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Neuköllner Maientage mit Riesenrad, Buden und vielen Besucher:innen.

© promo

Neuköllner Maientage: Fahrt mehr Achterbahn!

Nur auf dem Rummel hat niemand Angst, sich zu blamieren. Allein hier gibt es in dieser großen Stadt noch echte Gefühle. Nix wie hin.

Jedes Jahr im April ereilt mich das gleiche Schicksal: Meine Freunde wollen mich plötzlich nicht mehr kennen, Nachrichten bleiben unbeantwortet und die, die ich persönlich erwische, schnauben mich verächtlich an. Das Problem? Ich will nicht verstehen, dass die Neuköllner Maientage uncool sind, dass man „da nicht hingeht“.

Der Rummel passt nicht zum hippen Berlin. Gekreische auf der Achterbahn, Losbuden, an denen man nur Nepp gewinnen kann, ehrliche Freude, es läuft Schlager oder Pop. Auf dem Rummel ist Berlin noch in Ordnung. Hier ist nichts cool und nichts vegan, anstehen muss man nur für das nächste schale Bier oder eine Runde Achterbahn, keine Türsteher weit und breit. Dorfidylle in der Großstadt.

Idylle, die alle Zugezogenen aus ihrer Heimat kennen – und die sie so dringend vergessen wollen. Es scheint, als bekämen alle Neu-Berliner einen geheimen Leitfaden, eine Anleitung, wie man sich hier zu verhalten hat. Sie kommen in der Stadt an und verwandeln sich: Was in ihrer Heimat noch schön war, finden sie hier plötzlich blöd. Der Mythos um die Hauptstadt ist so aufgeladen, dass alles, was es auch zu Hause gibt, plötzlich banal erscheint. Berliner sein, das ist nicht provinziell, sondern kosmopolitisch. Wenig erinnert all die Neu-Berliner so sehr an ihre Wurzeln wie Volksfeste.

Auszeit von der Stadt

Die Währung der Neu-Berliner ist Zeit – Zeit, die sie schon in Berlin verbracht haben. Ein Jahr? Gerade erst angekommen? Berlin verstehst du sicher noch nicht. Derjenige, der länger da ist, hat gewonnen. Damit die Zugezogenen nicht auffallen, passen sie sich an, machen das, was alle anderen auch machen: mit mürrischem Gesicht in Schlangen vor Clubs stehen, viel Schwarz tragen, wenig Spaß haben.

In Berlin ist cool, was abseitig ist, verlottert, verranzt, versteckt. Konventioneller Spaß? Bloß nicht. Während andere Städte ihre Jahrmärkte stolz zur Schau stellen, wie den Hamburger Dom mitten auf Sankt Pauli, hör- und sichtbar weit über die Kiezgrenzen hinweg, oder die Kirmes in Köln, die zwei Mal im Jahr am Rheinufer aufgebaut wird, findet Rummel in Berlin immer nur an Nicht-Orten statt. Jetzt im Frühling zum Beispiel in der Hasenheide, die Menschen unter 30 nur betreten, wenn sie Drogen kaufen wollen. Oder in der Weihnachtszeit zwischen Alexa-Shopping-Hölle und Plattenbauten an der Jannowitzbrücke.

Julia Kopatzki.
Julia Kopatzki.

© Doris Spiekermann-Klaas

Für mich ist Rummel eine Auszeit von der Stadt und den Menschen, die den Mythos Berlin mit ihrer Gleichgültigkeit nähren. Auf dem Rummel hat niemand Angst, sich zu freuen, sich zu blamieren oder, wie ich, jedes Mal mit verschmierter Wimperntusche aus der Achterbahn zu steigen, weil der Fahrtwind Tränen in die Augen treibt. Das ist Glück für Faule. Es braucht keine großen Dramen, um voller Adrenalin zu sein, dafür reicht eine Runde Wilde Maus. Ein flaues Gefühl im Magen, das Herz klopft, man ist kurz schwerelos, ein Gefühl wie kurz vor dem ersten Kuss. Aber während man erste Küsse nicht so häufig erlebt, kann man Achterbahn fahren, so oft man will.

Wieder Kind sein

Rummel, das ist Euphorie, völlige Losgelöstheit, wieder Kind sein und sich für eine halbe Stunde im Spiegelkabinett verlaufen; Zuckerwatte, die nur dort gut schmeckt; Neon, Neon, Neon – und natürlich Feuerwerk. Und wer mir eine Rose schießt, hat ganz schnell einen Platz in meinem Herzen.

Vielleicht ist das zu einfach – wahrscheinlich ist es das –, aber Tage auf dem Rummel verhindern, dass ich zu erwachsen werde. Zu sehr Berlin werde. Ich kann dort Pause machen, von allem, was mich an der Stadt nervt.

Diese Pause täte euch auch mal gut! Liebe Berliner Mittzwanziger, ab mit euch zu den Maientagen, fahrt Achterbahn, vergesst euren Instagram-Account und erinnert euch daran, wo ihr herkommt. Auf dem Rummel kostet das Glück einen Fahr-Chip.

Die nordische Indie-Band Vierkanttretlager hat einen Song, in dem heißt es: „Schäm dich nicht für die Momente, die jeder liebte, wenn er könnte.“ So ist es! In echte Euphorie und Freude verfallen können, ist das Schönste auf der Welt.

Julia Kopatzki

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