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Das Ziel vor Augen: Die 39-jährige Elfy möchte ein eigenes Zimmer - doch der Weg dahin ist schwierig.

© Sebastian Höhn

Obdachlosigkeit in der Hauptstadt: Wie eine krebskranke Berlinerin auf der Straße überlebt

Elfy ist seit vier Jahren wohnungslos und hat Krebs. Kurz vor Weihnachten hofft sie auf einen Platz im Betreuten Wohnen - und ihre Liebe zu Janis.

Es ist Sommer. Ein grüner Garten. Und der kleine Junge mit den hellblonden Haaren lacht ins Sonnenlicht. „Da ist er gerade ein Jahr alt“, sagt Elfy und schiebt das winzige Foto, das kaum größer ist als ihr Daumennagel, zurück in den Deckel ihrer Taschenuhr. Mitsamt der silbernen Kette verstaut sie die Uhr, deren Zeiger still stehen, in ihrer schwarzen Hüfttasche. „Mein Heiligtum“, sagt sie. Nachts schläft sie auf der Tasche, damit ihr die Uhr mit dem Foto ihres Sohns nicht gestohlen wird.

Es ist Winter. Es ist kalt. Und Elfy, 39 Jahre alt, gelernte Köchin, ist obdachlos. Sie sitzt im Café eines Supermarkts in Lichtenberg und rührt Zucker in ihren Latte Macchiato. Das Piepen der Kassen ist zu hören. Elfy, wie sie von ihren Kumpels genannt wird, will wegkommen von der Straße. Auch, weil sie Krebs hat. Einen, der sich seit Jahren beständig ausbreitet in ihrem schmalen Körper. Den 40. Geburtstag, haben ihr Ärzte einmal gesagt, werde sie vielleicht nicht mehr erleben.

Ihr Haare sind zottelig, einige Zähne fehlen

Sie hat blonde Haare, wie ihr Sohn, als er klein war. Aber sie sind zottelig, und es ist kein natürliches Blond. In den vergangenen Wochen hatte sie viele Termine, ist zu Ämtern gelaufen, hat Anträge gestellt. Bis sich Türen öffneten und Elfy das Angebot bekam, in eine Einrichtung für betreutes Wohnen in Neukölln aufgenommen zu werden. Dort hätte sie ein eigenes Zimmer und Unterstützung von Sozialarbeitern. Ein festes Dach über dem Kopf, in greifbarer Nähe.

Wenn sie über diesen Erfolg spricht, wirkt sie aufgekratzt und lächelt. Dann sieht man, dass ihr ein paar Zähne im Unterkiefer fehlen.

Noch vor Heiligabend könne sie einziehen, habe man ihr in Aussicht gestellt. Für Elfy würde damit ein großer Wunsch in Erfüllung gehen.  Auch, weil ihr Sohn sie besuchen will. „Ich möchte so gern mit ihm Weihnachten feiern“, sagt sie. Mario*, der kleine Junge aus der Taschenuhr, ist mittlerweile 18 Jahre alt und lebt in Dresden. Sie sehen sich nur selten. Er habe eine geistige Beeinträchtigung und wisse nichts von ihrer Obdachlosigkeit, sagt Elfy.

Sie schaut auf ihr Handy. Das Wohnheim hat noch nicht angerufen. Für einen Moment verschwindet das Lächeln aus ihrem Gesicht.

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Das betreute Wohnen ist für Elfy seit langem die erste Chance, von der Straße wegzukommen. Dort unterstütze man sie dabei, wieder einen kleinen Haushalt zu führen, Post zu beantworten, Eigeninitiative zu entwickeln. So erklärt es Guido Fahrendholz, Leiter der Notunterkunft in der Storkower Straße in Pankow, in der Elfy im Winter übernachtet.

Fahrendholz hat sie ermutigt, diesen Weg zu gehen. „Das ist eine Art WG, in der es auch suchttherapeutische und psychologische Angebote gibt“, sagt er. Als nächster Schritt komme die Suche nach einer eigenen Wohnung. Fahrendholz findet es beachtlich, dass Elfy so weit gekommen ist. „Das ist selten bei Obdachlosen“, sagt er.

Nachts bekommt sie Atemprobleme

Der Eingang eines Supermarkts, einige Tage später. Zigarettenqualm hängt in der feuchten Morgenluft, Kronkorken ploppen. Russische Popmusik tönt aus einer Bluetooth-Box. Elfy umarmt einen Mann, der auf einem Geländer sitzt und ein Bier in der Hand hält. „Ich liebe Dich“, flüstert sie ihm ins Ohr. Janis, ihr neuer Freund, kommt ursprünglich aus Lettland. Wie die meisten Männer, die hier ihren Vormittag verbringen, nachdem sie gegen sieben Uhr morgens die Notunterkünfte in der Storkower Straße verlassen mussten. Sie sammeln Leergut, trinken, rauchen, essen zusammen.

Elfy ist die einzige Frau in der Runde. Beim Frühstück hat sie Stullen geschmiert für sich und Janis. „Wir achten beide darauf, dass der andere genügend isst“, sagt sie. Vor allem sie selbst neige zu Untergewicht. Wegen des Alkohols. Wegen der Medikamente. Und wegen der Metastasen in ihrem Körper: am Kehlkopf, in der Lunge, in der Wirbelsäule. Nachts, wenn sie auf dem Rücken liegt, bekommt sie Atemprobleme. Sie ist froh, dass jetzt Janis neben ihr liegt. „Er passt auf mich auf.“

Die Sozialarbeiter vom betreuten Wohnen haben wieder nicht angerufen. Wo soll sie mit ihrem Sohn Weihnachten feiern? „Nicht in der Notunterkunft“, sagt Elfy. „Zu viele Besoffene.“

Die Tasche mit dem Foto ihres Sohnes trägt Elfy immer bei sich.
Die Tasche mit dem Foto ihres Sohnes trägt Elfy immer bei sich.

© Sebastian Höhn

Ihr Besitz passt in eine Sporttasche

Noch ein paar Männer stoßen dazu. Einer öffnet eine Flasche Korn. Sie geht reihum. Elfy greift nach der Flasche und setzt sie an die Lippen. „Ich will eigentlich aufhören. Aber auf der Straße ist es einfacher so.“ Sie nimmt einen Schluck.

Elfy trägt eine grob gemusterte Winterjacke, die Hüfttasche mit dem Bild ihres Sohnes darin hat sie wie eine Schärpe umgelegt, und neben ihr steht eine Sporttasche auf dem Boden, in der sich Wechselklamotten, Schminke, ein Kulturbeutel und eine Gabel für alle Fälle befinden. Mehr besitzt sie nicht.

S-Bahnhof Prenzlauer Allee, zwei Tage später. Die Männer kaufen bei einem Discounter Bier, Elfy packt ihre Stullen aus. Vormittags-Routine. Die Sonne scheint, als dürfe es an diesem Tag keine Schatten geben. Eine weiße Hauswand wirft das Licht zurück. Elfy und Janis kneifen die Augen zusammen. „Ich will ihn auch von der Straße holen, mit ihm zusammen wohnen“, sagt sie. „Ich hätte Angst, ohne Janis zu leben.“

Wie Elfy auf der Straße landete

Auf dem Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg soll es ein warmes Mittagessen für Obdachlose geben. Auf dem Weg dorthin erzählt Elfy, wie schwer es ihr falle, allein zu sein. Besonders schwer sei es gewesen, als 2014 ihr Mann starb, der Vater ihres Sohnes. Auch er hatte Krebs. Bis zu seinem Tod habe sie ihn mit der Hilfe seiner Mutter gepflegt.

Ihre Arbeit als Köchin verlor sie unterdessen, weil sie immer häufiger fehlte, sie rutschte in Drogenkonsum ab, trank viel Alkohol. Ein Jahr später war auch ihre Wohnung weg. Eine Zeitlang kam sie bei Freundinnen unter. Aber irgendwann wollte sie nicht mehr fragen.

"Kann sein, dass ich mal einen Tag zu betrunken war"

Wenn Elfy über ihren verstorbenen Mann spricht, muss sie zwangsläufig auch an sich selbst denken. Eigentlich stünde wieder eine Chemotherapie an. Aber die vertrage sie einfach nicht. Sie sind auf dem Helmholtzplatz angekommen. Dort beginnen die Helfer, Suppe und Würsten auszugeben. Dazu gibt es Weihnachtsplätzchen. Elfy weiß, dass sie vielleicht nicht mehr lange leben wird. Aber den 40. Geburtstag, den schaffe sie. Sie habe schon einige Prognosen überlebt.

Wieder kein Anruf aus dem Wohnheim. Hat sie vielleicht einen Termin versäumt? Hätte sie sich melden müssen? Elfy blickt nachdenklich ins Leere. „Vielleicht. Kann sein, dass ich mal einen Tag zu betrunken war.“ Sie zündet sich eine Zigarette an. Wenn es bis Heiligabend nicht klappe, müsse Mario bei seiner Pflegemutter Weihnachten feiern. Bei der Frau, die ihn an ihrer Stelle großgezogen hat. Nun will Elfy einen neuen Anlauf nehmen. Es sind nur noch wenige Tage bis Weihnachten.

Sebastian Höhn

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