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In Berlins Horten herrscht großer Andrang, und ohne freie Träger geht es nicht. Sie mussten am längsten auf die Gehaltserhöhung warten.

© picture alliance / dpa

Update

Offener Brief an Scheeres: Berlins Horten droht massiver Engpass

Rund 9100 zusätzliche Kinder werden erwartet, wenn die Horte für alle offen sind. Erzieherinnen warnen vor den Konsequenzen - und laden die Senatorin ein.

Mit einem offenen Brief haben sich Neuköllner Erzieherinnen an Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) gewandt und vor dem freien Zugang zu den Schulhorten gewarnt. Um massive Platz- und Personalprobleme zu vermeiden, müsse die Koalition darauf verzichten, schon ab Sommer die Gebühren und die Bedarfsprüfung für die Klassen 1 und 2 abzuschaffen, lautet eine ihrer Forderungen. Der Brief, der dem Tagesspiegel vorliegt, wurde von der Personalversammlung der Neuköllner Lehrer und Erzieher beschlossen.

"Das Ziel ist gut - aber noch fehlen dafür die Voraussetzungen"

Bislang ist der Besuch des Hortes daran geknüpft, dass Eltern ihren Bedarf nachweisen und Gebühren bezahlen. Das will die SPD-Fraktion ändern, um auch Kindern, deren Eltern nicht arbeiten, den Hort zugänglich zu machen – ein Ziel, das die Erzieherinnen richtig finden angesichts des hohen Förderbedarfs. Aber sie fordern, dass zunächst die Voraussetzungen geschaffen werden müssten: mehr Horträume, mehr Personal.

Schon jetzt ist absehbar, dass es erhebliche Konsequenzen haben wird, wenn die Hürden im Sommer fallen: Auf Tagesspiegel-Anfrage teilte die Bildungsverwaltung am Sonntag mit, dass sie zum Sommer mit rund 9100 zusätzlichen Hortkindern in Klasse 1 und 2 rechnet – pro Schule also rund 30 Kinder. Dies bedeutet, dass im Schnitt mindestens ein zusätzlicher Raum benötigt wird. Das allerdings stellt die Bezirke vor große Probleme, denn die Grundschulen sind schon jetzt voll.

Auch für das kostenlose Schulessen braucht man mehr Platz

Die Rechnung der Bildungsverwaltung beruht auf 2017/18 und geht so: Damals lernten rund 52.000 Kinder in den Jahrgangstufen 1 und 2. Von ihnen besuchten 11.000 keinen Hort. Die Verwaltung rechnet nun damit, dass aus dieser Gruppe rund 80 Prozent den Hort nutzen werden, wenn er kostenlos und ohne Bedarfsprüfung zugänglich ist. Das würde zudem noch dadurch erleichtert, dass auch das Schulessen ab Sommer kostenlos sein soll. Womit man beim nächsten Problem wäre, denn die Schulen verfügen bei weitem nicht alle über ausreichend große Kantinen, Küchen und Aufenthaltsräume. Die Bildungsverwaltung verweist an dieser Stelle allerdings auf die Bezirke - zuletzt an diesem Montag in der Antwort auf eine Anfrage der grünen Bildungsexpertin Marianne Burkert-Eulitz.

Die Verwaltung will nun erstmal alle Daten erheben

Um noch mehr über den absehbaren Hortbedarf zu erfahren – bisher hat man nur die genannte Schätzung –, wird die Senatsbildungsverwaltung vom heutigen Montag an, also dem Ende der Winterferien, eine Abfrage starten: Es würden durch die regionalen Schulaufsichten „Gespräche mit allen Schulen zur Erhebung der Prognosedaten durchgeführt“, kündigte Scheeres’ Sprecher Thorsten Metter auf Nachfrage an.

Dabei würden „alle Aspekte“, die mit dem Wegfall der Bedarfsprüfung für die ergänzende Förderung und Betreuung für Schüler der Jahrgangsstufen 1 und 2 verbunden seien, berücksichtigt. Die Ergebnisse dieser Datenerhebung sollen demnach die Grundlage für die Vorbereitung des künftigen Schuljahres bilden.

Die Bildungsbehörde gibt sich zuversichtlich

In Bezug auf die im Brief formulierten Bedenken sagte Metter, dass die räumlichen Bedingungen „sichergestellt“ würden. Zudem würden zum 15. Februar knapp 50 weitere Erzieher mit der berufsbegleitender Ausbildung beginnen und zudem werde der Senat eine weitere Stellenausschreibung für Erzieher an Grund- und Förderschulen veröffentlichen. Daher sei „davon auszugehen, dass der entstehende Mehrbedarf für die Schulen gedeckt werden kann“. Dennoch nehme Scheeres’ Behörde die Sorgen der Erzieherinnen ernst.

Eine Antwort erhielten die Absenderinnen aber noch nicht. Der Brief wurde im Dezember beschlossen und Anfang Januar übergeben, berichtet eine der Initiatorinnen.

"Ein Hampelmann in der Besenkammer reicht nicht"

"Ich frage mich, wie man das stemmen will", kommentierte am Sonntag Astrid-Sabine Busse die Hortpläne. Die Leiterin der Grundschule in der Köllnischen Heide ist zugleich Vorsitzende des Interessenvertretung Berliner Schulleitungen (IBS). Gerade erhielt Busse die Nachricht, dass eine Bewerberin abgesprungen ist, die bei ihr eine berufsbegleitende Ausbildung zur Erzieherin machen und die Stelle jetzt antreten wollte.

"Personal fehlt ohne Ende", unterstreicht Busse die Sorgen, die aus dem offenen Brief sprechen: Die Horte konkurrieren mit den Kitas um das knappe Erzieherpersonal. Bereits im Sommer 2018 war die Bildungsverwaltung davon ausgegangen, dass der Bedarf in den beiden ersten Jahrgangsstufen der Horte um rund 225 Erzieher steigen könnte - während gleichzeitig viele Erzieherinnen in Rente gehen.

Auch die fehlenden Räume seien ein Problem, bestätigt Busse. Schließlich reiche es nicht "einen Hampelmann in eine Besenkammer zu hängen", wenn man einen zusätzlichen Hortraum brauche.

"Es läuft auf einen großen Gau zu", befürchtet der koordinierende Erzieher einer Grundschule in Mitte. Unweigerlich würden noch mehr Kinder als bisher den Nachmittag im Klassenzimmer verbringen müssen, weil man ohne diese "Doppelnutzung" nicht mit den Räumen auskommen könne. Das aber werde auf "mehr Stress" für Kinder und Personal hinauslaufen, sagte er dem Tagesspiegel.

Auch die GEW teilt die Sorgen der Briefschreiber

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) teilt die Sorgen der Betroffenen: "Auch wir sehen die Entwicklung sehr kritisch", sagte Sprecher Markus Hanisch am Montag. Die "Not im Ganztag" werde sich weiter vergrößern. Die GEW habe die Senatsverwaltung frühzeitig aufgefordert, auf den zu erwartenden erhöhten Bedarf zu reagieren und dafür zu sorgen, dass entsprechend mehr Personal eingestellt und Räume zur Verfügung gestellt werden.

"Aktuell haben wir allen Grund zur Sorge, dass bis Sommer die notwenigen Schritte nicht umgesetzt sein werden", berichtet Hanisch. Das Problem sei, dass die Personal- und Raumnot "ganz direkte Konsequenzen für die Umsetzung der pädagogischen Konzepte in den Berliner Ganztagsschulen hat". Die "immer schlimmere räumliche und personelle Verdichtung" habe zur Folge, dass individuelle Förderung zum Beispiel von Kindern mit Sprachförderbedarf oder mit sonderpädagogischem Förderbedarf "oft nicht mehr umzusetzen sind".

Was den räumlichen Bedarf anbelangt, mahnt die GEW, dass sich der Senat "nicht hinter der Verantwortung der Bezirke verstecken darf". Der Senat sei mit in der Verantwortung.

In Bezug auf den personellen Bedarf sagte Hanisch, so lange Berlin seinen Erzieherinnen viel weniger zahle als alle anderen Bundesländer, "müssen wir uns keine Hoffnung machen, den steigenden Bedarf an Erzieherinnen decken zu können".  Dabei biete die gerade laufende Tarifrunde die einmalige Chance für die Stadt, "ein Signal an alle neu ausgebildeten Erzieherinnen zu senden, dass der Beruf in Berlin attraktiv ist und gewertschätzt wird".

Was passiert in den Ferien?

In dem offenen Brief werden aber noch weitere Probleme angesprochen. Dazu zählt, dass sich Grundschulen bislang oftmals in Verbünden zusammenschließen, um gemeinsam die Ferienbetreuung abzusichern. Nun lautet die Befürchtung, dass viel mehr Kinder in den Ferienhort kommen, so dass es nicht mehr reichen dürfte, nur einzelne Schulen offenzuhalten. Wenn aber alle Schulen einen Ferienhort anbieten müssten, würde das bedeuten, dass viel mehr Erzieher als bisher in den Ferien arbeiten und ihren Urlaub mitten im Schuljahr nehmen. In der Konsequenz würden sie in der Schulzeit fehlen.

"Das verkompliziert den Schulalltag um ein Vielfaches, belastet die Erzieherinnen und Lehrerinnen zusätzlich und gefährdet unter anderem die Zusammenarbeit mit unseren Lehrerkolleginnen", warnen die Verfasserinnen des Briefes. So könne die Begleitung von Wandertagen, Klassenfahrten und Unterrichtsgängen durch Erzieherinnen "nicht mehr sichergestellt werden". Darüber hinaus fordern die Erzieherinnen einen gesetzlich abgesicherten mindestens dreiwöchigen verpflichtenden Erholungsurlaub für die Kinder, um zu verhindern, dass Eltern sie ständig in den Hort schicken.

Konsequenzen für die Inklusion

Wenn mehr Kinder als bisher in den Ferienhort kämen, hätte das aber auch Auswirkungen auf die Förderkinder: Während die Erzieherinnen in der Schulzeit mit den Sonderpädagogen und Sozialarbeitern kooperieren könnten, seien sie in den Ferien "auf sich allein gestellt": Nicht jede Schule habe genügend Facherzieher, um eine entsprechende Versorgung für die Kinder in den Ferien sicherzustellen.

Daher fordern die Erzieherinnen von der Senatorin ein "schnelleres, unkompliziertes Feststellungsverfahren für Kinder mit einem Integrationsbedarf" und einen deutlich höheren Schlüssel von Facherzieherinnen: "Gerade bei uns im Brennpunkt Neukölln, wo viele nicht festgestellte Kinder mit emotional-sozialen Defiziten sind, ist das von besonderer Wichtigkeit", lautet die Mahnung.

"Exklusives Ferienangebot" für die Senatorin

Am Schluss ihres Briefes fordern die Verfasserinnen eine wesentlich bessere Bezahlung - nach der Entgeltgruppe 10 -, und sie haben für die Senatorin ein "exklusives Ferienangebot" für die Herbstferien 2019. Es lautet: "Verbringen Sie 14 Tage von 6 bis 18 Uhr einen all-inklusiv-Urlaub in einem Klassenraum einer Neuköllner Schule".

Den offenen Brief der Erzieherinnen im Wortlaut finden Sie hier (als PDF).

Anmerkung: Die Forderung der Erzieherinnen nach "kostenlosem Schulessen" ist inzwischen überholt: Es wurde erst mit dem Nachtragshaushalt beschlossen, nachdem der Brief verfasst worden war.

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