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Berlin: Norbert Luedtke (Geb. 1949)

Ein Musikerleben, das hätte er sich auch vorstellen können

Vor 40 Jahren riefen die Leute, die es sich gerade in ihrem bundesrepublikanischen Wohlstand eingerichtet hatten: „So einem geben wir unsere Kinder nicht. Die Haare, der sieht ja aus wie Jesus.“ Später sagten die Söhne und Töchter dieser Leute: „Unsere Kinder müssen mehr gefördert werden. In diesen Kinderladen kommen sie auf keinen Fall. Bei dem spielen sie doch bloß.“

Der ist Norbert Luedtke und die Kinder, die zu ihm dürfen, lieben ihn. Bis zehn am Vormittag sollten alle da sein. Dann dürfen sie selbst entscheiden, was sie machen möchten. Sich zum Beispiel an die Werkbank setzen und mit Holz hantieren. Oder im Sandkasten im Buddelzimmer Burgen bauen. Oder sich mit Norbert in die Küche stellen und das Mittagessen kochen. Oder zuhören, wenn Norbert beginnt, mit seiner schönen Stimme aus einem Buch vorzulesen. Oder eben einfach mal nichts machen. „Kinder müssen sich auch langweilen“, sagt er. Aber raus geht es jeden Tag, zu einem Spaziergang im Schöneberger Viertel oder auf den Spielplatz um die Ecke (die Kinder kennen keinen anderen Erwachsenen, der sie mit solcher Ausdauer beim Schaukeln anschubst). Selbständigkeit sollen sie lernen. Manchmal schickt er zwei von ihnen allein um den Block, Hand in Hand laufen sie dann, vielleicht mit Herzklopfen, Norbert steht in sicherer Entfernung und achtet darauf, dass sie nicht vom Weg abkommen. Die Eltern putzen, kochen, kaufen ein, fahren zusammen mit den Kindern ins Wendland oder nach Schweden und treffen sich jeden Mittwoch in einer irischen Kneipe.

Ganz am Anfang, 1971, als der „Nusskasper“ gegründet wird, hängen sie noch an diesem Wort, „antiautoritär“, mit allem Drum und Dran, Füße auf den Tisch und Spaghetti an die Wand. Aber das Getöse und Getrampel zerrt an den Nerven. Ein paar Regeln also doch: Die Füße bleiben unterm Tisch, mit Essen spielt man nicht, auf dem Klavier wird gespielt, nicht herumgehackt.

Dissonante Töne erschöpfen Norberts feines Gehör. Lieber klappt er den Klavierdeckel herunter und holt seine Gitarre hervor. Ein Musikerleben, das hätte er sich auch vorstellen können. Mit 14, in Lünen, spielt er in seiner ersten Band. Captain Beefheart, Bob Dylan und Bob Marley heißen seine Helden. Am Abend setzt er sich vors Radio und raucht, der Blues zieht ihn in den kleinen Kasten und weit darüber hinaus ins weite ferne Amerika. Er geht in die Zillestraße, zu „Rock steady records“, läuft mit Platten unterm Arm wieder nach Hause. Er schreibt eigene Stücke. Er nimmt die Lieder auf. Er gründet ein Trio, Gitarre, Akkordeon, Gesang.

Und er spielt Kaspertheater. Die Idee kommt von Jutta Matthess, seiner Frau, die die Köpfe der Puppen schnitzt und ihre Kleider näht. Zu Anfang sträubt sich Norbert: „Ist das nicht lächerlich? Dieser immer gute, einfältige Kasper mit seiner vernünftigen Gretel?“ Aber so soll es gar nicht sein. Im „Kappedeschle Kaspertheater“ ist die Welt in Unordnung. Der Kasper verprügelt Gretel und schmeißt sein Kind aus dem Fenster, flucht und ruft dem Publikum derbe Worte zu. Norbert ist angetan von diesem Flegel, der kein braver Erzieher ist, übernimmt die Rollen der Unangepassten und dichtet die Lieder für die Stücke: „Alle meine Entchen, schwimmen auf dem Meer, kommt ein großer Haifisch, sieht man sie nicht mehr.“ Norbert und Jutta treten an vielen Orten in Berlin auf, die Kinder klatschen vor Vergnügen in die Hände, die Eltern haben nicht selten eine andere Vorstellung von Pädagogik.

Vor zwei Jahren wird Norberts Stimme brüchig. Für die Vorstellungen im „Lavandevil“ in Charlottenburg, wo sie von Oktober bis kurz vor Ostern spielen, braucht er einen Verstärker. Zunächst scheint es, als sei der Kehlkopfkrebs verdrängt. Doch er kommt wieder. Norbert kann nur noch flüstern. Dann sagt er nichts mehr.

Die ganz kleinen Kinder aus dem „Nusskasper“ freuen sich, auf Norberts Beerdigung mitkommen zu dürfen. Denn sie denken, gleich werden sie ihn sehen, er ist eben schon mal vorgegangen und wartet jetzt auf sie. Tatjana Wulfert

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