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Warten, bis der Arzt kommt. So mancher geht lieber gleich in die Notaufnahme.

© Hannibal Hanschke/dpa

Notfallversorgung in Berlin: Rettungsstellen können sich vor Patienten kaum retten

Ins Krankenhaus oder die Praxis? Gerade in Berlin sind nicht nur die Kliniken überfüllt, auch niedergelassene Ärzte haben immer mehr zu tun. Rot-Rot-Grün will nun umsteuern.

In den Kliniken überfüllte Rettungsstellen und in den Praxen kaum zeitnahe Termine – seit Jahren wird nicht nur in Berlin über die Notfallversorgung gestritten. Die Gewerkschaft der Klinikärzte, der Marburger Bund (MB), fordert nun eine bundesweite Reform. Und in der rot-rot-grünen Senatskoalition wird gar über eine brancheninterne Revolution nachgedacht. Wolfgang Albers (Linke), Chef des Gesundheitsausschusses im Abgeordnetenhaus, sagt: „Man muss sich bei der Notfallversorgung ehrlich machen und das Monopol der Kassenärztlichen Vereinigung aufkündigen. Deren Versorgungsanspruch ist doch eine Schimäre.“

Albers bezieht sich auf die immer zahlreicheren Patienten, die auch mit Alltagsbeschwerden in Rettungsstellen statt in Praxen gehen. In einer alternden Gesellschaft und wachsenden Stadt wird der Trend anhalten. Gesundheitssenatorin Dilek Kolat (SPD) lässt gerade ermitteln, wie viele Fälle in den 39 Berliner Rettungsstellen 2016 versorgt wurden – sicher mehr als 1,2 Millionen.

"Umerziehung der Patienten ist aussichtslos"

Viele Berliner wissen nicht, dass es auch Notdienste der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) gibt, also niedergelassene Mediziner, die in rosa Wagen durch Berlin fahren. Insbesondere Flüchtlinge und Neuankömmlinge aus englischsprachigen Ländern gehen in ihrer Heimat routinemäßig in Kliniken, flächendeckende Praxen fehlen dort oft. Allerdings passen die üblichen Praxiszeiten auch nicht zu den Lebensgewohnheiten vieler Berliner. Jüngere haben ohnehin oft keinen festen Hausarzt. Und in den Krankenhäusern arbeiten zudem Ärzte aller Disziplinen, was viele Patienten bevorzugen. „Ein Umerziehen der Patienten zu den bestehenden Strukturen ist aussichtslos“, sagte Kolat. „Vielmehr müssen sich die Strukturen den geänderten Realitäten anpassen.“

In der Politik könnten einige die Anregung des Linken-Politikers Albers aufgreifen – und im Bund für neue Regeln streiten. Bislang gilt vereinfacht: Die Krankenkassen bezahlen die Kliniken für stationäre Fälle, die Praxen für ambulante Fälle. Unstrittig ist, dass die Kliniken zu wenig Geld bekommen, wenn der Patient nur ambulant behandelt wurde. Die niedergelassenen Ärzte, die der KV angehören, wiederum werfen den Kliniken vor, Patienten und Kassengeld abzugreifen, die einst den Praxen zustanden.

35 Prozent mehr Patienten in Berliner Praxen als 2006

Allerdings haben auch die Praxisärzte mehr denn je zu tun: So habe man 31 Millionen Behandlungsfälle 2016 abgerechnet, teilte der KV-Vorstand mit, 2006 waren es noch 23 Millionen – eine Steigerung um 35 Prozent bei fast gleicher Zahl von Praxen. „Die Patienten gehen nicht nur häufiger in die Notaufnahmen, sie gehen auch häufiger in die Arztpraxen. Es gibt also insgesamt eine höhere Nutzung der medizinischen Versorgung.“

Das Nebeneinander von Rettungsstellen, den Niedergelassenen und der Notfallrettung der Feuerwehr wird wohl überarbeitet werden – schon weil Ärzte, Kassen, Krankenhäuser gleichermaßen Bedarf sehen. „Der Anspruch eines jeden Patienten auf qualitativ hochwertige Behandlung zu jeder Zeit und an jedem Ort muss gesichert sein“, sagte MB-Bundeschef Rudolf Henke. „Eine personelle und digitale Verknüpfung von Notdienstpraxen und Notaufnahme in den Krankenhäusern ist sinnvoll.“ So ließen sich auch Doppelbehandlungen vermeiden.

Der MB beklagte die unzureichende Information für der Öffentlichkeit: Von der seit 2012 bundesweit eingeführten Rufnummer 116117 für den Notdienst der niedergelassenen Ärzte wüssten viele gar nicht. Am besten man legte die 116117-Nummer mit dem bekannten Notruf 112 zusammen, um dann zu entscheiden, ob der Anrufer per Rettungswagen in eine Klinik muss oder zum Hausarzt um die Ecke.

Ob die neuen Portalpraxen funktionieren?

Mindestens aus Berlin kommt da Widerspruch. Oft heiße es, der Bereitschaftsdienst sei bei der Bevölkerung nicht bekannt, teilte der KV-Vorstand mit: „Das können wir angesichts von etwa 150.000 Einsätzen im Jahr nicht nachvollziehen. Dazu kommen 40.000 telefonische Beratungen im Jahr durch einen niedergelassenen Arzt in der Leitstelle der KV Berlin.“

Nicht unerwähnt ließ man beim MB am Dienstag allerdings, dass einzelne Kooperationen zwischen Kliniken und Praxen schon funktionierten – etwa die an das Unfallkrankenhaus in Marzahn angegliederte Portalpraxis. Seit diesem Jahr gibt es zwölf solcher Praxen, die sich an den Rettungsstellen um ambulante Patienten, also Nicht-Notfälle kümmern. Ob diese Portalpraxen auf Dauer funktionierten, müsse beobachtet werden, sagte Senatorin Kolat. Für eine Beurteilung sei es noch zu früh.

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