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Berlin: Nina Bärenstrauch (Geb. 1977)

Man schreibt auf Listen, was zu tun ist, tut es und setzt Haken hinter alle Punkte

Von David Ensikat

Nina war Ärztin, ihr Gebiet: die Neurologie, weil die ihr am anspruchsvollsten erschien. Nina spielte Klavier und Geige. Nina gewann bei Judowettkämpfen Medaillen. Nina gründete einen Verlag, um ihre Gedichte und ihre Tagebuchaufzeichnungen herauszubringen. Nina hatte wunderbare Eltern, zwei Schwestern und einen Bruder, die sie liebte und die sie liebten.

Sie hatte alles, und sie konnte alles, scheinbar.

Im Alter von elf Monaten kam sie nach Deutschland. Die Adoptiveltern hatten sie aus einem Kinderheim in Korea geholt. Eun Jae hatte sie geheißen, von nun an hieß sie Nina. Die neuen Eltern in Bremen hatten schon einen leiblichen Sohn. Warum noch ein eigenes Kind in die Welt setzen, so dachten sie, es gibt so viele Kinder auf der Welt, die keine Eltern haben. Nach Nina adoptierten sie noch Mee Joo aus Korea und Anastasija aus Russland.

Nina sah anders aus als die Kinder um sie herum, aber außer diesem Aussehen war da nichts, das an ihre fremden Wurzeln erinnerte. Sie sprach Deutsch wie alle anderen, sie brachte sich das Lesen selber bei, sie erhielt nur die besten Noten. Wenn es mal eine Drei war und Nina an ihren unendlichen Fähigkeiten zweifelte, dachte die Mutter: Gut, dass das Kind auch so etwas mal erfährt. Nina beneidete den Bruder, der Klavier lernte; sie sah ihm dabei zu und spielte nach, was sie gesehen hatte. Blockflöte spielte sie da längst im Schulorchester, Geigenunterricht bekam sie, seit sie sechs war. Stundenlang übte sie das Spiel auf den Instrumenten, so ernsthaft und gewissenhaft, dass das Wort Spiel ganz falsch erscheint. Wie es ihr ging, das erfuhren ihre Eltern, wenn sie dem Klang ihrer Musik lauschten. Über Gefühlsdinge sprach Nina nicht so viel.

Wie es den anderen ging, das war ihr wichtig. „Ich möchte Krankenschwester werden, dann kann ich meiner Mama helfen.“ Nina liebte es, ihrer kleinen Schwester zur Seite zu stehen – doch sie erwartete auch Folgsamkeit. Dass Mee Joo mehr auf die Mutter hörte als auf sie, enttäuschte Nina.

Mee Joo war immer stolz auf ihre große Schwester, der alles gelang, deren Energievorräte nie zu versiegen schienen. Die norddeutsche Vizemeisterin im Judo wurde, Klassenbeste war, die fürs Medizinstudium nach Berlin zog, Ausbildungen in Madrid und Edinburg absolvierte. Die ihre Doktorarbeit schrieb und die der kleinen Schwester klarmachte, wie man die großen Ziele im Leben erreicht: Man schreibt auf Listen, was zu tun ist, tut es und setzt Haken hinter alle Punkte.

Dass das leicht gesagt und schwer getan ist, wusste Nina selbst. Wer sie besser kannte, ahnte, wie viel Mühe sie sich gab, wie sie sich quälte. Um bei den Judowettkämpfen in ihrer Gewichtsklasse zu bleiben, aß sie über Wochen viel zu wenig. Sie schlief nie aus, auch sonntags nicht. Die Eltern sagten: „Nina, so viel musst du nicht tun.“ Sie sahen die Erschöpfung, aber sollten sie der Tochter den Sport oder das Musizieren verbieten?

Seit sie 13 war, glaubte Nina hin und wieder selbst, dem Druck nicht standhalten zu können – dem Druck, den sie allein erzeugte. Sie vertraute das dem Tagebuch an und niemandem sonst. Sie malte Bilder, ein Herz aus Kreuzen, ein Kreuz aus Herzen.

Diese Rastlosigkeit, dieses Gefühl, niemals genug zu tun und nicht genug zu können, obgleich Nina ein Mehrfaches dessen tat und konnte, was andere für ausreichend halten – woher kam das nur?

Mein Boot des Wissens geht nicht unter

auf dem Meer der Gefühle

aber es treibt orientierungslos hin und her

denn die Ankerschnur

ist 11 Monate zu kurz

Die ersten elf Monate ihres Lebens, die elternlose Zeit im Kinderheim, auf der anderen Seite der Welt, was hatte es damit auf sich? Wie tief sind die Wurzeln, die ein Mensch in seinem ersten Jahr schlägt? Was nimmt er mit aus dieser Zeit?

Zum Abitur schenkten die Eltern Nina eine Reise in das Land ihrer Geburt. Mit 18 konnte sie die Akten in Korea einsehen und sich auf die Suche nach den leiblichen Verwandten machen. Es war die erste von drei Reisen in das, was vielleicht Heimat war, vielleicht auch nicht. Nina gelang es, zwei Schwestern, die Mutter, Großmutter, Onkel und Tanten ausfindig zu machen. Fremde Menschen, mit denen sie irgendetwas verband. Nur was? Wenn Nina selbst die Sprache der Verwandten hätte sprechen können – hätte sie erfahren, was sie wissen wollte? Warum bin ich, wie ich bin? Es war schön, die Hände der Schwestern in den eigenen zu halten.

Ein paar Monate hat Nina in Madrid gelebt wegen des Praktikums in einem Krankenhaus. Sie wohnte mit Menschen aus der ganzen Welt zusammen, über deren Haltung zum Leben und zur Arbeit sie nur staunen konnte: „Der Job hat den Sinn, den Unterhalt zu verdienen, um hier in Spanien zu sein, um auszugehen, um das Leben zu genießen. Leben im Jetzt. Und später? Vamos a ver. Später gibt es ein anderes Jetzt. Und ich frage mich, ob mein Später jemals zum Jetzt wird.“

Nina wollte in Berlin arbeiten, wo es so viele Menschen gibt, dass man ihnen gut aus dem Weg gehen kann. Aber es gab keine Stelle für Nina. In einem Krankenhaus in Nienburg, nah bei Bremen, bekam sie eine. Ein normaler Posten in einem normalen Krankenhaus. Und auf einmal kamen die größten Erwartungen nicht von ihr selbst sondern von außen: „Die erste Woche Chaos pur, wird das jemals besser werden? Wie soll ich mir die ganzen Patienten merken, ich komme mit mir selbst nicht klar, fünf Sachen auf einmal – ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, vielleicht erst mal ’ne Runde heulen? Den Kopf übervoll, mit 20 Patienten allein auf Station. Ich renne nur hin und her, keine Zeit für Essen/ Trinken/Toilette, bis 20 Uhr jeden Tag. Visite, Scheine ausfüllen, Befunde durchsehen, alle Flexülen sind meine, Lumbalpunktionen, Angehörigengespräche, Re- ha-Anträge, Telefonate, so viele Dinge zu klären – vielleicht sollte ich mal einen Arzt fragen – Mist, der Arzt bin ja ich.“

Ein Jahr in Nienburg, ein Jahr Arbeit in diesem Krankenhaus und daneben nichts. Außer der Hoffnung, dass es woanders besser ist. Sie bewirbt sich – und bekommt eine Stelle in Berlin: „ … als wenn ich nach über einem Jahr endlich wieder nach Hause kommen würde. Und jetzt fängt es hoffentlich wieder an, mein echtes Leben.“

In Berlin gibt es Freunde aus der Studienzeit. Sie freuen sich, dass sie Nina wieder bei sich haben. Und treffen sie nur selten. Inzwischen stecken auch sie im Dienstsystem der Krankenhäuser und haben wenig Zeit. Das System Krankenhaus: Das sind nicht nur die langen Dienste, die Wochenendschichten, Vertretungen, Bereitschaften. Das sind, natürlich, auch die Menschen, für die der Arzt Verantwortung trägt. Nina schreibt ihre „Krankenhausgedichte“, eins heißt „Gespräch“:

Ihre Mutter ist alt

und schwer krank

Ohne den Eingriff

hätte sie nicht überlebt

Es hat Komplikationen gegeben

Ihr Herz ist stehen geblieben

Wir haben sie wiederbelebt

Wir wissen nicht

ob ihr Gehirn Schaden genommen hat

Wir wären da sehr zurückhaltend

Wie sehen Sie das

Ich weiß

das kommt jetzt sehr plötzlich

Sie bekommt Kreislauf unterstützende Medikamente

Wir würden keine Nierenersatztherapie

mehr machen

Wir tun alles, damit sie keine Schmerzen hat

und nicht leidet

Hat Ihre Mutter sich mal geäußert

was sie über Organspende denkt?

Wenn Mee Joo nach Berlin zu Besuch kommt, legt ihr ihre große Schwester Schlüssel, Stadtplan, BVG-Marke auf den Küchentisch und ist fast nie zu Hause. Selten noch kommt es zu einem jener Abende, an dem die beiden beim Wein sitzen und über diese merkwürdige Welt, die merkwürdigen Männer sprechen und ganz nah beieinander sind.

Nina ist erschöpft und dünn. Kann man ihr helfen? Sie ist doch die Helferin.

Im Sommer 2010 macht Nina eine Kur – und wieder macht sie Listen, was zu tun ist: Verlag gründen, Homepage basteln. Sie setzt Haken hinter ihre Listenpunkte. In der Therapie modelliert sie eine Plastik mit perfekten, glatten Oberflächen, ein kauernder Mensch, die Hände halten die Knie. Kein Gesicht, nur eine Fläche.

Am 19. Dezember nimmt Nina sich das Leben. Einen Tag vor ihrem Geburtstag. Einen Tag, bevor sie zur Familie fahren wollte. Sie hat im Krankenhaus gekündigt, es gibt eine Liste, auf der steht, was sie nun alles vorhat. Es ist so viel. David Ensikat

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