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42 500 NS-Lager gab es im Deutschen Reich und den von ihm besetzten Gebieten. Das Konzentrationslager Auschwitz ist eines der bekanntesten.

© dpa

NS-Lager: Es geschah überall

3000 Lager gab es während der NS-Zeit in Berlin. Dieses Detail aus einer US-Studie publizierte die "New York Times" vor kurzem. Doch welche Welt verbirgt sich dahinter? Eine Spurensuche

Samstag, 3. Februar 1945, blauer Himmel über Berlin, Bombenwetter: Kurz vor elf Uhr morgens startet die amerikanische Luftwaffe einen massiven Angriff auf Berlin, Operation Donnerschlag. Als die Sirenen um 12.18 Uhr Entwarnung geben, bergen Helfer bei Aufräumarbeiten bald darauf die Leiche eines Mannes aus dem Kreuzberger Haus Belle-Alliance-Straße 79, heute Mehringdamm 61. Viel ist es nicht, was sich über den Toten erfahren lässt, nicht einmal ein Name. Eigentlich weiß man nur, dass er Pole war. Und dass er nicht freiwillig in Berlin lebte. Er war Zwangsarbeiter, einer von gut einer halben Million Menschen, die während des Krieges in Berlin ausgebeutet wurden.

42 500 NS-Lager mit 15 bis 20 Millionen Inhaftierten gab es im Deutschen Reich und den von ihm besetzten Ländern – so lautet das Ergebnis, das Wissenschaftler am Washingtoner Holocaust Memorial Museum in der vergangenen Woche veröffentlichten. Dazu zählen die Forscher Ghettos, Konzentrationslager, Folterkeller und Wehrmachtsbordelle ebenso wie Vernichtungslager, Lager für Kriegsgefangene, Sinti und Roma und auch Zwangsarbeiterlager. „Es war angesichts dieser Zahlen schlichtweg unmöglich, nichts davon zu bemerken, dass hier massiv Menschenrechte gebrochen wurden“, sagt Geoffrey Megargee, der die Washingtoner Studien betreut. Bezogen auf Berlin bedeutet das den Machern der Studie zufolge, dass an mindestens 3000 Orten in der Stadt Menschen festgehalten wurden, die große Mehrheit von ihnen in Lagern für Zwangsarbeiter.

Aber 3000 ist nur eine Zahl, und noch keine Geschichte. Und deshalb startet die Spurensuche an einem Ort, über den Historiker mehr sagen können, seitdem vor einigen Jahren eine Akte des Kreuzberger Gesundheitsamtes aus der Zeit von November 1940 bis November 1944 auftauchte, auf der die Zwangsarbeiterlager und dazugehörigen Betriebe vermerkt wurden: am Mehringdamm Ecke Blücherstraße.

Von dort in Richtung Tempelhof, vorbei am Finanzamt Kreuzberg, vorbei am Curry 36, Bars und Cafes bis zu den Unterstützern von Amnesty International, die hier an einem Mittwochvormittag im Jahr 2013 an der Ecke Bergmannstraße neue Mitglieder werben wollen. Es sind knapp 800 Meter, ein Spaziergang von vielleicht fünf Minuten, in denen man, wie Historiker ermittelt haben, mindestens 12 Orte passiert, an denen Zwangsarbeiter beschäftigt oder interniert waren.

Zum Beispiel die mehr als 100 Menschen, die für die Frankfurter Adlerwerke AG hinter dem heutigen Finanzamt Motoren bauten. Oder die Frauen aus der Ukraine, die zwangsweise bei einem Metzger in dem Haus beschäftigt waren, in dem heute ein Bäcker Brötchen verkauft. Oder die in einer Apotheke direkt an der Straße. Oder die im heute links-autonomen Mehringhof, damals Schriftgießerei Berthold AG. Oder die zehn Franzosen in den Sarottihöfen, die gezwungen wurden, Autoteile herzustellen. Oder die im Haus Nummer 61, wo das Schwule Museum gerade seinen Umzug vorbereitet, Möbelpacker über den Hof laufen. Und wo vor 68 Jahren der Pole ohne Namen starb und 19 Juden für die Firma Schambach und Co. Rüstungsgüter herstellen mussten, bis sie irgendwann deportiert wurden.

Das alles lässt sich sagen über Zwangsarbeit am Mehringdamm, aber es sagt nichts über die anderen knapp 800 Lager und Betriebe im Bezirk, die außerdem noch auf der Liste des Kreuzberger Gesundheitsamtes stehen. Aber es sagt vielleicht etwas über die Dimensionen, die Zwangsarbeit in Berlin ausmachte und über die der französische Autor François Cavanna, von 1943 bis 1945 gegen seinen Willen in der Stadt festgehalten, schrieb: „Zu jener Zeit war Berlin mit Holzbaracken nur so überzogen. In jeder noch so kleinen Lücke der Riesenstadt hatten sich Fluchten brauner, teerpappegedeckter Fichtenholzquader eingenistet.“

Das einzige erhaltene Zwangsarbeiterlager steht in Schöneweide.

Wer mehr wissen will über die Struktur des Lagersystems in Berlin, nimmt die S-Bahn nach Schöneweide, 13 Steinbaracken in einem Wohnviertel, eines der wenigen bis heute erhaltenen Lager. Ab Herbst 1943 für mehr als 2000 Menschen errichtet, darunter italienische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter ebenso wie Inhaftierte eines KZ-Außenlagers. Seit sieben Jahren ist hier der Sitz des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit, aber nur in sechs der Baracken. In den anderen betreibt die evangelische Kirche die „KiTa Sonnenstrahl“, eine Kegelbahn hat sich am hinteren Ende des Lagers niedergelassen und wer an einem Donnerstagnachmittag zu unaufmerksam die Tür zu einer weiteren Baracke öffnet, stört die Damenrunde in einer Frauensauna, geschlossene Gesellschaft. „Kommen Sie morgen wieder, dann haben wir hier gemischten Tag“, empfiehlt die Dame am Tresen, „und bringen Sie alle Ihre Freunde mit.“

Über die Mitnutzer des Geländes wundert sich im Dokumentationszentrum niemand. Ebenso wenig wie über die aus Washington gemeldeten Zahlen. Woher auch, schließlich beziehen sich die amerikanischen Forscher auf die Kenntnisse aus Berlin.

"Die Unterschiede im Alltag der einzelnen Opfergruppen waren groß", sagt Christine Glauning, die Leiterin der Forschungsstelle NS-Zwangsarbeit in Schöneweide.
"Die Unterschiede im Alltag der einzelnen Opfergruppen waren groß", sagt Christine Glauning, die Leiterin der Forschungsstelle NS-Zwangsarbeit in Schöneweide.

© Thilo Rückeis

Christine Glauning, Leiterin der Forschungsstelle, differenziert: Zwar lebten viele Zwangsarbeiter unter schwierigsten Bedingungen, bedroht von Luftangriffen, Hunger und Terror. „Aber wenn man den Alltag eines jüdischen KZ-Häftlings mit dem eines zivilen Zwangsarbeiters aus Frankreich vergleicht, sieht man, dass hier gravierende Unterschiede bestanden.“ Der Ideologie folgend: Osteuropäer unten, Westeuropäer oben, Italiener nach dem Zerfall der Hitler-Mussolini-Koalition als Verräter betrachtet, folglich auch unten, aber noch vor Sinti und Roma sowie Juden. Ein hierarchisches System.

So die Lage im Krieg, aber der Terror, den die Zahl 3000 so nüchtern dokumentiert, begann früher, uneingeschränkt nach der Machtübergabe 1933. Mit Sturmlokalen und Folterkellern der SA, mitten in der Stadt, oft in den Arbeitervierteln, wo Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter ihre Machtbasis hatten: zum Beispiel in der Petersburger Straße in Friedrichshain, wo heute der bei Neonazis beliebte „Thor Steinar“-Laden Kleidung verkauft. Damals am exakt selben Ort: das Restaurant „Keglerheim“, in dem politische Gegner totgeschlagen oder durch Folter und Misshandlungen auf Kurs gebracht wurden.

Anders sah es aus mit denen, für die im herrschenden Weltbild kein Platz war, und wenn überhaupt, dann nur am Rand der Gesellschaft. Auf Berlin bezogen: am Rand der Stadt. Dort lag der vorletzte Ort, der etwa Sinti und Roma noch zugestanden wurde. Der letzte war Auschwitz-Birkenau.

Mit der S-Bahn nach Marzahn: Hochhausblöcke auf der einen Seite, Gewerbe und Industrie auf der anderen. In der Mitte die Trasse, bis zur Haltestelle Raoul-Wallenberg-Straße. Dort früher: ein „Rastplatz“ in der Sprache der Nazis, geschaffen aus „hygienischen Gründen“, die „mit der von den Zigeunern geübten Wohnweise zusammenhängen“. Im August 1936 finden die Olympischen Spiele in Berlin statt, bis dahin soll die Stadt „zigeunerfrei“ sein. Am 16. Juli 1936 werden alle Sinti und Roma, derer man habhaft werden kann, festgenommen und an den Stadtrand geschafft, etwa 1500 sollen es am Ende gewesen sein.

Wo sie festgehalten wurden, stehen heute auch die Reste des „Dienstleistungszentrums Bildung“ der Deutschen Bahn. Ein in die Jahre gekommener Gebäudekomplex, im Pförtnerhaus hinter zerschlagenen Fenstern der Hausstand eines Obdachlosen: Schlafsack, Isomatte und ein angebrochenes Brot. Ein Mann führt seinen Hund Gassi, keine Leine, das Tier schnuppert und kackt auf den Rasen, der zehn Ausstellungstafeln umrahmt, weiße Schrift auf schwarzem Grund.

„Ich hätte es nie gewagt, meinen Vater nach seinen Erfahrungen zu befragen.“, Petra Rosenberg, Tochter eines Opfers.
„Ich hätte es nie gewagt, meinen Vater nach seinen Erfahrungen zu befragen.“, Petra Rosenberg, Tochter eines Opfers.

© Tiemo Rink

Als Petra Rosenberg, Chefin des Berliner Landesverbands der Sinti und Roma, einige Minuten später kommt, sind Mann und Hund längst verschwunden, einmal durch den Tunnel in Richtung der Hochhäuser. Rosenberg, Anfang 60, eine kleine Frau im dunklen Mantel, Tochter eines Überlebenden, Schwester der Schlagersängerin Marianne Rosenberg. Der Vater der beiden, Otto Rosenberg, damals hier, später in Auschwitz, Bergen-Belsen und Buchenwald interniert, sprach lange nicht mit den Töchtern über seine Erfahrungen. „Und ich hätte es nie gewagt, ihn danach zu fragen“, sagt Rosenberg, „denn seine Geschichte war eine Geschichte von Demütigungen, da hat man als Tochter Skrupel.“

So erfährt sie zum ersten Mal von den Gräben, die das Lager durchzogen und in die regelmäßig – aus Schikane – Jauche gepumpt wurde, von den Stiefeln des berüchtigten KZ-Arztes Josef Mengeles, die ihr Vater putzen musste, als der sechs Jahre vor seinem Tod seine Erinnerungen diktiert, „Das Brennglas“. Liest nach, wie die in Marzahn Eingesperrten Zwangsarbeit leisten mussten. Und wie vorher die Mitarbeiter der „Rassenhygienischen und kriminalbiologischen Forschungsstelle“ nach Marzahn kamen, Köpfe vermessen, Augenfarben inventarisieren.

Doch wie präsent kann die Geschichte dieses Ortes in den Köpfen derjenigen sein, die hier ihre Hunde hinkacken lassen? Und ist das ehemalige Lager der richtige Platz, um einen Kinderzirkus hinzustellen, mit Wohnwagen und bunt bemalten Laternen, die an den Schautafeln entlang den Weg zum Eingang leuchten? Für Petra Rosenberg eine sinnlose Frage. Wichtig sind für sie die kleinen Schritte. Und deshalb ist nicht die Hundekacke entscheidend, sondern die Tatsache, dass hier seit einem guten Jahr überhaupt an damalige Verbrechen erinnert wird - 76 Jahre später.

Als Jüdin im Berliner Untergrund.

Weil es die einen gibt, die sich erinnern wollen. Und die anderen, die ihre Köter ausführen. Aber auch das ist nicht alles, was sich sagen lässt über die Spuren, die die Lager in der Stadt hinterlassen haben. Weil es noch die dritte Gruppe gibt: Diejenigen, die sich erinnern wollen, aber nicht immer können. Und so steht Margot Friedländer, 92 Jahre, graue Haare, an einem Dienstagmittag vor dem Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße in Wedding und weiß nichts zu sagen über den Ort, an dem sie im Frühjahr 1944 für einige Monate eingesperrt war, bevor man sie nach Theresienstadt brachte. „Da ist nichts, I'm sorry“, sagt sie, die Jüdin, die nach ihrer Befreiung nach New York auswanderte und vor einigen Jahren nach Deutschland zurückkehrte. Nur dass sie hier war, weiß sie mit Gewissheit, in der Iranischen Straße, wo jetzt der Lärm aus der Tegeler Einflugschneise hinüberweht, und man damals – mitten in der Stadt – ein Zwischenlager für Berliner Juden auf dem Weg in die KZs unterhielt. Der Rest eine Blindstelle „wie ein Schleier, der sich über die Zeit gelegt hat“, wohl auch ein Schutzmechanismus, die Psychoanalyse einmal angedacht, aber dann doch verworfen, „denn an manches will man sich nicht erinnern“.

"Wer behauptet, er habe von nichts gewusst, tut das aus Selbstschutz.", sagt Margot Friedländer, die sich als Jüdin während des Weltkriegs 15 Monate im Berliner Untergrund verstecken musste.
"Wer behauptet, er habe von nichts gewusst, tut das aus Selbstschutz.", sagt Margot Friedländer, die sich als Jüdin während des Weltkriegs 15 Monate im Berliner Untergrund verstecken musste.

© Mike Wolff

Was Margot Friedländer erinnert, hat sie aufgeschrieben: zum Beispiel die 15 Monate im Berliner Untergrund, abgetaucht an dem Tag, als sie nach Hause kam in die Skalitzer Straße in Kreuzberg und ein Gestapo-Mann vor der Wohnungstür stand. Da war ihr Bruder Ralph schon festgenommen, die Mutter stellte sich am selben Tag freiwillig, sofern man das sagen kann. Beide starben in Auschwitz. Und Margot Friedländer war allein, färbte sich die schwarzen Haare rot und versteckte sich. Bis zu dem Tag, als sie nach einem Bombenangriff auf dem Weg vom Bunker zu ihrer Wohnung festgenommen und in die Iranische Straße gebracht wird, wo sie nie mehr war seit 1944 und jetzt doch, und die Erinnerung fehlt. Das große Ganze hingegen, das System der Entrechtung, ist für sie bis heute augenscheinlich: „Zu behaupten, man habe von nichts gewusst, ist eine Schutzbehauptung.“

„Versuche, dein Leben zu machen“, das war die letzte Botschaft, die ihre Mutter ihr auf einem Zettel hinterlassen hat und so heißt auch das Buch, aus dem Friedländer seit Jahren an Schulen vorliest. Eine der letzten Zeuginnen einer Zeit, deren Zeugen nun, da die Sichtbarkeit des geschehenen Unrechts wieder Thema ist, rar geworden sind.

Der namenlose Pole konnte nie etwas bezeugen. Zurück am Mehringdamm Ecke Bergmannstraße. Ein paar Meter hoch in die Straße „Am Tempelhofer Berg“, auf das Gelände der alten Schultheissbrauerei, wo heute Handwerker, Architekten, Weinhändler arbeiten. Gelber Backstein, über 100 Jahre alt, massiv gebaut, ebenso wie Nikola Kodzoman, gebürtiger Kroate. Ein Hausmeister mit Hausmeisterhändedruck, silbergrauer Sicherheitsjacke und einem beachtlichen Schlüsselbund. Der Fahrstuhl fährt einige Etagen nach unten und endet im alten Luftschutzbunker unter dem Gebäude. Eine Katakombenlandschaft mit hohen Gewölben, dunklen Gängen und meterdicken Wänden. Kodzoman zeigt zugemauerte Verbindungstunnel, die wie ein Netz unterirdisch durch Kreuzberg führten. Versorgungsschächte, ehemals von hier bis zum Tempelhofer Flughafen in die eine Richtung, zum Reichstag in die andere.

„Zu den Räumen für Mutter und Kind“ steht über einem Durchgang, die Türzargen verrostet, kalter Wind aus den gemauerten Luftschächten. Auf Brusthöhe zeigen Pfeile den Weg zum nächsten Notausgang, fluoreszierend in der Dunkelheit, das Leitsystem funktioniert immer noch, 68 Jahre danach. Wenn man hier drin war, war man sicher.

Wenn man drin war. Das Haus, in dem an einem Samstagmorgen im Februar 1945 ein polnischer Zwangsarbeiter starb, liegt keine 250 Meter von hier entfernt, aber das spielt keine Rolle. In den Bunker gelassen hätten sie ihn ohnehin nicht. Für Osteuropäer Zutritt verboten.

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