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Ja, Mey! Der Sänger 2019 beim Weihnachtsfest von Frank Zander. Foto: R. Müller/Imago

© R. Müller/imago

Neues Album von Reinhard Mey: So klingt Berliner Vorstadtidylle

Die jüngste Platte des Berliner Liedermachers ist melancholisch, lustig – und zieht auch eine vorläufige Bilanz.

Die eingeschworene Fangemeinde weiß natürlich, dass sich „Das Haus an der Ampel“ irgendwo in Berlin-Reinickendorf befinden muss. Und doch wieder nicht. Reinhard Mey hat seine glückliche und behütete Kindheit und Jugend oft schon besungen und damit auch das Elternhaus, das dem neuen Album den Titel gab.

Dieses 100 Jahre alte Haus könnte an jeder Ampel stehen, an jedem Ort, an dem Menschen liebevoll zärtlich miteinander umgehen, an dem noch das Glas Pulverkaffee, das vorsintflutlich auf dem Tisch steht, Geborgenheit vermittelt. Die Dahlien im Garten, die Postkarten am Kühlschrank und natürlich der Küchentisch prägen die Atmosphäre einer universellen heilen Vorstadt-Heimat.

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Um einen imaginären Küchentisch versammelte sich die Gemeinde des Liedermachers pünktlich alle drei Jahre bei der Tournee. Wer weiß, wann es jetzt wieder so weit sein wird. Einen Blick hinter die Kulissen der Bühne geben die Lieder „In Wien“ und „Zimmer mit Aussicht“.

Das Album jedenfalls erschien am 29. Mai, vielfach erwartet, und es ist gleich ein dreifaches. Für den harten Kern der Fangemeinde gibt es von dem Album eine limitierte Variante als Buch mit Bildern aus dem Familienalbum. Die vermitteln einen Schlüsselloch-Einblick in das Leben des Künstlers. Und sie zeigen auch, welche Spuren ein so intensiv gelebtes und verdichtetes Leben in einem freundlichen Gesicht hinterlassen.

Mit Band oder auch mal nur mit Gitarre, wie früher

Ansonsten stecken zwei CDs mit jeweils den gleichen Liedern in der Hülle. Die eine mit dem schwarzen Etikett hat er aufgenommen mit seinen größtenteils seit langem vertrauten Musikern, mit zusätzlichen Gitarren, Keyboards, Schlagzeug und Streichern. Die zweite CD mit dem weißen Etikett enthält dieselben Lieder, nur diesmal „unplugged“.

Da sind nur der Sänger und seine Gitarre zu hören, ein seltsam intimes Erlebnis, der Liedermacher pur mit seinem Werk, wie es vielleicht ursprünglich mal gedacht war, als dieses Genre erfunden wurde. So wie in den teils von sanfter Melancholie getragenen Texten, geht er also auch in der Technik zurück zu den Wurzeln und lässt einen Vergleich zu. Was besser ist? Das mag jeder Zuhörer für sich selbst von Lied zu Lied entscheiden.

Ein Lied über die verlorene Zeit

Dem Haus an der Ampel bekommen die dezenten Streicher im Hintergrund ganz gut, weil sie das Sehnsuchtspotenzial, das da drinnen steckt, illuminieren. Denn, nicht wahr, es ist doch eigentlich ganz und gar gegen jedes Berlin-Klischee und völlig unverständlich, dass es hier Orte geben soll, die so im besten Sinne urbürgerlich sind und gleichzeitig so einzigartige Kunst hervorbringen, Orte, die real und doch so überhöht sind, dass sie mehr ein Lebensgefühl repräsentieren und also viel mehr sind als ein altes Haus, an dem man einfach so vorbeifahren und kurz anhalten kann, um sein Leben zu bilanzieren.

Dieses Titellied nimmt ein altes Motiv wieder auf, bekannt von früher, als er sang: „Manchmal wünscht ich, es wär nochmal Viertel vor sieben/ Und ich wünschte, ich käme nach Haus/ Und es soll Sonnabend sein, und es soll Topfkuchen geben…“: Das unstillbare Verlangen nach der verlorenen Zeit.

Natürlich können diese Schauplätze überall sein. Aber man weiß auch, dass Reinhard Mey Berliner ist, der seiner Heimatstadt doch auch manches Lied ins Stammbuch gesungen hat, als Hommage wie als Persiflage. Der Kontrast zwischen dem Klischee-Berlin und diesem Ort, der tief in die menschliche Seele reicht, ist schwer zu greifen.

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Wer etwas über Lebensphasen lernen will, möglichst noch, bevor er sie selbst erreicht hat, wird Reinhard Meys Alben immer mit Gewinn hören. „50! Was, jetzt schon?“, das war vor mehr als 25 Jahren. Da war er noch rebellischer gestimmt gegen das sachte aufdämmernde Alter.

Die Musik auf dem Album erzählt von den Erinnerungen, die einen Menschen formen und seine Sehnsucht größer machen, egal, ob es glückliche sind oder traurige. „Das Tränenmeer ist noch nicht zugefroren. Das Eis ist noch zu dünn. Es trägt dich nicht.“ Die Texte sind ernster, melancholischer geworden über die Jahre.

Es gibt aber nach wie vor lustige Stücke wie „Häng dein Herz nicht an einen Hund“, „Menschen, die Eis essen“ oder „Ich liebe es, unter Menschen zu sein“. Da kommt die ursprüngliche Lust auf Satire zum Vorschein.

Der Titel „Wir haben jedem Kind ein Haus gegeben“ klingt nach vorläufiger leiser Bilanz. Das vorletzte Lied aber beschreibt den Charakter des aktuellen Albums am besten: „Vor mir liegt wie eine Landschaft mein Leben/Höhen und Tiefen, zerklüftet und eben./ Nichts ist verborgen, nichts ist geschönt,/ Keine Rechnung offen, mit allen versöhnt.“

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