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Der Solaraufbau des „Projekts Rooftop“ von TU und UdK Berlin bietet nicht nur Wohnraum - er würde auch das Mutterhaus mit Strom versorgen.

© Simulation: Teamrooftop/Saqib Aziz

Nutzung von Dächern: Die Stadt über Berlin

Es gibt noch jede Menge Platz – über unseren Köpfen. Auf Dächern kann Fußball gespielt, Wasser geklärt und Gemüse angebaut werden. Man muss es nur wollen. Ein Erkundungsgang in luftiger Höhe.

Von Hendrik Lehmann

Samstagnacht, neun Leute auf einem Dach irgendwo in der Sonnenallee. „Lauf nicht so nahe an den Rand, Simikka“, ruft Georg, „ich kann das nicht mit ansehen“. Der 27-Jährige drückt sich noch ein wenig enger an den Schornstein. Die Dachpappen sind warm und weich von der Sonne, aus einem Schornstein riecht es nach Fisch, den ein Hausbewohner am Abend gebraten hat.

Die blonde Neuberlinerin ist inzwischen unbeschadet zurück, liegt auf dem Rücken und genießt die Aussicht. Gespräche fließen nur mit langen Unterbrechungen dahin, es gibt einfach zu viel zu schauen: die Signallichter der wenigen hohen Gebäude Berlins, schlafende Kräne, aufmüpfige Baumspitzen – und unzählige weitere grauschwarze Dachflächen, leer, nur gespickt mit Antennen und Ziegelschornsteinen, die meisten davon längst zusammen mit den Kohlenheizungen stillgelegt. „Ganz schön viel Platz hier oben“, sagt jetzt Andreas, der tagsüber Architekt ist. „Ja, da könnte man so einiges machen“, antwortet Georg, Stadtplaner. „Aber es passiert ja bereits.“ Die beiden zählen Beispiele auf: neue Wohnmodule, so entwickelt, dass sie auf Dächer aufgesetzt werden können. Begrünung, die bessere Dämmung ermöglicht und gleichzeitig das Stadtklima verbessert. Gewächshäuser und Solarmodule. „Oder eben das, was wir hier machen“, sagt Georg und grinst, „das ist ja auch ganz gut.“

5000 Fußballfelder Fläche über der Stadt

Erlaubt ist der nächtliche Ausflug der neun nicht. Es ist aber momentan die häufigste Nutzung von Berliner Dächern. Darüber hinaus hat sich jedoch in den letzten Jahren eine wachsende Zahl von Firmen, Forschungsgruppen und Verbänden aufgemacht, auszuloten, wie die Flachstadt Berlin vorsichtig in Richtung Himmel ausgedehnt werden könnte. Denn je knapper und teurer innerstädtischer Raum wird, je weniger Freiflächen übrig bleiben, die bebaut, bepflanzt, belebt werden können, desto lukrativer wird es, die nahezu unbegrenzten Flächen über unseren Köpfen zu nutzen. In Berlin sind es an die 40 Millionen Quadratmeter, schätzt ein Experte, weit mehr als 5000 Fußballfelder. Und auch wenn der vertikalen Erweiterung durch Regeln wie Traufhöhe und Denkmalschutz oder den sandigen Boden enge Grenzen gesetzt sind, erwacht sie schon jetzt ganz langsam zum Leben – die Stadt über Berlin.

Zeit für einen Erkundungsgang zwischen Dachgebälk und Spätsommerhimmel.

Am Boden herrscht Platzmangel

„Etwas dünn besucht heute“, sagt Frederike Faust und verteilt neonorange Plastikhütchen auf dem schreiend grünen Kunstrasen. „Ja, Sommerloch!“, ruft Jenny Coen zurück, während die sieben Fußballerinnen vom DFC Kreuzberg anfangen, sich warm zu machen. „Die anderen sind wohl noch nicht aus dem Urlaub zurück.“ Ihre Teamkolleginnen verpassen etwas: Fußballtraining im wohl spektakulärsten Licht des Jahres, Mitte August, sieben Uhr abends, in zwölf Meter Höhe, keine Wolke am Himmel – auf einem Baumarktdach mitten in Kreuzberg.

Der Hellweg-Baumarkt steht direkt am S-Bahnhof Yorckstraße, groß, weiß, mit dem üblichen überdimensionierten Parkplatz davor. Er ist das Ergebnis eines Kampfes. Ob und wie der Baumarkt auf dem sogenannten Yorckdreieck gebaut werden würde, war heftig umstritten. Die Kreuzberger SPD argumentierte kurz vor Baubeginn 2013, es bräuchte nun wirklich dringender neue Wohnungen als einen weiteren Baumarkt. Die Grünen hingegen, damals noch unter Bezirksbürgermeister Franz Schulz, hielten den Markt für die ökologischere Lösung, wegen des Luftaustauschs und der Sichtachse über den Gleisdreickpark. Aber eben auch deshalb, weil Hellweg versprochen hatte, auf dem Dach einen Sportplatz zu bauen, auf eigene Kosten. Und in Kreuzberg herrscht Platzmangel.

„Es ist wahnsinnig schwer, Zeiten fürs Training zu bekommen“, sagt Friederike Faust. In Berlin gibt es seit Jahren zu wenige Sportplätze, in Friedrichshain-Kreuzberg sowieso. Der Bezirk ist so dicht besiedelt wie kein anderer, hier wohnen so viele Menschen pro Fläche wie in den dicht besiedeltsten Gebieten von London. Weil hier zudem überdurchschnittlich viele junge Leute wohnen, können die bestehenden Sportplätze die Nachfrage nach Trainingszeiten kaum noch bedienen. Vor allem neue Vereine haben es schwer, einen der begehrten Termine nach Feierabend zu ergattern.

Die Frauen trainieren auf dem Dach des Hellweg-Baumarkts an der Kreuzberger Yorkstraße.
Die Frauen trainieren auf dem Dach des Hellweg-Baumarkts an der Kreuzberger Yorkstraße.

© DAVIDS/Guenter Peters

Der DFC Kreuzberg, gegründet 2012, hat es aber noch aus einem anderen Grund schwer: DFC, das steht für Discover Football Club, ins Leben gerufen von Frauen wie Faust und Coen, weil „wir endlich unter Bedingungen trainieren wollten, die den Bedürfnissen von Frauen entsprechen“. In vielen Fußballvereinen, so Faust, kriegen die Frauen nur die schlechtesten Trainingszeiten ab, müssen die aussortierten Trikots der Männer-A-Jugend tragen und bekommen dann auch noch sexistische Sprüche ab. Die 31-Jährige spricht nicht nur aus persönlicher Erfahrung, als Ethnologin promoviert sie über Frauenfußball. „Bei uns ist das anders“, sagt sie stolz, „bei uns spielen wir nicht auch mit, wir sind der Verein.“ Und dieses „Wir“ legt Wert darauf, dass alle mitmachen können, die wollen. Egal wie alt, egal woher, und auch egal, wenn diejenigen nicht eindeutig Mann oder Frau sind oder sein wollen. Das scheint aufzugehen. Seit der Gründung wächst der Verein rasant.

Die Statik macht es schwierig

Es ist eine seltsame Zwischenhöhe, auf der Faust, Coen und ihre Mitspielerinnen nun lange Schatten auf den Plastikrasen werfen. Die Häuser ringsherum wirken, als seien sie unterhalb des zweiten Stockwerks abgeschnitten worden, der Wind ist angenehm frisch, die Geräusche von der Straße gedämpft, wie die Klangkulisse in einem Freibad. „Dit is locker ein Einfamilienhaus, auf dem Sie da sitzen“, sagt jetzt Ralf Heinig, „Platzwart seit dem ersten Tach“. Er stand bislang nur beobachtend am Rand und deutet jetzt auf den Kunstrasen. Ganz leicht sei der, „made in Germany“, und deswegen wohl so teuer wie besagtes Haus. Auf dem Platz, der nun offiziell dem Bezirk gehört, sei nur „das Beste vom Besten“ verbaut worden, verkündigt der 61-Jährige mit dem grauen Haarkranz, während er immer noch breiter grinst. Befüllt ist der Rasen mit Granulat, um Feuchtigkeit zwischen den Plastikhalmen zu halten, „ made in Italy, 26 000 Euro allein für das Gummizeug“. Eingefasst ist das Kleinfeld in Gummiverbundpflaster, leichte weiche Spezialsteine. Überhaupt ist alles so leicht wie möglich, „wegen der Statik“. Deshalb dürften hier auch nur maximal 300 Leute auf einmal hoch.

Alles in allem ein Spitzenplatz, wie die Spielerinnen und der Platzwart finden, selbst nachts und im Winter bespielbar, dank LED-Strahlern und beheiztem Baumarkt darunter. Einziger Nachteil für Ralf Heinig: „Im Winter ein bisschen zu kalt, im Sommer ein bisschen zu warm.“ Die Sonne heizt die Fläche auf. „46 Grad hat das Thermometer an meinem Häuschen letzte Woche angezeigt.“

"Wenn Boden teuer ist, muss man nach oben ziehen"

Während der Plastikrasen in Kreuzberg einen dringend benötigten Freiraum bietet, steht ein anderes Dach in Mitte ganz im Dienst der Forschung. Es ist das Dach der Lebenswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität, Abteilung für Pflanzenphysiologie. Hier liegt das Reich von Bernhard Grimm, Sandalen, kurze Hosen, randlose ovale Brille. Er ist Pflanzenphysiologe und Grundlagenforscher. Dass Grimms mutierte Tabakpflanzen in einem 600 Quadratmeter großen Glasgewächshaus im obersten Stock eines gut hundertjährigen Gebäudes auf genetische Experimente reagieren, ist das Ergebnis einer Notlösung, die sich schnell als die bessere entpuppte.

Gutes Klima für Mutanten

Um in den Aufbau aus Aluminium und Glas zu gelangen, öffnet der Professor mehrere Sicherheitstüren. Es gilt Sicherheitsstufe S1, die niedrigste für gentechnisch veränderte Organismen. Das bedeutet, dass nichts aus diesem Gewächshaus unkontrolliert in die Umwelt gelangen darf. Drinnen hängt ein schwerer, leicht süßlicher Geruch in der Luft. „Das sind die Tabakpflanzen“, sagt Grimm. Ob er Raucher sei? Grimm lacht. Nein, Tabak habe lediglich besonders große Blätter, hervorragend für die biochemische Analyse. So wie alle Pflanzen hier oben, wird dieser Tabak aber nach Abschluss der Experimente vernichtet werden. Das gehört ebenfalls zur Sicherheitsstufe S1.

Professor Grimm züchtet genmanipulierte Pflanzen im Dachgewächshaus.
Professor Grimm züchtet genmanipulierte Pflanzen im Dachgewächshaus.

© Hendrik Lehmann

In der Ecke neben dem Tabak stehen einige Zuckerrohrpflanzen, „eine kubanische Zusammenarbeit“, sagt Grimm. Die Kooperation mit der Universität Havanna stammt noch aus der Zeit, als die HU die größte Universität des sozialistischen Ostdeutschlands und Kuba ein „Bruderstaat“ war. Als Grimm 2001 seinen Lehrstuhl besetzte, übernahm er auch dieses Relikt aus DDR-Tagen, sehr zur Freude der kubanischen Wissenschaftler, von denen einige für weitere Forschungen nach Berlin dürfen. Ein wesentlich problematischeres Relikt aus der Zeit vor der Wende tauchte 2014 beim Umbau des Dachstuhls auf, wie Grimm erzählt. Dort befanden sich zwischen den Lüftungsschächten des ansonsten leeren Dachstuhls die Überbleibsel eines Stasi-Postens. Mit Abhörgeräten lagen Geheimdienstler auf der Lauer – im Nachbargebäude in der Hannoverschen Straße befand sich die ständige Vertretung der Bundesrepublik.

In einem kleineren Nebenraum wächst unter optimalen Bedingungen eine größere Menge Unkraut. Die kleinen Pflänzchen der Acker-Schmalwand, Arabidopsis, wie Grimm sie zu nennen bevorzugt, haben zum Teil seltsam verfärbte Blätter. „Das sind Mutanten“, sagt der Professor trocken. Teile aus dem Genom wurden entfernt, um zu erforschen, in welchen Schritten genau das nötige Grün in den Blättern, das Chlorophyll, erzeugt wird. Diese erste Umwandlung von Licht in Leben, „letztlich die Grundbedingung für alles Weitere auf diesem Planeten“, das ist es, was den 58-Jährigen seit Jahrzehnten antreibt. „Das ist eine Energieumwandlung, wie sie kein Automotor hinbekommt“, schwärmt der gebürtige Hannoveraner.

Obwohl es hier oben auf dem Glasdach garantiert nicht an Licht mangelt, stand Grimm der Idee mit dem Dachgewächshaus zuerst „durchaus skeptisch gegenüber“. Seine Forschungen zu Photosynthese und Pigmentsynthese fanden vorher in einem Gewächshaus auf der Freifläche gegenüber statt. Als beschlossen wurde, dort ein neues Forschungszentrum für medizinische Systembiologie zu bauen, musste ein Ersatzstandort her. „Und wenn der Grund und Boden teuer wird, dann muss man eben nach oben ziehen“, sagt Grimm. So wurden 3,2 Millionen Euro investiert, um das Dach seines Instituts zum Gewächshaus umzubauen. Im Nachhinein ist der Professor froh darüber. Jetzt kann er einfach mit dem Fahrstuhl zu seinen wertvollen Mutanten fahren. Die manipulierten Kartoffeln müssen auch nicht mehr quer über das Gelände getragen werden.

Dämmende Gärten

Der Forscher hat auch ganz gute Argumente dafür, warum Gewächshäuser auf Dächern generell eine gute Idee sind: „Weil es immer wichtiger werden wird, die unnötig weiten Transportwege für Lebensmittel zu vermeiden.“ Mit Dachgewächshäusern könnte Gemüse direkt in der Nachbarschaft produziert werden. Utopisch? Axel Dierich, Experte für urbane Landwirtschaft, hat mit seiner Forschungsgruppe zFarm acht Millionen Quadratmeter Dachfläche in Berlin als geeignet für kommerzielles „Rooftop-Farming“ identifiziert. Würde man dort überall hochmoderne Gewächshäuser aufbauen, könnte man selbst konservativ geschätzt 242 000 Tonnen Gemüse pro Jahr ernten, genug, um gut zwei Drittel der Berliner Bevölkerung zu versorgen, so Dierich. Zudem dämmen Gewächshäuser ein Haus, die darin gespeicherte Energie kann auch Monate später noch zum Heizen benutzt werden.

Auch ohne Glas darüber hätte mehr Grün auf Dächern einige Vorteile. Das sagt auch Wolfgang Ansel vom Deutschen Dachgärtnerverband: Es sei eigentlich schwer verständlich, dass nicht alle Dächer irgendwie begrünt sind. Sie dämmen nicht nur im Winter, sondern kühlen im Sommer das Dachstockwerk. Weil der Regen hier nicht einfach hinunterfließt, sondern über die Pflanzen verdunstet, kommt nur ein Bruchteil des Wassers in die Kanalisation, was Abwasserkosten spart und Gewässer schont. Bei hoher Hitze wird die Luft um das Gebäude mit Gründach herum leicht gekühlt, weil das Wasser verdunstet, Schadstoffe werden aus der Luft gefiltert, Stadtlärm gedämpft. Außerdem hätten Bienen mehr Blüten zum Bestäuben. Der Himmel über Berlin könnte irgendwann blühen. Gewächshäuser und Parks statt Dachpappen und Satellitenschüsseln.

Hoch, höher, Honig

Überhaupt, die Bienen. Vom ehemaligen Ost-Berlin geht es hinüber in den Westen, nach Charlottenburg, zum Theater des Westens, der derzeitigen Spielstätte des Udo-Jürgens-Musicals „Ich war noch niemals in New York“. Dass Thomas Ultsch das Theater derzeit regelmäßig aufsucht, hat nichts mit den schauspielerischen Leistungen auf der Bühne zu tun. Der 38-jährige Hobbyimker interessiert sich vor allem für seine summenden Freunde, die ihre Massenchoreografie über dem achten Stockwerk des Gebäudes aufführen.

Ultsch führt vorbei an Hintereingängen und Ankleideräumen, ein steiles altes Treppenhaus hinauf, vorbei an den Rängen, dem Schnürboden, bis schließlich ganz oben die letzte Metalltür eine beeindruckende Sicht auf die City West freigibt: Europacenter, Gedächtniskirche, Ludwig-Erhard-Haus, eine kleine Bar oben auf dem Jugendhotel nebenan.

Imker Thomas Ultsch hält auf dem Dach des Theater des Westens vier Bienenvölker. Insgesamt gibt es etwa 1000 Stadtimker in Berlin.
Imker Thomas Ultsch hält auf dem Dach des Theater des Westens vier Bienenvölker. Insgesamt gibt es etwa 1000 Stadtimker in Berlin.

© Georg Moritz

In einer Ecke des Daches summt es aus hüfthohen, gelb-weißen Styroporquadern. Sie erinnern an Kühlkisten für Fische. Diese sogenannten Beuten hat Ultsch hier hinaufgetragen. Nun sind sie das Zuhause für vier Bienenvölker, „bis zu 50 000 Bienen pro Volk“, sagt der Radiojournalist. Auf den Dächern von Schillerpalais und ICC stehen inzwischen Bienenstöcke von anderen Stadtimkern, erzählt Ultsch. Knapp 1000 gibt es inzwischen in Berlin. Durch einen Kurs beim Imkerverein Charlottenburg wurde Ultsch vor zwei Jahren einer von ihnen. Mit seinem neu gewonnenen Wissen machte er sich auf die Suche nach einem Ort, wo er selber imkern könnte – nicht ganz einfach inmitten der Stadt. Zufällig stieß er auf einen Bericht über den uralten Imker Jean Paucton, der schon seit 30 Jahren Bienen auf der Pariser Oper hält. Ultsch schrieb sofort mehrere Theater in der Gegend an. Der Leiterin des Theaters des Westens gefiel die Idee, „wenigstens einen kleinen Beitrag zur Stadtnatur zu leisten“. Und so riecht es nun auf dem Theaterdach nach Honig, Sorte Lindenblüten. 100 Kilo hat Ultsch dieses Jahr schon geschleudert. Ein Glas seiner „Bärenbeute“ kostet vier Euro.

Aber ob das wirklich so gesund ist, Honig von Bienen, die in dem ganzen Abgas rings um den Bahnhof Zoo herumfliegen? Sehr wohl, sagt Ultsch. Letztes Jahr wurde sein Honig von einem Labor getestet. Schadstoffe konnten darin keine gefunden werden. Das liege daran, dass seine Bienen sich im Tiergarten, im Zoo, an Balkonpflanzen oder mit den Baumblüten Unter den Linden vergnügen. Und im Gegensatz zu den Monokulturen auf dem Land sind diese Pflanzen frei von Pestiziden.

Die Herausforderung ist die Statik

Ob Fußball oder Feierabendbier – die Idee, das Stadtleben auf die Dächer Berlins zu erweitern, ist nicht neu. Das größte Dach der Stadt wurde sogar genau dafür gebaut. Wenngleich es ein menschenverachtendes Stadtleben war, das dort stattfinden sollte. Ernst Sagebiel wurde nicht umsonst als Begründer der „Luftwaffenmoderne“ berühmt. Als er 1934 von Hermann Göring den Auftrag bekam, den Flughafen Tempelhof zu bauen, entwarf er nicht nur das zu der Zeit größte Gebäude der Welt, sondern zugleich ein wahnwitziges Kolosseum. Geplant als 1,3 Kilometer lange Tribüne, sollten vom Dach des Flughafens aus 80 000 Menschen den Kapriolen der Luftwaffenpiloten bei riesigen Flugschauen zujubeln.

Ein Dach für die Massen

„Die 13 Treppentürme, die die Architektur des Gebäudes stark bestimmen, wurden so geplant, dass 80 000 Leute notfalls in wenigen Minuten das Dach wieder verlassen könnten“, erzählt Gabriele Kaupmann, Leiterin für Sonderprojekte bei der Tempelhof Projekt GmbH, während sie durch einen der brachialen Türme auf das Dach steigt. Das Gebäude mit 22 Meter Höhe überrage die Berliner Traufhöhe leicht, erklärt die elegant gekleidete Frau mit stets sorgsam gewählten Worten. Deshalb werde der Blick von hier oben starr in Richtung Flugfeld und nach oben geleitet. Das sei so geplant gewesen. Ein glorifizierender Blick.

Jener Blick streift nun glücklicherweise keine Kampfjets, sondern schweift über eine spektakuläre Brache, aufgerissen nur durch die beiden stillgelegten Runways und unzählige kleinere Rollbahnen, vollgekritzelt mit einem Gewirr aus verschiedenfarbigen Nummern, Fahrbahnmarkierungen und Richtungsangaben. Von hier oben wirkt das Tempelhofer Feld wie ein halb verlassener Strand.

Kaupmann begann ihre Arbeit 2011 mit dem Auftrag, Wohnquartiere auf dem Feld zu entwickeln. Der Volksentscheid machte das obsolet. Heute sagt die Geografin: „Was die Menschen lieb gewonnen haben, wollen sie eben nicht wieder hergeben“. Ein „Super-GAU“ sei es trotzdem gewesen. So ging es dann weiter: Die Internationale Gartenschau wollte auch nicht mehr, Klaus Wowereits Landesbibliothek war den Berlinern zu pompös, dem für das Feld geplanten See machte der Umweltschutz einen Strich durch die Rechnung. Dabei wäre gerade der See wegen des Daches nützlich gewesen. Wenn es auf die 60 000 Quadratmeter niederregnet, sammelt sich so viel Wasser, dass es kostenpflichtig in den Landwehrkanal abgeleitet werden muss.

Die Geografin Gabriele Kaupmann erstellt das Konzept für die Nutzung des Flughafendachs.
Die Geografin Gabriele Kaupmann erstellt das Konzept für die Nutzung des Flughafendachs.

© Thilo Rückeis

Was also tun mit 1,3 Kilometer Dach? Vor wenigen Wochen gab die Senatsverwaltung bekannt, dass hier oben eine Flaniermeile und eine Geschichtsgalerie entstehen soll. Kaupmann steckt mitten in der Planung. Ihre größte Frage: Wie bekommt man die Nazi-Geschichte des Gebäudes, das ehemalige Zwangsarbeiterlager auf dem Feld, die glorreiche Luftbrücke der Alliierten und die martialische Schönheit des Ausblicks zusammen? „Dieses Gute und Schlimme, was hier schlummert, das irgendwie zusammenzukneten, finde ich sehr interessant“, sagt die 54-Jährige.

Solarzellen? Zu schwer

Bevor hier oben irgendetwas geknetet werden kann, gibt es allerdings einige Probleme. Erst einmal muss das Dach abgedichtet werden, woran eine Wanderbaustelle seit zwei Jahren arbeitet. „Dann wissen wir inzwischen aber auch, dass die Baupläne Sagebiels so nicht ausgeführt wurden“, beschreibt Kaupmann das Hauptproblem. Das Dach ist, theoretisch, eine Hängekonstruktion, getragen von 72 Stahlstützen auf der Rückseite. Bei Messungen hat sich nun herausgestellt, dass es fast überall unterschiedlich stabil ist, an manchen Stellen kaum belastbar, geschweige denn von vielen Menschen auf einmal. Wirklich stabil ist es nur in der Mitte, entlang der Treppentürme. Somit schieden einige Überlegungen schnell aus. Solarzellen? Zu schwer. Dachbegrünung? Trägt die Statik niemals. „Und dann unterliegt das ja alles auch rappelhart dem Denkmalschutz“, sagt Kaupmann, die das alles nicht abzuschrecken scheint.

Ihr Nutzungsplan muss nun für alle Stellen des Daches unterschiedlich sein. Die Minimalvariante wäre ein vier Meter breiter Gang entlang der Treppentürme. Daneben ist in jedem Fall eine Geschichtsgalerie geplant, diskutiert werden auch ein Alliiertenmuseum und ein Aussichtspunkt auf dem ehemaligen Radarturm. Kaupmann wünscht sich bei alledem, dass am Ende ein Konzept steht, das „nicht wieder so belehrend ist“. Es solle auch einfach Freude machen, hier hochzugehen. Sie überlegt kurz, um dann hinzuzufügen, dass man die Brachialarchitektur auch anders sehen könne: „Wissen Sie, auf mich macht das Dach hier oben mit seiner Form eine ganz große einladende Geste, wie eine Umarmung, eine Schutzgeste fast.“ Als sie das sagt, hat der Senat noch nicht verkündet, dass im Flughafengebäude bald Flüchtlinge untergebracht werden sollen.

Auf dem Dach entsteht das Ideal einer neuen Stadt

Aussicht auf Wohnraum

Die Hochsommersonne, die dem Platzwart des Baumarkt-Fußballfelds den Schweiß aus den Poren treibt, ist für andere die größte Ressource, die es von den Dächern zu ernten gibt. Die Rede ist von Solaranlagen. Mehr als 5000 Photovoltaik-Anlagen mit bis zu 116 Megawatt Leistung gab es in Berlin bereits 2014. Auf 140 Dächern ihrer Gewerbehöfe hat die Gewerbesiedlungs-Gesellschaft GSG erst kürzlich eine weitere Anlage in Betrieb genommen und verkauft den Strom nun an ihre Mieter.

Eine Gruppe Studenten der Technischen Universität und der Universität der Künste hat mit ihrem „Projekt Rooftop“ eine ähnliche Idee – nur noch besser. Sie geht das Problem der ungebrochenen Nachfrage nach innerstädtischem Wohnraum gleich mit an. „Wir spielen sozusagen mit dem Wunsch des Menschen, oben und über anderen zu sein“, sagt Philippe Ullbrich, 28 Jahre alt, Architekturabsolvent der UdK. „Und fast schon ungewollt gibt er bei unserem Entwurf den anderen etwas ab.“

Rooftop ist ein Holzhaus, das auf vorhandene Altbauten aufgesetzt wird und dabei mehr als doppelt so viel Energie produziert, wie es verbraucht. Mit einem Dach aus Solarzellen und 70 Quadratmeter Wohnfläche können hier zwei Leute wohnen, große Dachterrasse inklusive. Eine Art Haus-Update also. Ullbrich beschreibt die Idee dahinter: Verdichtung statt Zersiedelung, also mehr Menschen in der Stadt unterbringen. Wo aber in Berlin noch bauen, ohne lieb gewonnene Freiflächen zuzupflastern? So kam die Gruppe auf die Dächer. „Unser Projekt schafft es, Wohnraum und erneuerbare Energie gleichzeitig zu verwirklichen und die Freiflächen trotzdem zu erhalten“, sagt Saskia Ehlers, Studentin an der TU, Fachrichtung Wirtschaftsingenieurwesen. Während gewöhnliche Penthouses lediglich den zahlungskräftigen neuen Bewohnern nutzen, soll hier Besitz Verantwortung bedeuten, so Philippe Ullbrich. Die überschüssige Energie werde in das Netz des Mutterhauses eingespeist. Außerdem dämmen Haus und Holzterrasse das Dach wesentlich stärker als ein altes Dach, was die Heizkosten weiter senkt.

Dieses System der "Roof Water Farm" produziert in Kreuzberg Fische und Gemüse – aus dem Abwasser der Hausbewohner.
Dieses System der "Roof Water Farm" produziert in Kreuzberg Fische und Gemüse – aus dem Abwasser der Hausbewohner.

© Thilo Rückeis

Es klingt nach Weltverbesserung, was er und Saskia Ehlers da in der Mensa der TU begeistert erzählen. Und genau so ist es auch gemeint. Mit der Idee bewarben sie sich 2012 beim Solar-Decathlon, einer Art Olympiade für Solar-Architektur. Sie bekamen den Zuschlag – und 100 000 Euro Förderung. Schnell wuchs die Gruppe auf knapp 50 Studenten an: Bauingenieure, Architekten, Prozess- und Gebäudetechniker, Designer und Wirtschaftsingenieure. Handwerksschüler von der Knobelsdorff-Schule halfen ihnen letztlich beim Aufbau. Das Haus wurde fertig – und die Gruppe sorgte beim Decathlon in Versailles für Aufsehen.

Der Dachaufsatz selbst sieht aus wie die futuristische Version einer finnischen Holzhütte. Nicht nur das Dach besteht aus Solarzellen, auch die Fenster sind damit bedeckt. Das Haus verarbeitet mithilfe einer Computersteuerung Wind-, Sonnen- und Regenmessungen und klappt die Fenster entsprechend hoch oder runter. So dämmt nachts eine zusätzliche Schicht die Fenster, bei Sonne hingegen vergrößern die Fenster die Solarfläche und spenden Schatten auf der Dachterrasse. Darüber hinaus verfügt das Haus über eine Pflanzenkläranlage und ein Badezimmer, bei dem die Tür so geöffnet werden kann, dass sein Benutzer plötzlich im Freien über der Stadt badet.

Der Aufbau dauert lediglich zehn Tage, sagt der Architekt. Vorher muss jedoch der vorhandene Dachstuhl abgetragen werden, das Rooftop-Haus wird an das vorhandene Treppenhaus angeschlossen. Ullbrich erklärt, warum das nötig ist: Ein Großteil der Dächer in Berlin sind im Zweiten Weltkrieg ausgebrannt. Beim Wiederaufbau wurden schnell Notdachstühle errichtet, niedriger und instabiler als die ehemaligen Dächer. Tausende davon sind inzwischen marode, von Schwamm befallen und können wegen der zu geringen Höhe auch nicht zu Wohnungen umgebaut werden. Ein Rooftop-Haus wäre also eine ökologische und zukunftsweisende Möglichkeit der – ohnehin notwendigen – Dachsanierung.

Zunächst wird das Rooftop-Haus aber erst einmal wieder am Boden aufgestellt, zwischen UdK und TU. Gegen den geplanten Standort auf dem Dach der UdK wehrte sich der Denkmalschutz.

Salat aus der Dusche

Auch Angela Million ist mit ihrem Forschungsprojekt derzeit noch am Boden – dabei hat sie die umfassendste Vision für die Zukunft der Berliner Dächer. Um zu erfahren, was die TU-Professorin für Stadtplanung und ihre Kollegen unter dem Namen „Roofwaterfarm“ ausgetüftelt haben, geht es in ein Wohngebiet in Kreuzberg unweit des Anhalter Bahnhofs. Der Häuserblock, gebaut während der Internationalen Bauausstellung 1987, wird unzärtlich Block sechs genannt. In seinem grünen Innenhof steht ein Gewächshaus, umgeben von Schilf, daneben ein unauffälliger Holzbau. Was wie ein überdimensionierter Schrebergarten wirkt, der irgendwann sich selbst überlassen wurde, ist ein komplexes Versuchslabor für ein System, das auf Dächern Fische und Gemüse produzieren soll – aus dem Abwasser der Bewohner des Hauses.

„Hinter dem allen steckt die Idee der Kreislaufstadt“, erzählt Grit Bürgow, 43 Jahre alt, wissenschaftliche Mitarbeiterin von Million, während sie durch das Schilf zum Gewächshaus führt. Kreislaufstadt, das ist das Lieblingswort von Bürgow und Million. Es ist das Ideal einer Stadt, in der Abwasser Rohstoff und kein Müll mehr ist.

Angela Million nennt ein Projekt wie ihres „Eisbrecherprojekt“, also eines, das hilft, den Menschen die „stille Ressource Dach“ ins Bewusstsein zu rufen. Denn der größte Vorteil von Dächern ist zugleich ihre Schwäche: Man sieht sie von unten nicht. Wenn jemand auf einem Dach eine gute Idee verwirklicht, finden sich nur selten Nachahmer. Aber die, so die Professorin, bräuchte es dringend, „bevor wir noch weiter großflächig ebenerdige Flächen in der Stadt versiegeln“.

In dem Gewächshaus wächst gerade Salat, wieder auf Aluminiumtischen wie denen in Professor Grimms Mutanten-Gewächshaus, diesmal jedoch völlig ohne Erde. Die Pflanzen stecken lediglich in Mineralwolle, um das nährstoffreiche Wasser zu halten. In zwei Becken daneben schwimmen Fische, afrikanische Welse im einen, Schlehen im anderen. Die produzieren die Nährstoffe für die Pflanzen. Vorher werden ihre Ausscheidungen jedoch zweifach gefiltert – kein Fischkot im Salat also. Solche sogenannten aquaponischen Systeme gelten derzeit als die platzsparendste Form der Landwirtschaft. Würde man auf dem Dach von nur einem der Häuser von Block sechs ein solches Gewächshaus installieren, könnte man damit 80 Prozent des Fisch- und Gemüsebedarfs der 70 Bewohner darunter befriedigen, sagt Bürgow.

Der Kreislauf geht noch weiter. Während Bürgow und Million in das Holzhaus nebenan gehen, erzählen sie bereits, dass die Fische im Abwasser der Häuser aus Block sechs schwimmen. Meinen die das ernst? Fische essen, die in der Melange aus Hautschuppen, Duschgel und Zahnpasta der Waschbeckenabflüsse schwimmen?

Natürlich nicht – das Wasser wird vorher gereinigt. In dem Holzhaus nebenan befindet sich eine biologische Kläranlage, die ganz ohne Chemie auskommt. „Wenn alle Häuser so etwas hätten“, erklärt Erwin Nolde, Ingenieur und Forschungspartner von Angela Million, „dann bräuchten wir keinen Kanal und irgendwann auch keine Trinkwasserleitungen mehr“. Der größte Vorteil von Block sechs ist, dass er getrennte Leitungen für Schwarzwasser, das ist das aus der Toilette, und das restliche Abwasser hat. Letzteres Grauwasser wird in verschiedenen Behältern von Bakterien beackert. Dabei kommt Wasser in Badewasserqualität heraus, sauberer als die meisten Badeseen, fügt Nolde stolz hinzu. Aber auch das Schwarzwasser wird hier zu „Goldwasser“ umgewandelt. Gerade testet die Gruppe, ob sich damit Salat düngen lässt. „Da sehen Sie mal“, sagt Million triumphierend, „da haben Dächer plötzlich sehr viel mit den Abwasserkanälen unter uns zu tun“.

Nur keine Höhenangst

Genau das ist die Chance der schlummernden Stadt über unseren Köpfen. Während am Boden schon hundertjährige Architektur, festgefahrene Strukturen und klare Nutzungsregeln herrschen, bietet die Brache zwischen Häusern und Himmel genug Raum für neue Ideen, neue Verhandlungen, Neuanfänge. Wenn wir nicht wollen, dass diese Zukunft über unsere Köpfe hinweg entschieden wird, sollten wir uns überlegen, was wir über unseren Köpfen haben wollen.

Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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