zum Hauptinhalt
Brigitta Polinna verarztet ihre leblosen Patienten seit 37 Jahren.

© Sven Darmer

Nostalgie in der Richardstraße: Zur Sprechstunde in der Neuköllner Puppenklinik

Brigitta Polinna ist Puppendoktorin in Neukölln. In der Nachbarschaft ist sie angesehen. Zu ihr kommen viele Erwachsene, Senioren und Sammler.

Brigitta Polinna hält den Kopf ihres kleinen Patienten in der gewölbten Hand. „Ist der schön“, sagt sie immer wieder bewundernd. Ein Hans ist es. „Ihrer ist rothaarig, das ist was ganz Besonderes“, sagt sie zu der Frau, die mit besorgtem Blick beobachtet, wie der Patient entkleidet wird. „Die zweite Besonderheit sind die braunen Augen“, spricht Polinna und trennt mit vier gezielten Scherenschnitten Arme und Beine ab. Hans wird vorerst in einer Schachtel verwahrt.

Nachdem die Frau gegangen ist, steckt sich Brigitta Polinna erst einmal eine Zigarette an. Hans ist ein Klassiker aus der Schildkröt-Puppenfamilie, im originalen Trachtenanzug. Erst neulich war er auf einem Dachboden wieder aufgetaucht – nach Jahrzehnten in Vergessenheit. Seine letzte Hoffnung für die ausgeleierten Glieder ist Brigitta Polinna, die Puppendoktorin.

Die gebürtige Rixdorferin, die ihr Alter für sich behält, verarztet seit 1981 alle Arten von Leiden: eingedrückte Augen, zerrissene Kleidung, zerbrochene Glieder. Jeden Dienstag von 15 bis 18 Uhr ist Sprechstunde in Polinnas Laden in der Neuköllner Richardstraße.

„Mich müssen Se hier raustragen“

Den Laden, den Polinna seit 37 Jahren für ihre Klinik nutzt, kannte sie schon als Kind. „Da war das noch ein Seifenladen“, sagt sie. Dass sich die Puppenklinik bis heute hier halten kann, liegt daran, dass Polinna nie darauf angewiesen war, damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es war immer ein Nebenverdienst.

Außerdem hatte sie die Hausbesitzerin auf ihrer Seite, genauso wie deren Schwiegertochter, die jetzt an Polinna vermietet. Die Puppendoktorin kennt ihr Ansehen in der Nachbarschaft. „Was denken Sie, wie stolz die sind, dass ich hier bin“, sagt sie. Und sie plant auch nicht zu gehen. „Mich müssen Se hier raustragen.“

Trotz des hohen Nostalgie-Faktors im Laden lässt Polinnas Berliner Mundwerk keine Sentimentalitäten zu, auch wenn eine Rettungs-OP mal scheitert. „Die Puppen aus Celluloid kannste irgendwann zerdrücken wie Eierschalen“, sagt sie und demonstriert das an einem ohnehin beschädigten Bein. Doch eines stellt sie klar: „Ich schneide nie eine Puppe auseinander, wenn Kinder hier sind.“ Die Puppe „aufziehen“ heißt es im Fachsprech, wenn die inwärts verlaufenden Gummis neu gelegt werden müssen.

1981 übernommen

Mag sein, dass der morbide Charme der Puppenklinik nicht für alle Kleinen so reizvoll ist, trotz der Vitrinen mit Puppenzubehör, Schühchen, Hüten und Kleidern, dem tollen Puppenhaus im Schaufenster und der alten Puppenwagen hoch oben im Regal. Immerhin stieren dem Hereinkommenden auch etliche Augen aus aufgereihten Puppenköpfen entgegen. Auf dem Tresen steht ein großes Glas mit kaputten Gliedern und Schädeln. Von den Blicken der Kundschaft verborgen lagern im Hinterzimmer Regale voller Augen, Halspfannen, Haarteile und sogar Zungen.

Die Grundausstattung übernahm Polinna 1981, damals noch gemeinsam mit einer Freundin, von einem Kreuzberger Puppendoktor. Dort hatte sie gerade eine eigene Puppe in Behandlung, als sie im Urlaub die Nachricht erhielt, der Doktor sei verstorben. „Die Witwe hat uns dann gesagt, dass alles auf die Müllhalde kommen soll.“

Polinna verbrachte eine schlaflose Nacht und beschloss: Das konnte sie nicht zulassen. Sie übernahm die Werkzeuge und Materialien, bekam von der Witwe eine Schnelleinführung in die Kunst der Puppen-Chirurgie und organisierte die neuen Räume. Da sie selbst Mutter ist, musste die Klinik in der Neuköllner Nachbarschaft liegen.

Die Krankentransporte hierher erledigen meistens die Erwachsenen. Noch häufiger sind die Puppenbesitzer selbst betagtere Personen: Sammler, Menschen, die ihre Gefährten von damals wieder entdecken, Ehepartner, die für Hochzeits- und Geburtstage versehrte Puppen wieder auferstehen lassen.

„Ich wollte nach meiner Erika fragen“, sagt die Frau, die jetzt im Laden steht. Polinna überprüft die Kartons im Regal und zieht eine Schachtel heraus. Erika liegt in Einzelteile zerlegt, der Kopf hat ein Loch. „Ich war auch auf dem Trödelmarkt, doch ich habe keinen Ersatz gefunden“, sagt Polinna. Sie könne höchstens den Kopf eines anderen Modells anbieten.

Doch die Frau schüttelt den Kopf. „Meine Mutter ist zwar 92, aber das würde die merken.“ Jetzt muss sie der Mutter Erikas Unfall mit der Urenkelin wohl beichten.

Brigitta Polinna hat selbst eine große Puppensammlung zu Hause. Schon als Kind hat sie sich hingebungsvoll mit ihren Puppen beschäftigt. „Ich konnte gut spielen“, sagt sie. „Schule, Arzt oder Beerdigung.“ Zur Bestattung hätten dann alle schwarze Kleidung bekommen und eine kam in den Sarg, ein alter Seifenkarton.

Polinna drückt die Zigarette in den Aschenbecher und geht zum Regal. Dort greift sie nach einer kleinen Schachtel. „Schaunse mal“, sagt sie und zieht einen handtellergroßen Schulranzen hervor. Daneben stecken eine Mini-Aktentasche und eine kleine Einkaufstüte. An solchen Dingen kann sie auf dem Trödelmarkt nicht vorbeigehen.

„Ich spiele eigentlich mein ganzes Leben lang“, sagt sie. Und das ist das wahre Geheimnis der Puppendoktorin.

Puppenklinik, Richardstr. 99, Neukölln, geöffnet Dienstag 15 bis 18 Uhr. Telefon: 681 60 83. www.puppenklinik-berlin.de

Zur Startseite