für mehr Information ein. Matthes sei sehr dafür gewesen und ihm sei auch die Initiative für die Rubrik „Ost-Berlin in der Ostpresse“ zu verdanken gewesen.

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„Ich hatte den Status des Sonderkorrespondenten des Tagesspiegels für Ost-Berlin, las jeden Morgen die Ost-Zeitungen und durfte dann etwas auswählen“, erzählt Müller. Dabei wurden kurze Stücke aus DDR-Zeitungen abgedruckt, um wenigstens etwas Kontakt zu den Ereignissen in Ost-Berlin zu halten.

„Wo einst das Café Bauer stand“ war ein Artikel überschrieben, der am 15. Mai 1964 erschien und aus der „BZ am Abend“ stammte: „Eine der bekanntesten Kreuzungen im Berliner Stadtbild erhält ein neues Gesicht: Friedrichstraße/Unter den Linden. An drei Ecken wird gebuddelt. Neben der Universitätsbuchhandlung... entsteht ein Gaststättenkomplex... Auf der Nordseite zwischen den Linden und der Mittelstraße wird ein Hotel errichtet. Neben der "Sibylle" muß der Ausstellungspavillon einem Appartementhaus und dem Funktionsgebäude der Komischen Oper weichen. Nach den Pfingsttagen wird mit den Ausschachtungsarbeiten begonnen. Diese Bauten schließen die letzten Lücken zwischen Staatsoper und Wilhelmstraße.“

Christoph Müller am Gendarmenmarkt 1963. Er hatte als einziger der Berlinredaktion einen bundesdeutschen Pass und konnte deshalb nach Ost-Berlin einreisen und von dort berichten.
Christoph Müller am Gendarmenmarkt 1963. Er hatte als einziger der Berlinredaktion einen bundesdeutschen Pass und konnte deshalb nach Ost-Berlin einreisen und von dort berichten.

© Privat

Die Artikel wurden in der von Müller betreuten Sparte „Ost-Berlin in der Ost-Presse“ unkommentiert nachgedruckt. Meistens waren es normale lokale Nachrichten, zu denen man im Westen so keinen Zugang hatte. In diesen Berichten fanden sich Dinge, über die man auch heute noch staunen kann.

So meldete die „Neue Zeit“ am 29. Mai 1964, dass von den S-Bahnhöfen Schöneweide und Köpenick morgens zwei Sonderbuslinien starten würden. „Sie sind für Mütter bestimmt, die ihre Kinder mit zum Arbeitsplatz nehmen. Jeder dafür eingesetzte Bus verfügt über Triebwagen und Hänger. Im ersten Wagen dürfen die Mütter ihre Kinder auf den Schoß nehmen, der Hänger ist für Kinderwagen vorgesehen.“

Diese Rubrik erschien noch bis kurz vor der Wende, am 1. Oktober 1989 wurde des 20. Geburtstages der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz mit einem Artikelauszug aus „Der Morgen“ erinnert.

Eines Tages riefen ihn die Grenzpolizisten in ihr Häuschen und machten ihm unter dem Hinweis auf seine faire Berichterstattung – sie hatten ein ganzes Dossier vor sich liegen - das Angebot, ohne Kontrolle einzureisen. Er sollte eine bestimmte Telefonnummer wählen und mitteilen, wen er sprechen wolle, dann werde man alles für ihn arrangieren. „Das habe ich natürlich abgelehnt“, erzählt der 82 jährige Müller, „ich stand nicht zur Verfügung für einen embedded Journalism!“

"Jemand beim RIAS schreibt bei Ihnen ab!"

Und dann haben die Grenzsoldaten ihn eines Tages darauf aufmerksam gemacht, dass jemand im RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor) bei ihm im Tagesspiegel fast wortwörtlich abschreibe, dagegen müsse er juristisch vorgehen, da könne er doch noch etwas verdienen. Es ging um die Sendung „Ost-Berlin am Morgen“, die jeden Dienstag von 7 Uhr 20 bis 7 Uhr 30 ohne Namensnennung zu hören war.

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Müller gestand freimütig, dass es da nichts zu beanstanden gebe, denn die Sendung stamme von ihm. „Obwohl es der gleiche Inhalt war wie im Tagesspiegel, ging das für die Grenzsoldaten im Osten natürlich gar nicht. Der RIAS war für sie purer Feindsender. Ich musste raus aus dem Wachhäuschen und mich ganz ans Ende der Schlange einreihen und wurde von nun an wieder gefilzt.“

Der "Ostkanal" ist "ein Stück der Freiheit, die wir meinen"

1964 gab es noch eine Neuerung im Tagesspiegel: „An so manchem Abend sind in West-Berlin (und entlang der Zonengrenze) die Fernsehschirme in großer Zahl auf den Ostkanal eingestellt, und sei es nur, weil eine Unterhaltungssendung reizt, die sich von dem im eigenen Programm Gebotenen abhebt. Man nimmt dabei politische Exkursionen in Kauf. Aber auch das Bedürfnis, zu wissen, was ,die da drüben‘ machen oder wie sie diesen oder jenen politischen Vorgang, dieses oder jenes menschliche oder technische Problem darstellen, führt zur Bedienung des Knopfes nach Ost. Das ist ein Stück der Freiheit, die wir meinen, und die stetige geistige Auseinandersetzung mit dem, was im abgespaltenen Teil Deutschlands geschieht, ist für jeden notwendig, der das Wort Wiedervereinigung nicht nur im Munde führt“, schrieb Tagesspiegel-Verleger Franz Karl Maier am 4. Juni 1964 auf der Seite Drei des Tagesspiegel unter der Überschrift „Die Mauer und das Ost-Fernsehen“.

Maier beklagte, dass die Presse in West-Berlin das Ost-Fernsehen nicht zur Kenntnis nehme, obwohl es ja ohne Probleme zu empfangen sei. „Darüber kann sich eigentlich nur Ulbricht freuen, der sich auch über die Unfähigkeit unserer Fernsehanstalten, sich mittels des Bildschirms täglich und so systematisch mit den Geschehnissen in der Zone auseinanderzusetzen, wie das umgekehrt der Fall ist, in seine Faust lachen mag. Der Tagesspiegel wird in Zukunft Produktionen des Ost-Fernsehens regelmäßig besprechen“, schrieb Maier weiter.

Der Schriftsteller Uwe Johnson rezensiert das DDR-Fernsehen im Tagesspiegel

Als Kritiker hatte man den Schriftsteller Uwe Johnson gewonnen, der 1959 die DDR verlassen hatte und der mit spitzer Feder Fernsehsendungen der DDR im Tagesspiegel rezensierte. Ja, Maier ging noch einen Schritt weiter: „Ein Programm, dessen Bestandteile kritisch zu erörtern wir für erforderlich halten, werden wir unseren Lesern auch bekanntgeben. Es wird künftig im Tagesspiegel-Kalender aufgeführt sein“. Das war ein erster Schritt, die Mauer ein wenig durchlässiger zu machen.

Uwe Johnson, hier auf einem Foto von 1971, rezensierte vom 4. Juni 1964 bis zum 3. Dezember das Fernsehprogramm der DDR im Tagesspiegel.
Uwe Johnson, hier auf einem Foto von 1971, rezensierte vom 4. Juni 1964 bis zum 3. Dezember das Fernsehprogramm der DDR im Tagesspiegel.

© imago/Sven Simon

„Er [Johnson] rezensierte fast regelmäßig den damals unsäglichen ,Schwarzen Kanal‘, der redigiert und moderiert wurde von Karl-Eduard von Schnitzler; er rezensierte regelmäßig das kritische Magazin ‚Prisma‘, und er rezensierte die ,Aktuelle Kamera‘: Ganz klar, er verstand seine Aufgabe als eine vorrangig politische“, schrieb Eckart Kronberg in der Rezension der gesammelten Kritiken, die 1987 bei Suhrkamp erschienen waren. Kronberg selbst führte die Ostfernsehkritik bis zum Ende der DDR.

Das war ein bedeutender Schritt auf der West-Berliner Insel, von der aus es ja in alle Himmelsrichtungen nach „Osten“ ging. Der Osten war nicht populär, aber er existierte. Es bestanden familiäre Bindungen und daher versuchte der Tagesspiegel, ein wenig mehr Information zu liefern. Johnson rezensierte fair die Unzulänglichkeiten des Systems, aber er differenzierte, lenkte den Blick auf Zwischentöne, stellte bei Unterhaltungssendungen fest, dass das Niveau auf beiden Seiten mehr oder weniger gleich sei. Dafür würdigte er oft Spielfilme aus den osteuropäischen Ländern, die so schnell nicht den Weg in das West-Fernsehen fanden. „Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in irgendeiner der Sendungen aus Adlershof etwas Längeres aus der Landwirtschaft gezeigt würde...“, schrieb er einmal.

Die Turnerin Karin Janz beim Interview mit Karl Eduard von Schnitzler, der für seine Sendung "Der schwarze Kanal" bekannt war.
Die Turnerin Karin Janz beim Interview mit Karl Eduard von Schnitzler, der für seine Sendung "Der schwarze Kanal" bekannt war.

© imago sportfotodienst

Diese Rubrik wurde von Bildungsredakteur Uwe Schlicht bearbeitet. „Wenn Schlicht nicht da war, musste ich das machen“, erzählt Müller. Dem habe seine Rubrik aus der Ostpresse immer gut gefallen. Johnson, seine TV-Kritiken stets in letzter Minute vor dem Abgabetermin schickend, sei sehr akkurat gewesen, kein Komma durfte man ändern.

Franz Karl Maier beauftragte Christoph Müller Ende 1968 mit einer großen Serie über Ost-Berlin, doch dazu kam es nicht mehr, denn Müller musste auf dringenden Wunsch seines Vaters als Verleger und Chefredakteur das „Schwäbische Tagblatt“ übernehmen.

Blick über den Stadtrand hinaus

Neben der lokalen Berichterstattung aus Ost-Berlin und den Fernsehkritiken gab es in den siebziger Jahren auch den Blick über den Stadtrand Berlins hinaus.

Hans Scholz, Feuilletonchef dieser Zeitung, veröffentlichte am 13. August 1972 die erste von 17 Folgen seiner „Bahn- und Fußreise“ durch die Mark Brandenburg, die ihn nach Erkner, Fürstenwalde, Rauen, Petersdorf, Bad Saarow, Storkow und in das LPG-Dorf Kolpin führten, wo er einerseits auf den Spuren von Fontane wandelte und andererseits den Tagesspiegel-Lesern die Regionalgeschichte der Umgebung nahebringen wollte. Die Ostpolitik Willy Brandts hatte die Grenze wieder ein Stückchen durchlässiger gemacht und so war es auch dem West-Berliner möglich, das Umland zu entdecken, eine Tradition, die Heinz Ohff, der Nachfolger als Feuilletonchef, unter seinem Pseudonym N. Wendevogel erfolgreich fortsetzte.

Serie "Menschen und Merkmale im anderen Teil der Stadt"

Im Januar 1986 - ein Jahr vor der 750-Jahrfeier Berlins - machte sich Lokalredakteur Ekkehard Schwerk auf, die Ostberliner Bezirke zu entdecken. In seiner Serie "Menschen und Merkmale im anderen Teil der Stadt" unternahm er Spaziergänge durch die elf Bezirke Ost-Berlins. In der ersten Folge streift er durch Prenzlauer Berg, besucht den Kollwitzplatz und die Husemannstraße, kommt mit den Leuten ins Gespräch. Eine fast normale Annäherung "an den anderen teil der Stadt".

Als dann die Mauer gefallen war und alle reisen konnten, bestand erst recht ein erhöhter Informationsbedarf, den dann Andreas Austilat im Weltspiegel mit der erfolgreichen Serie „Tagestouren um Berlin“ Anfang der 90er Jahre sehr erfolgreich stillte. Sie erschienen später in Buchform in mehreren Ausgaben.

Dass der Tagesspiegel schon immer den „Osten“ im Blick hatte, zeigte sich auch in einem ganz anderen, aber wichtigen Punkt. Alle Kollegen, die aus dem Ostteil der Stadt neu zum Tagesspiegel kamen, wurden so bezahlt wie ihre westlichen Kollegen – gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Das führte zu Wettbewerbsverzerrungen gegenüber den anderen Zeitungen, die den Kollegen aus dem Osten niedrigere Gehälter zahlten.  Aber für den Tagesspiegel war es ein Unding, den Kollegen aus dem Osten nur den erlaubten Ost-Tarif zu zahlen. Insofern wurde in diesem Punkt die Einheit gleich vollendet.

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