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Lehrerin mit 17. Kim Nitsche unterrichtet Englisch im Treffpunkt Strohhalm in Treptow-Köpenick.

© Kai-Uwe Heinrich

Obdachlosenprojekt in Berlin: Mit Bildung zurück ins Leben

An der Obdachlosen-Uni können Wohnungslose und andere Bedürftige Englisch und weitere nützliche Dinge lernen.

Für Tausende Berliner Erstsemester hat vor wenigen Wochen die Universität begonnen. Während die meisten Studierenden eher auf Fächer wie Jura, Betriebswirtschaftslehre oder Medizin setzen, ist das Angebot der Obdachlosen-Uni wesentlich handfester: Im „Vorlesungsverzeichnis“ findet man zum Beispiel Malkurse und „Fahrradwerkstätten“.

Oder Sprachkurse. Im Treffpunkt Strohhalm in der Wilhelminenhofstraße in Treptow-Köpenick findet am heutigen Tag zum Beispiel ein Englischkurs für Fortgeschrittene statt. Auf dem Stundenplan steht der Unterschied zwischen „do“ und „make“. „Did you do your homework?“, fragt die Lehrerin mit den langen blonden Haaren, Kim Nitsche, und blickt in die Gruppe. Um einen Tisch sitzen fünf Männer und Frauen um die sechzig, die nun brav ausgefüllte Arbeitsblätter hervorkramen.

Die Obdachlosen-Uni ist ein Bildungsprojekt für Bedürftige. Ihr Ziel ist es, Wohnungslose mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Initiator Maik Eimertenbrink hatte von ähnlichen Projekten in Österreich gehört und beschloss: Das müsste es auch in Berlin geben. Mittlerweile finden seit sechs Jahren fast jeden Wochentag Unterrichtsstunden statt. Die Seminare leiten überwiegend Ehrenamtliche, darunter auch ehemalige Wohnungslose. Unterrichtet wird an unterschiedlichen Orten in Berlin, etwa im Brückeladen der Gebewo Soziale Dienste in Schöneweide und in Räumlichkeiten der Stiftung SPI, wie zum Beispiel dem Treffpunkt Strohhalm.

Neben dem praktischen Nutzen, dass alle dabei etwas sinnvolles lernen, will die Obdachlosen-Uni Struktur und Anerkennung in den Alltag der Teilnehmer bringen und wenigstens für die Zeit des Kurses von Gedankenspiralen und Sorgen ablenken.

Die Lehrerin ist erst 17 - sie hat die Truppe im Griff

Dabei ist die Bezeichnung Obdachlosen-Uni irreführend. Denn was primär als Angebot für Wohnungslose startete, richtet sich inzwischen generell an Menschen in sozialen Notlagen. Auch unter den Anwesenden des Englischkurses für Fortgeschrittene lebt niemand auf der Straße. Da ist zum Beispiel Matthias, dessen verblasste Tattoos von einer Zeit erzählen, als er vor über vierzig Jahren zur See fuhr. Und Jürgen, der häufig wegen des günstigen Essens in den Treffpunkt Strohhalm kam und noch kein Englisch konnte. „I learnt to speak English at Strohhalm“, sagt er stolz. Außerdem Helga, die die Hände konzentriert an die Schläfen gelegt hat und sich entschuldigt, weil sie heute mit dem Kopf woanders sei. Ebenso das Ehepaar Ingrid und Wolfgang. Sie finden, dass reinrufen nicht zählen dürfte, wenn man schon so lange verheiratet ist. Der Background ist nicht so wichtig. Schließlich geht es hier ums Englischlernen. Und dabei unterstützen sich die Kursteilnehmer gegenseitig.

Gerade tut sich Helga beim Übersetzen schwer. Die Wörter kennt sie, doch die Satzreihung purzelt immer wieder durcheinander. „Subjekt, Prädikat, Objekt“, erinnert Kursleiterin Kim Nitsche. Im Gegensatz zu ihren Schülern, die allesamt die Sechzig überschritten haben, ist Kim erst 17 Jahre alt. Für ihr junges Alter hat sie die Truppe erstaunlich souverän im Griff. Als Helgas Handy zu bimmeln beginnt, sagt sie streng: „No phones in the classroom, please.“ Die Teilnehmer hätten Kim nie spüren lassen, dass sie fünfzig Jahre jünger als die meisten ihrer Schüler ist, erzählt sie. „Der Respekt kommt mit der Dankbarkeit“, sagt Kim. Ihr Abitur machte die Berlinerin schon mit 16. Statt sich in die Uni einzuschreiben, wollte die damals 16-Jährige aber erst einmal Erfahrungen sammeln: Praktika machen, den Führerschein bestehen – und ihren Kiez unterstützen. Also fragte Kim Nitsche im Treffpunkt Strohhalm an, ob ihre Unterstützung gebraucht werde. In Englisch war sie immer besonders gut, also übernahm sie den Englischunterricht. Seit knapp einem Jahr steht Kim nun immer dienstags vor ihrer kleinen Englischklasse. Das Lehren macht Kim so viel Spaß, dass sie es später zum Beruf machen möchte: Noch im Oktober wird sie ein Lehramtsstudium aufnehmen. Genug Zeit für ihren Englischkurs bleibe aber hoffentlich trotzdem noch.

Das Angebot ist sehr niedrigschwellig und deshalb so beliebt

Im Gegensatz zu Sprachkursen, die einen Einstufungstest voraussetzen und Anwesenheitslisten führen, funktioniert die Obdachlosen-Uni möglichst niedrigschwellig. Jeder, der da ist, darf mitmachen. Ein Konzept, dass zur Philosophie des Treffpunkt Strohhalm passt. Neben der Stiftung SPI, dem Träger des Treffpunkt Strohhalm, kooperiert die Obdachlosen-Uni mit verschiedenen Vereinen, die Erfahrung in der Arbeit mit Wohnungslosen haben und über Räumlichkeiten verfügen. „Oft werden wir angefragt, ob wir schon bestehende Bildungsangebote mit ins Vorlesungsverzeichnis aufnehmen wollen“, erklärt Maik Eimertenbrink. So entstand auch die Kooperation von Obdachlosen-Uni und dem Treffpunkt Strohhalm. Im Treffpunkt Strohhalm gibt es neben Sozialberatung auch Gruppenangebote und Unterstützung bei psychosozialen Problemlagen.

Im Klassenraum meldet sich Matthias, der ehemalige Seemann, um Helga mit der richtigen Antwort weiterzuhelfen: „I made a bargain“, sagt er zufrieden. Was so viel heißt wie „ein Schnäppchen machen“. Darin sei er nämlich sehr gut. Nach dem Kurs will er noch in der Kleiderkammer vorbeischauen. Die gibt es nämlich auch im Treffpunkt Strohhalm, neben Duschmöglichkeiten, günstigem Essen und vielerlei Gruppen- und Freizeitaktivitäten. Der Treffpunkt richtet sich unter anderem an Suchtkranke und Wohnungslose, ist aber generell ein Ort für Menschen in schwierigen Situationen. Täglich kämen zwischen 50 und 100 Leuten hierher. Eine bunte Mischung an Menschen.

Während im Seminarraum Englisch gebüffelt wird, sitzen im Garten des Backsteinhauses Menschen allen Alters und aus verschiedenen Ländern zusammen. Gerade ist Mittagszeit. Für 1,20 Euro gibt es Spinat und Kartoffeln. Einige Menschen kommen mit akuten Problemen, weil sie in Selbsthilfegruppen Unterstützung im Kampf gegen die Sucht suchen oder Hilfe für Amtsangelegenheiten benötigen. Andere haben den ersten Schritt schon getan und fanden im Erdgeschoss der Wilhelminenhofstraße einen Ort, an dem sie sich einfach nur wohlfühlen und gerne ihre Freizeit verbringen. „Manche sind täglich hier und nutzen alle unsere Angebote, andere kommen seltener“, sagt Maria Hille. Sie arbeitet im Treffpunkt Strohhalm als Sozialpädagogin. Es sei aber auch ein Ort der Begegnung. „Ein Kieztreff für alle eben“, sagt Hille.

Nach dem Kurs holt Matthias einen schon etwas zerlesenen Roman aus seiner Umhängetasche. „Guck mal, ich hab dir was von Fontane mitgebracht“, sagt er und reicht Ingrid ein Buch über den Tisch. Denn eins ist in der Obdachlosen-Uni spürbarer als in jeder Erstsemesterveranstaltung: die Lust auf Bildung.

Weitere Informationen zur Obdachlosen-Uni findet man unter: www.obdachlosen-uni-berlin.de, www.treffpunkt-strohhalm-berlin.de oder www.stiftung-spi.de/projekte/treff-strohhalm

Miriam Dahlinger

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