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Mitglieder der Karuna Sozialgenossenschaft halten die Straßenzeitung "Karuna Kompass".

© Christoph Soeder/dpa

Obdachlosenmagazin „Karuna Kompass“: Der Nachfolger des „strassenfeger“ ist da

Das neue Straßenmagazin „Karuna Kompass“ vereint Sozialarbeit mit Kultur. Der Erlös des Gesellschaftsheftes geht an die Verkäufer.

„Karuna“, das ist ein zentraler Begriff aus dem Buddhismus, der Empathie bedeutet. Die Karuna Sozialgenossenschaft hat diesen Begriff bewusst gewählt, so bittet sie dieser Tage die Berlinerinnen und Berliner, bei Hitze möglichst ein oder zwei Flaschen Wasser, ein Käppi und Sonnencreme mitzunehmen, um sie bei Bedarf obdachlosen Menschen schenken zu können. Und es sollen innerhalb einer gemeinsamen Spendenaktion mit dem Unternehmen Fritz Kola auch noch Duschcontainer in der Stadt aufgestellt werden. Doch die Hilfe von Karuna setzt auch in vielen anderen Bereichen an. Viel Stoff für Geschichten.

Auch für den „Karuna Kompass – Zeitung aus einer solidarischen Zukunft“. Das ist die jetzt jüngste Straßenzeitung Berlins, sie erscheint an jedem 15. des Monats, hat einen Umfang von 32 Seiten und kostet 1,50 Euro – der Erlös geht zu einhundert Prozent an die Verkäuferin oder den Verkäufer. Ein neues Kapital also in der Geschichte der Obdachlosenmagazine in Berlin.

Denn schließlich war der „strassenfeger“ aufgrund von weniger Verbreitung und weniger Interesse am bestehenden Konzept vor einem Jahr wegen sinkender Auflagenzahlen nach 23 Jahren plötzlich und überraschend eingestellt worden. Da ist jetzt das Nachfolgemedium schnell am Start: Die Karuna Sozialgenossenschaft sprang nach vergeblichen Kooperationsangeboten kurz entschlossen in die entstandene Lücke ein mit der neuen Straßenzeitung, dem „Karuna Kompass“. Der Name mit dem Verweis aufs Mitfühlen ist auch hier Programm und Wegweiser.

Schon wegen dieses Mottos unterscheidet sich der „Karuna Kompass“ in seinem Erscheinungsbild, seiner inhaltlichen Ausrichtung und der Vertriebsstruktur deutlich von seinem Vorgänger. Die Auflage beträgt 25.000 bis 35.000 Exemplare, hält man es in der Hand, fällt Leserinnen und Lesern das frische und luftige Layout ins Auge, das sehr viel moderner und einladender – fast wie ein hippes Magazin – auf ein jüngeres Publikum zielt. Großzügig gesetzte Texte und Interviews sind eher Impulsgeber, Bilder und grafische Elemente lockern das Erscheinungsbild zusätzlich auf.

Wirkungsvolle Partnerschaft

Kunst und Soziales gehen hier offensichtlich eine wirkungsvolle Partnerschaft ein. Nähert sich die Kunst immer häufiger mit aufwendigen Recherchen, Dokumentationen und Statistiken der sozialen und politischen Arbeit an, so fällt die jüngste Straßenzeitung Berlins durch ihr kreatives und innovatives Image auf. Kein Wunder, denn die Kreativdirektion und das Grafikdesign werden ehrenamtlich von der Firma Independent Connectors des Sammlers und Netzwerkes Christian Kaspar Schwarm übernommen, der den diesjährigen Art Cologne Preis erhielt.

Die Chefredaktion liegt in den ebenfalls ehrenamtlichen Händen der Kunstkritikerin Astrid Mania. Auch inhaltlich will der „Karuna Kompass“ nicht allein Straßenzeitung oder gar Alibi zum Betteln sein, sondern eine Zeitung für gesellschaftliche Veränderungen „aus einer solidarischen Zukunft“.

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Anders als der „strassenfeger“, der sich in seiner redaktionellen Ausrichtung als „linkes Boulevardblatt“ verstand, und anders als die „motz“, die ihren Schwerpunkt auf Armut und Wohnungslosigkeit legt, oder die „motz-life“, die unter Mitarbeit von Betroffenen deren Erfahrungen und Sichtweisen ins Zentrum rückt, hat der „Karuna Kompass“ eine sehr breite Agenda.

In den ersten neun Ausgaben kommen Themen aus Gesellschaft und Politik, Philosophie und Kunst zur Sprache: Solidarität, Zivilcourage, Gemeinsinn, Handeln, Erfolg und Verantwortung sind zentrale Begriffe, die auf abstrakter wie praktischer Ebene verhandelt werden und eine Brücke schlagen zwischen Käufern und Verkäufern. Aber auch aktuelle und lebenswichtige Themen wie Wohnungs- und Arbeitslosigkeit, Hygiene und Gesundheit, Umwelt- und Klimaschutz gehören zum Spektrum.

Eigenes Vertriebskonzept

Prominente Autoren wie Carolin Emcke oder Wolfram Ullrich kommen genauso zu Wort wie engagierte und betroffene Jugendliche. Naturgemäß werden auch die hauseigenen Projekte vorgestellt, die von der Karuna Sozialgenossenschaft und dem Verein „Zukunft für Kinder und Jugendliche in Not“ entwickelt werden, wie die Bundeskonferenz der Straßenkinder, eine erste Buslinie für Obdachlose oder das „Tiny Houses“-Wohnprojekt. So ist ein Ziel, dass „Mitmenschen ohne Obdach durch den Verkauf des ,Kompass‘ künftig ‚Tiny Shelters‘ mieten können, als eine neue Möglichkeit, sich einen Weg aus der Obdachlosigkeit zu bahnen“, heißt es auch auf der Karuna-Website.

[Hier können Sie spenden: Konto: Karuna eG, IBAN: DE73 4306 0967 1196 0322 02, BIC: GENODEM1GLS]

Die vor zwei Jahren von Jörg Reichert gegründete Sozialgenossenschaft ist eine Inklusionsgemeinschaft unterschiedlichster Menschen und versteht sich als eine Art gesellschaftliches Entwicklungslabor. Ziel sei die Einbindung der ganzen Zivilgesellschaft und die effiziente Entwicklung und Umsetzung neuartiger und innovativer Hilfsangebote, wobei es immer um eine Hilfe zur Selbsthilfe geht.

Aus diesem Ansatz verfolgt der „Karuna Kompass“ auch ein eigenes Vertriebskonzept. Anders als bei den meisten Straßenzeitungen gehen daher nicht nur zwei Drittel, sondern hundert Prozent des Verkaufspreises von 1,50 Euro an die Verkäufer. Das ist möglich, weil die Produktionskosten von rund 2000 Euro pro Ausgabe dank der ehrenamtlichen Mitarbeiter relativ niedrig sind und durch Spenden und Anzeigen finanziert werden können.

So helfen etwa der Liedermacher Rainhard Fendrich und die Schauspielerin Stefanie Stappenbeck mit Spenden oder die BSR mit Anzeigen. Gegen das Argument, ein anteiliger Gewinn könne zu mehr Mitverantwortung der Verkäufer führen, bringt der Karuna-Gründer Jörg Reichert seine Erfahrung und Überzeugung vor, wie aufwendig die Abrechnung mit den Verkäufern und wie wichtig ein niedrigschwelliges Angebot, Freiheit statt Kontrolle, Selbstverantwortung und -verpflichtung seien.

Insofern gibt es auch keine Verkäuferausweise (nur auf Wunsch) und zugewiesene Standorte wie bei anderen Straßenzeitungen. Vor den Revierstreitigkeiten insbesondere am Hauptbahnhof und dem Missbrauch der Zeitung zum Betteln kann dieser Idealismus freilich nicht schützen.

Vielleicht kann er sich aber ausbreiten wie ein Lächeln oder Vogelgezwitscher. Denn „Karuna“ ist auch der Ruf in Aldous Huxleys Roman „Eiland“, den die Inselbewohner den dortigen Vögeln beigebracht haben, um die Menschen an Mitgefühl und Achtsamkeit zu erinnern.

Dorothea Zwirner

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